6 Die Audienz
Am nächsten Morgen wartete Meliadus ungeduldig vor des Reichskönigs Thronsaal. Er hatte am Abend zuvor um eine Audienz gebeten und die Antwort bekommen, um elf Uhr zur Stelle zu sein. Jetzt war es bereits zwölf und die Tore hatten sich noch immer nicht geöffnet, um ihn einzulassen. Die hochaufragenden Tore, deren obere Enden sich in der Düsternis des riesigen Gebäudes verloren, waren mit Juwelen bedeckt, die Mosaikmuster uralter Darstellungen bildeten. Die fünfzig Wachen des Gottesanbeterinnenordens, die vor den Toren standen, glichen unbeweglichen Statuen. Ihre Flammenlanzen hielten sie alle im selben Winkel von ihren Körpern. Meliadus schritt vor ihnen auf und ab; hinter ihm schimmerten die Gänge des Palastes.
Meliadus versuchte seine Gefühle zu unterdrücken, er war gekränkt, dass ihm der Reichsherrscher nicht sofort Audienz gewährt hatte. Schließlich war er, Meliadus, der Oberbefehlshaber der Truppen in Europa. Und hatten sie unter seiner Führung nicht einen ganzen Kontinent erobert? Hatte er diese Truppen nicht bis in den Nahen Osten geführt und somit die Reichsgrenzen noch mehr erweitert? Welchen Grund hatte König Huon, ihn auf diese Weise zu beleidigen? Meliadus, der erste granbretanische Krieger, hatte Vorrang vor allen anderen Sterblichen. Er vermutete ein Komplott gegen sich. Wenn er Taragorms Worte richtig zu deuten wusste, vermutete man hier, dass er seinen Überblick verlor. Narren waren sie, dass sie nicht erkannten, welche Bedrohung Falkenmond, Graf Brass und Huillam d’Averc darstellten. Ihr Beispiel mochte Schule machen, wenn sie unbestraft blieben – andere würden rebellieren, und die Eroberung würde demzufolge langsamer voranschreiten. Aber sicherlich hatte König Huon nicht auf jene gehört, die gegen ihn sprachen? Der Reichskönig war weise, er war objektiv. Wäre er es nicht, wie könnte er dann regieren …
Erschreckt verdrängte Meliadus diesen Gedanken.
Schließlich öffneten sich die juwelenbesetzten Tore weit genug, um einen Mann hindurchzulassen – und durch diesen Spalt schritt eine vergnügte, korpulente Gestalt.
»Shenegar Trott!« rief Meliadus. »Euretwegen musste ich also so lange warten!«
In Trotts Silbermaske schillerten die Lichter des Ganges. »Das bedauere ich zutiefst, Baron Meliadus, entschuldigt bitte. Es gab so viele Einzelheiten zu besprechen. Aber jetzt bin ich fertig. Man vertraute mir eine Mission an – eine Mission! Und was für eine Mission, ha, ha!«
Ehe Meliadus ihn nach der Art dieser Mission befragen konnte, war er schon davongeeilt.
Aus dem Thronsaal erklang eine jugendliche Stimme, die Stimme des Reichskönigs persönlich.
»Kommt zu mir, Baron Meliadus.«
Die Garde des Gottesanbeterinnenordens hatte ein Spalier gebildet, durch das Meliadus nun den Thronraum betrat.
In dieser gewaltigen Halle, die erfüllt war von blitzenden Farben, hingen die Banner von fünfhundert der edelsten Familien Granbretaniens. Etwa tausend Wächter der Gottesanbeterinnengarde standen still wie Statuen entlang der Wände. Baron Meliadus ließ sich auf die Knie fallen und senkte den Kopf.
Kunstvoll gearbeitete Galerie über Galerie erhob sich, endlos schier, bis hinauf zur gewölbten Decke. Die Rüstungen der Gottesanbeterinnenkrieger glänzten schwarz, grün und gold, und in der Ferne erkannte Meliadus, als er sich erhob, die Thronkugel des Herrschers als weißen Fleck gegen die grünen und purpurnen Wände des Hintergrunds.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis Meliadus bei der Thronkugel ankam und sich nochmals auf die Knie warf. Die Kugel enthielt eine milchigweiße Flüssigkeit, die sich in steter Bewegung befand und in der hin und wieder blutrote und blaue Adern schillerten. Inmitten dieser Flüssigkeit, wie ein Fötus zusammengekauert, ruhte König Huon, unsterblich, mit runzliger Haut und einem überdimensionalen Kopf, aus dem scharfe, boshafte Augen starrten.
»Baron Meliadus«, erklang die Stimme, für die ein Jüngling sein Leben hatte lassen müssen.
»Großer König«, murmelte Meliadus. »Ich danke Euch für die Gnade, mir diese Audienz zu gewähren.«
»Aus welchem Grund wünscht Ihr diese Audienz, Baron?« Die Stimme klang ironisch und ein wenig ungehalten. »Möchtet Ihr erneut für Eure Erfolge in Europa gelobt werden?«
»Ich bin allein mit der Tatsache zufrieden, Eure Majestät. Ich kam, um zu warnen, dass immer noch Gefahr droht …«
»Was? Habt Ihr denn nicht den ganzen Kontinent unterworfen?«
»Das habe ich, Sire, von Küste zu Küste und bis zu den Grenzen Muskovias und noch weiter. Wenige leben noch, die nicht unsere Sklaven sind. Aber ich denke an jene, die uns entkamen …«
»Falkenmond und seine Freunde?«
»Keine anderen, Majestät.«
»Ihr habt sie verjagt. Sie bedeuten keine Gefahr mehr für Uns.«
»Sie sind eine Bedrohung für Granbretanien, solange sie leben, Sire. Denn ihr Entkommen mag anderen Anlass zur Hoffnung geben und zur Rebellion führen. Diese Hoffnung ist es, die wir unterdrücken müssen.«
»Mit Aufruhr seid Ihr bisher fertig geworden und Ihr werdet es auch in Zukunft. Wir fürchten, Baron Meliadus, dass Ihr Unser Interesse dem Euren hintanstellt …«
»Meine persönlichen Interessen sind die Euren, Majestät, und Eure Interessen sind die meinen – sie sind untrennbar. Bin ich nicht der treuste Eurer Diener?«
»Vielleicht haltet Ihr Euch selbst dafür, Baron Meliadus, vielleicht haltet Ihr Euch selbst dafür …«
»Wie meint Ihr das, mächtiger Herrscher?«
»Wir glauben, dass Eure Besessenheit, was den Deutschen, Falkenmond, und seine Handvoll Gauner anbelangt, nichts mit Unseren Interessen zu tun hat. Sie werden nicht zurückkehren, und sollten sie es doch tun, so werden wir schon mit ihnen fertig. Wir fürchten, dass Euer Beweggrund die Rache ist, und dass Euer Rachedurst Euch glauben macht, dass das gesamte granbretanische Imperium durch jene bedroht ist, an denen Ihr Euch rächen wollt.«
»Nein! Nein, allmächtiger Fürst! Ich schwöre Euch, dass es nicht so ist!«
»Lasst sie, wo sie sind, Meliadus. Beschäftigt Euch mit ihnen, wenn sie wiedererscheinen.«
»Großer König, sie stellen eine potentielle Bedrohung für das Imperium dar. Sie werden von unbekannten Mächten unterstützt, denn woher sonst hätten sie die Maschine, die sie uns in dem Augenblick entriss, als wir dabei waren, sie zu vernichten? Ich habe noch keine Beweise dafür. Aber wenn Ihr mir gestattet, mit Taragorm zu arbeiten und mich seines Wissens zu bedienen, um ihren Aufenthalt festzustellen, dann werde ich Euch den Beweis bringen, und Ihr werdet mir glauben!«
»Wir hegen Unsere Zweifel«, die melodische Stimme klang grimmig. »Wenn es Euch jedoch von Euren anderen Pflichten bei Hof nicht abhält, werden Wir Euch die Erlaubnis erteilen, Lord Taragorms Palast aufzusuchen und ihn um Unterstützung zu bitten, Eure Feinde aufzuspüren …«
»Unsere Feinde, Großmächtiger Prinz …«
»Wir werden sehen, Baron, wir werden sehen.«
»Ich danke Euch für Euer Vertrauen in mich, großer König. Ich werde …«
»Die Audienz ist noch nicht beendet, Baron Meliadus, denn Wir haben Euch noch nichts über die Pflichten erzählt, die Wir erwähnten.«
»Es wird mir eine Ehre sein, sie zu erfüllen, edler Herrscher.«
»Ihr befürchtet eine Bedrohung durch die Kamarg. Nun, ich glaube an eine Gefahr von anderer Seite – nämlich aus dem Osten, wo sich ein Feind gegen uns erheben kann, der, soweit wir erfuhren, ebenso mächtig sein könnte wie das Imperium selbst. Vielleicht habt Ihr mit Euren Vermutungen recht, und es handelt sich um Verbündete Falkenmonds, deren Botschafter sich bereits hier am Hof befinden …«
»Großmächtiger König, wenn das so ist …«
»Unterbrecht uns nicht, Baron Meliadus!«
»Entschuldigt, Herr.«
»Gestern Abend erschienen an den Toren Londras zwei Fremde, die sich als Gesandte des Imperiums von Asiakommunista ausgaben. Ihre Ankunft war sehr mysteriös. Sie deutete darauf hin, dass sie über eine uns unbekannte Methode der Fortbewegung verfügen, denn sie erklärten, sie hätten ihre Hauptstädte keine zwei Stunden zuvor verlassen. Es ist Unsere Meinung, dass sie uns besuchen, um sich ein Bild von unserer Stärke zu machen. Wir müssen nun unsererseits ihre Macht eruieren, denn die Zeit wird kommen, dass wir in einen Krieg mit ihnen verwickelt werden. Zweifellos hörten sie von unserem Vorstoß und unseren Erfolgen im Nahen und Mittleren Osten, und sie beginnen sich Gedanken zu machen. Wir müssen über sie erfahren, was wir können, und versuchen, sie zu überzeugen, dass wir ihnen wohlgesinnt sind. Sie müssen uns gestatten, Botschafter in ihr Reich zu entsenden. Sollte sich das ermöglichen lassen, werdet Ihr, Meliadus, einer dieser Botschafter sein, da Ihr in dieser Art von Diplomatie besser als jeder andere Unserer Untergebenen versiert seid.«
»Das sind beunruhigende Neuigkeiten, Eure Majestät.«
»Aber wir werden sie zu unserem Besten wenden. Ihr macht den Führer und Begleiter dieser beiden Gesandten. Horcht sie aus. Wir wünschen die Größe und Grenzen ihres Reiches zu erfahren, die Zahl ihrer Krieger, die Art und Schlagkraft ihrer Waffen und die Art ihrer Transportmittel. Wie Ihr seht, Baron Meliadus, deutet dieser Besuch auf eine bedeutend größere potentielle Bedrohung als jene, die von Seiten der verschwundenen Kamarg kommen könnte.«
»Vielleicht, Sire …«
»Nein – ganz gewiss sogar, Baron Meliadus!« Die auch zum Greifen geeignete Zunge zuckte aus dem runzeligen Mund. »Das ist Eure wichtigste Aufgabe. Nur wenn Euch wirklich noch Zeit bleibt, könnt Ihr sie Eurer Rache an Dorian Falkenmond widmen.«
»Aber Majestät …«
»Befolgt Unsere Anordnung gut, Meliadus. Enttäuscht Uns nicht.« Die Stimme klang drohend. Die Zunge berührte den Edelstein, der neben dem Kopf in der Flüssigkeit schwamm. Langsam verfärbte sich die Thronkugel, bis sie schließlich völlig schwarz von der Kuppeldecke hing.