7 Der Ring am Finger
Falkenmond, Oladahn und d’Averc standen Schulter an Schulter an der Heckreling, als das unheimliche Schiff mit großer Geschwindigkeit näher kam.
Die Besatzung hatte sich am Bug um ihren Kapitän geschart -so weit entfernt von den Angreifern wie möglich.
Falkenmond musterte die Angreifer. Sie rollten die Augen, und Schaum quoll aus ihren Mündern. Er befürchtete, dass ihre Chance hier auf der Lächelnden Maid nicht sehr groß war. Die ersten Enterhaken fraßen sich bereits in das morsche Holz der Reling. Sofort hackten die drei Männer nach den Seilen, und es gelang ihnen auch, die meisten davon zu durchtrennen.
Falkenmond brüllte Mouso zu. »Schickt Eure Leute in die Masten. Versucht das Schiff zu wenden.« Aber die verängstigten Männer bewegten sich nicht. »Ihr seid auf den Masten sicherer!« rief Falkenmond. Sie begannen sich zwar zu rühren, taten jedoch nichts.
Falkenmond musste notgedrungen seine Aufmerksamkeit wieder dem angreifenden Schiff zuwenden und erschrak, als er es hoch über ihrem eigenen aufragen sah. Einige seiner Mannschaft kletterten bereits über die Reling, um mit gezogenen Entermessern auf das Deck der Lächelnden Maid herabzuspringen. Ihr Gelächter erfüllte die Luft, und Blutlust funkelte in ihren Augen.
Der erste kam auf Falkenmond heruntergeflogen. Sein nackter Körper glänzte, doch noch ehe er mit der Klinge zuzustoßen vermochte, hatte der Herzog ihm bereits die seine durch den Leib gebohrt, und der Angreifer stürzte in die See. Innerhalb von wenigen Augenblicken wimmelte es in der Luft von nackten Wilden, die sich auf Tauen herunterschwangen oder auch ohne Hilfe auf die Lächelnde Maid sprangen. Falkenmond, Oladahn und d’Averc stoppten die erste Welle. Sie hieben pausenlos um sich, bis alles um sie herum blutrot war. Aber langsam wurden sie doch von der Reling abgedrängt, als immer mehr der Wahnsinnigen über das Deck schwärmten und, wenn auch ohne viel Geschick, so doch völlig ohne Rücksicht auf ihr Leben ‚kämpften.
Falkenmond wurde von seinen Gefährten getrennt, ohne zu wissen, ob sie noch lebten. Die blutdürstigen Wilden warfen sich auf ihn, doch er schwang seine schwere Klinge wie eine Sense um sich und mähte in weitem Bogen alles nieder. Er war bereits von Kopf bis Fuß in Blut gebadet, nur seine Augen leuchteten noch stahlblau aus dem Visier seines Helmes.
Die ganze Zeit lachten die Männer des Wahnsinnigen Gottes – sie lachten auch noch, wenn ihre Köpfe von den Hälsen und und ihre Glieder von den Rümpfen flogen.
Es war Falkenmond klar, dass er nicht endlos so weitermachen konnte. Allmählich würde die Müdigkeit ihn übermannen. Schon jetzt schien sein Schwert schwerer zu wiegen, und seine Knie zitterten. Doch noch gab er nicht auf. Weiter schwang er die Klinge und tötete Welle um Welle der lachenden Wahnsinnigen, deren Klingen nach seinem Blut lechzten.
Doch als er schließlich zwei Schwerter blockierte, die gleichzeitig auf ihn eindrangen, gaben seine Beine nach, und er sank in die Knie. Das Gelächter wurde noch lauter, triumphierender, als die Männer des Wahnsinnigen Gottes zum Todesstreich ausholten.
Falkenmond schlug verzweifelt nach oben und entwand gleichzeitig einem der Angreifer das Schwert, so dass er nun über zwei Klingen verfügte. Indem er die des Irren zum Stoßen und seine eigene zum Schwingen verwendete, gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Er rannte den Niedergang hoch, an dessen oberem Ende er den Vorteil über die Wahnsinnigen hatte, dass sie die Stufen zu ihm hochkommen mussten. Er entdeckte nun sowohl d’Averc als auch Oladahn, die von der Takelage aus ihre Angreifer in Schach hielten. Er warf einen raschen Blick hinüber auf das Schiff des Wahnsinnigen Gottes. Immer noch verbanden einige Entertrossen es mit der Lächelnden Maid, aber es war leer. Seine gesamte Besatzung befand sich an Bord des kleinen Frachters. Das brachte Falkenmond auf eine Idee.
Er wirbelte herum und sprang über die Enterer hinweg auf die Reling, von wo aus er ein Tau zu fassen bekam, das von den Quersailings herunterhing. Damit schwang er sich durch die Luft und landete eine Handbreit innerhalb der Reling des anderen Schiffes. Sofort hackte er die Entertrossen entzwei und brüllte dabei: »Oladahn – d’Averc! Schnell, springt herüber!«
Die beiden sahen ihn und kletterten eilig höher und dann vorsichtig entlang der Rahnock des Hauptmasts, während die Anhänger des Wahnsinnigen Gottes ihnen auf den Fersen blieben.
Das große Schiff driftete bereits leicht ab, und der Spalt zwischen ihm und der Lächelnden Maid wurde breiter.
D’Averc sprang als erster. Es gelang ihm gerade noch, sich mit einer Hand an einem Tau der Takelage des Enterers festzuhalten, sonst wäre er in den Tod gestürzt.
Oladahn folgte ihm, er schnitt ein Tau los und schwang sich damit über das Wasser. Er glitt das Seil hinunter an Deck und fiel mit gespreizten Armen und Beinen aufs Gesicht.
Mehrere der wahnsinnigen Krieger versuchten ihnen zu folgen, und einige schafften es auch. Lachend kamen sie, mehrere auf einmal auf Falkenmond zu. Vermutlich hielten sie Oladahn für tot.
Falkenmond war in arger Bedrängnis. Eine Klinge riss ihm den Arm auf, eine andere schlug unterhalb des Visiers gegen sein Gesicht. Doch plötzlich sprang von oben eine Gestalt in die Mitte der nackten Krieger und begann wie ein Berserker um sich zu hauen.
Es war d’Averc, dessen eberköpfige Rüstung dick mit dem Blut derer gefärbt war, die er erschlagen hatte. Und nun nahte Oladahn, der offenbar nur leicht betäubt gewesen war, mit einem wilden Schlachtschrei aus den Bulgarbergen von hinten.
In Kürze war auch der letzte der Irren, die auf ihr Schiff zurückgesprungen waren, tot. Die anderen hüpften von Bord der Lächelnden Maid und versuchten, immer noch lachend, dem Schiff nachzuschwimmen.
Falkenmond bemerkte, dass wie durch ein Wunder der größte Teil der Mannschaft ihres ehemaligen Schiffes überlebt hatte. In letzter Minute waren die Männer den Kreuzmast hochgeklettert.
D’Averc rannte zur Brücke und übernahm das Ruder. Er steuerte eilig von den schwimmenden Verfolgern weg.
»Da sind wir ja ziemlich glimpflich davongekommen«, brummte Oladahn, »und mit einem besseren Schiff noch dazu.«
»Mit ein bisschen Glück laufen wir noch vor der Lächelnden Maid im Hafen ein.« Falkenmond grinste. »Hoffentlich hat sie nicht vor, den Kurs zu ändern. Unsere ganze Habe befindet sich an Bord.«
Geschickt hatte d’Averc das Schiff in nördliche Richtung gedreht. Das schwarze Segel blähte sich auf, und sie ließen die schwimmenden Wahnsinnigen schnell zurück, die, selbst als sie ertranken, noch lachten.
Nachdem sie d’Averc geholfen hatten, das Ruder so zu vertäuen, dass es geraden Kurs hielt, machten sie sich daran, das Schiff zu durchsuchen. Es war vollgestopft mit Schätzen von gewiss einem Dutzend geplünderter Schiffe. Aber es fanden sich auch eine Menge nutzlose Dinge – zerbrochene Waffen und Schiffsinstrumente, Bündel mit alten Kleidern und hier und da eine verweste Leiche oder ein verstümmelter Körper.
Die drei beschlossen, sich erst der Toten zu entledigen. Sie wickelten die Leichen in Tücher und warfen alles über Bord. Es war eine widerliche Arbeit.
Plötzlich hielt Oladahn inne und starrte auf eine abgeschlagene, schon ausgetrocknete Hand. Ekelerfüllt hob er sie auf und betrachtete den Ring am kleinen Finger. »Herzog Dorian!« rief er.
Falkenmond schaute von seiner Arbeit auf. »Lass den Ring, wo er ist, und sieh zu, dass du das scheußliche Ding loswirst.«
»Aber – der Ring hat eine eigenartige Gravierung …«
Ungeduldig beugte Falkenmond sich in der Düsternis des Laderaums darüber. »Nein, das darf nicht sein!« keuchte er.
Es war Yisseldas Ring; derselbe, den Graf Brass ihr zur Verlobung mit Falkenmond an den Finger gesteckt hatte.
Betäubt vor Entsetzen nahm Falkenmond die mumifizierte Hand. Sein Verstand schien nicht zu begreifen, was seine Augen sahen.
»Was erschreckt Euch so sehr?« flüsterte Oladahn betroffen.
»Es ist ihr Ring. Er gehört Yisselda.«
»Aber was sollte sie hier auf dem Meer gesucht haben, so viele hundert Meilen von der Kamarg entfernt? Es ist nicht möglich, Herzog Dorian.«
Falkenmond griff zögernd nach der Hand und betrachtete sie. Er atmete erleichtert auf. »Es ist zwar ihr Ring, aber nicht ihre Hand. Graf Brass steckte ihr den Ring an den Mittelfinger, und selbst da war er ihr noch etwas zu groß, während er hier nur auf den kleinen Finger passte. Es ist gewiss die Hand eines Diebes.« Er zog den kostbaren Ring von der dürren Hand und schleuderte sie von sich. »Eines Diebes«, fuhr er fort, »der in der Kamarg gewesen ist …« Er schüttelte den Kopf. »Es klingt nicht sehr wahrscheinlich. Aber welch andere Erklärung könnte es geben?«
»Vielleicht reiste sie in diese Gegend, um Euch zu suchen?« meinte Oladahn.
»Das wäre sehr unklug gewesen, aber immerhin möglich. Doch wenn es stimmte, wo ist Yisselda dann jetzt?«
Oladahn wollte gerade antworten, als sie ein wildes Kichern vernahmen. Ein irr grinsendes Gesicht blickte zu ihnen herunter. Einem wahnsinnigen Krieger war es gelungen, das Schiff einzuholen. Nun sprang er schwertschwingend herab.
Falkenmond gelang es gerade noch, sein Schwert zu ziehen, um den Hieb abzufangen. Metall krachte auf Metall.
Oladahn zog seine Klinge und d’Averc eilte herbei, aber Falkenmond brüllte. »Nehmt ihn lebend! Wir brauchen ihn lebend!«
Falkenmond lenkte den Irren ab, und Oladahn und d’Averc steckten ihre Waffen zurück in die Scheide und packten den Krieger von hinten bei den Armen. Zweimal gelang es ihm, sie abzuschütteln, aber schließlich überwältigten sie ihn und verschnürten ihn mit einem Tau. Selbst als er sich nicht mehr zu rühren vermochte, kicherte er, und Schaum trat über seine Lippen.
»Von welchem Nutzen kann er uns denn lebend sein?« fragte d’Averc mit höflicher Neugier. »Weshalb schneiden wir ihm nicht die Kehle durch?«
»Deshalb«, erwiderte Falkenmond und zeigte ihm den Ring. »Er gehört Yisselda, Graf Brass’ Tochter. Ich muss erfahren, wie diese Irren an ihn gekommen sind.«
»Merkwürdig«, murmelte der Franzose. »Soviel ich weiß, befindet sich das Mädchen noch in der Kamarg und pflegt ihren Vater.«
»Dann ist Graf Brass also verwundet?«
»So ist es. Doch die Kamarg hält nach wie vor stand. Ich wollte Euch beunruhigen, Herzog Dorian. Ich weiß nicht, wie schwer verletzt der Lordhüter ist, aber er lebt jedenfalls noch. Und sein weiser Freund Bowgentle unterstützt ihn bei der Führung seiner Truppen. Das letzte, was ich gehört habe, ist, dass zwischen dem Dunklen Imperium und der Kamarg ein Patt herrscht.«
»Und Ihr wisst nichts weiter über Yisselda? Dass sie vielleicht die Kamarg verlassen hat?«
»Nein.« D’Averc runzelte die Stirn. »Aber ich glaube, ich erinnere mich – ah, ja. Ein Mann, der unter Graf Brass diente. Es wurde ihm nahegelegt, das Mädchen zu entführen, doch der Versuch war nicht von Erfolg gekrönt.«
»Woher wisst ihr das?«
»Juan Zhinaga – das war der Mann – verschwand. Vermutlich hat Graf Brass von seiner geplanten Untat erfahren und ihn getötet.«
»Ich kann nicht glauben, dass Zhinaga ein Verräter ist. Ich kannte ihn. Er war Hauptmann der Kavallerie.«
»Den wir in der zweiten Schlacht um die Kamarg gefangen nahmen.« D’Averc lächelte. »Ich glaube, er war Deutscher, und wir hatten ein paar seiner Angehörigen in unserer Gewalt …«
»Ihr habt ihn also erpresst!«
»Er wurde erpresst. Tut mir aber nicht die Ehre an, mir das zuzuschieben. Ich hörte lediglich während einer Konferenz in Londra von dem Plan. König Huon hatte die Führer seiner Streitkräfte zusammengerufen, um sich von ihnen über die Entwicklungen auf dem Kontinent unterrichten zu lassen.«
Falkenmond runzelte die Stirn. »Aber gesetzt den Fall, Zhinaga entführte Yisselda, und es gelang ihm nur nicht, zu Euren Leuten durchzudringen – vielleicht weil er unterwegs von den Männern des Wahnsinnigen Gottes abgefangen wurde …«
D’Averc schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn sie bereits bis Südfrankreich vorgedrungen wären, hätten wir bereits davon gehört.«
»Welche Erklärung kann es dann geben?«
»Fragen wir diesen Herrn hier«, schlug d’Averc vor und zeigte auf den Wahnsinnigen, dessen Gekichere kaum noch vernehmbar war.
»Wie wollen wir etwas Vernünftiges aus ihm herausbekommen?« Oladahn blickte ihn zweifelnd an.
»Würde es helfen, wenn wir ihm Schmerz zufügten?« überlegte d’Averc laut.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Falkenmond. »Sie kennen keine Angst. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.« Er blickte missmutig auf den Wahnsinnigen herab. »Soll er eine Weile hier liegen. Vielleicht beruhigt er sich dann ein wenig.«
Sie kehrten an Deck zurück und schlossen die Luke zum Laderaum hinter sich. Die zerklüftete Küste der Krim hob sich bereits im Schein der untergehenden Sonne in der Ferne ab. Das Meer war ruhig, und der Wind blies nach Norden.
»Ich korrigiere am besten unseren Kurs ein wenig«, schlug d’Averc vor. »Wir segeln, scheint mir, ein bisschen zu weit nach Norden.« Er ging ans Steuerruder, löste die Halteseile und drehte es mehrere Grade in südlicher Richtung.
Falkenmond nickte abwesend und beobachtete d’Averc, der wie ein erfahrener Seemann den Kurs des Schiffes änderte. Die große Ebermaske hatte er hochgeschoben.
»Wir müssen wohl heute Nacht vor der Küste Anker werfen«, sagte Oladahn. »Und morgen weitersegeln.«
Falkenmond antwortete nicht. In seinem Kopf kreisten viele unbeantwortete Fragen. Die Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn an den Rand der Erschöpfung getrieben, und die Frucht, die er verspürte, drohte ihn in einen Wahnsinn zu treiben, der dem des Mannes im Laderaum in nichts nachstand.
Später am Abend kehrten sie in den Laderaum zurück und betrachteten das Gesicht ihres jetzt schlafenden Gefangenen im Licht der Lampen, die von der Decke hingen. Die Lampen schaukelten mit den Bewegungen des Schiffes an der Ankerkette. Schatten und Licht spielten über die Schiffswand und über die angehäufte Beute, die hier überall aufgetürmt lag. Eine Ratte quiekte, aber die Männer überhörten es. Sie hatten alle ein wenig geschlafen und fühlten sich nun etwas frischer.
Falkenmond kniete sich neben den Gefesselten und berührte sein Gesicht. Sofort öffneten sich seine Augen und blickten verwundert und ohne jede Spur von Wahnsinn um sich.
»Wie heißt du?« fragte Graf Brass.
»Coryanthum von Kerch. Wer seid Ihr. Wo bin ich?«
»Das müsstest du aber wissen«, sagte Oladahn. »An Bord eures eigenen Schiffes. Erinnerst du dich denn nicht?. Du und deine Kameraden, ihr überfielt unseren Segler. Es kam zum Kampf. Wir entkamen Euch und ihr schwammt uns nach, um uns zu töten.«
»Ich entsinne mich, dass wir das Segel setzten«, murmelte Coryanthum verwirrt. »Doch an nichts weiter.« Er versuchte sich aufzusetzen. »Weshalb bin ich gebunden?«
»Weil du gefährlich bist«, erklärte ihm d’Averc. »Du bist wahnsinnig.«
Coryanthum lachte. Es war ein völlig natürliches Lachen »Ich wahnsinnig? Wie absurd!«
Die drei blickten einander an. Es stimmte, der Mann wirkte nun völlig normal.
Falkenmond begann zu verstehen. »Woran erinnerst du dich als letztes?«
»An die Ansprache des Kapitäns.«
»Was sagte er?«
»Dass wir an einer Zeremonie teilnehmen würden, bei der wir alle einen besonderen Trank bekämen … Das war eigentlich alles.« Coryanthum runzelte die Brauen. »Dann tranken wir …«
»Beschreib euer Segel!« befahl Falkenmond.
»Unser Segel? Warum?«
»Fiel dir etwas Besonderes daran auf?«
»Durchaus nicht. Es war aus dunkelblauer Leinwand. Das ist alles.«
»Bist du ein Händler zur See?«
»Ja.«
»Und das ist deine erste Fahrt auf diesem Schiff?«
»Ja.«
»Wann hast du angeheuert?«
Coryanthum wurde langsam ungeduldig. »Gestern Abend -am Tag des Pferdes nach kerchscher Zeitrechnung.«
»Und nach universaler Zeitrechnung?«
Der Seemann runzelte die Brauen. »Tja, am elften des dritten Monats.«
»Vor drei Monaten«, stellte d’Averc fest.
Coryanthum starrte im unsteten Licht auf den Franzosen. »Vor drei Monaten? Was meint Ihr damit?«
»Man gab euch Drogen ein«, erklärte ihm Falkenmond. »Unter ihrem Einfluss veranlasste man euch zu den abscheulichsten Missetaten, die ein Pirat nur verüben kann. Weißt du etwas über den Kult des Wahnsinnigen Gottes?«
»Ein wenig. Er soll irgendwo in der Ukraine beheimatet sein, man sagt, dass seine Anhänger in letzter Zeit in andere Gebiete vordringen, angeblich sollen sie sogar bis zum Meer vorgestoßen sein.«
»Ist dir klar, dass dieses Schiff unter der Flagge des Wahnsinnigen Gottes segelt? Dass du noch vor ein paar Stunden gewütet und dich in Blutlust vor Lachen gewälzt hast? Sieh dir deinen Körper an …« Falkenmond beugte sich über ihn und zertrennte die Bande. »Lang an deinen Hals.«
Coryanthum von Kerch erhob sich langsam. Erstaunt betrachtete er seine Nacktheit, während seine Finger das Halsband betasteten. »Ich – ich verstehe nicht. Ist dies ein Trick?«
»Ein sehr schlimmer Trick, mit dem wir jedoch nichts zu tun haben«, brummte Oladahn. »Man hat euch mit Drogen vollgestopft, die euch wahnsinnig machten. In dem Zustand brachte man euch dazu, alles zu töten, was euch in den Weg kam, und die Beute einzusammeln. Sicher war euer Kapitän der einzige, der wusste, was mit euch geschehen würde. Er ist ziemlich wahrscheinlich nicht mehr an Bord. Erinnerst du dich an etwas? Wohin sollte eure Fahrt gehen?«
»Ich erinnere mich an absolut nichts.«
»Zweifellos setzte der Kapitän sich noch vor Anbruch der Fahrt ab und beabsichtigte, später an Bord zu kommen, um das Schiff in den Hafen zurückzubringen«, vermutete d’Averc. »Vielleicht gibt es ein Schiff, das ständige Verbindung mit allen anderen hält, wenn sie alle mit solchen Narren wie diesem hier bemannt sind.«
»Es muss ein größerer Vorrat dieser Droge an Bord zu finden sein«, meinte Oladahn. »Zweifellos nahmen die Männer sie regelmäßig ein. Coryanthum konnte sie nur deshalb nicht nehmen, weil wir ihn gebunden hatten – nur darum kam er zu sich.«
»Wie fühlst du dich?« erkundigte sich Falkenmond.
»Schwach – irgendwie ohne Leben und Gefühle.«
»Verständlich«, brummte Oladahn. »Es ist bestimmt eine Droge, die schließlich den Tod herbeiführt. Ein grauenhafter Plan. Man nimmt Nichtsahnende, füttert sie mit einem Mittel, das sie wahnsinnig macht und später tötet, benutzt sie zum Morden und Plündern und sammelt die Beute ein. Ich habe noch nie von etwas Ähnlichem gehört. Ich dachte, der Kult des Wahnsinnigen Gottes bestünde lediglich aus echten Fanatikern, doch nun scheint mir eine sehr kaltblütige und berechnende Intelligenz dahinterzustecken.«
»Auf den Meeren auf jeden Fall«, sagte Falkenmond. »Ich möchte mir den vorknöpfen, der dafür verantwortlich ist. Er allein mag wissen, wo Yisselda zu finden ist.«
»Ich schlage vor, wir holen erst einmal das Segel ein«, meinte d’Averc. »Die Flut wird uns in den Hafen treiben, und ich glaube, unser Empfang ließe zu wünschen übrig, wenn man das Segel sähe. Wir wollen doch die Schätze, die hier an Bord liegen, nutzbringend anwenden. Wir sind jetzt reiche Leute!«
»Ihr seid nach wie vor mein Gefangener, d’Averc«, erinnerte Falkenmond ihn. »Aber es stimmt, wir könnten einen kleinen Teil der Schätze1 für unsere Weiterreise verwenden und den größeren einem ehrlichen Mann anvertrauen, damit er sich um die Entschädigung jener bemühe, die durch die wahnsinnigen Piraten Verluste erlitten.«
»Und dann?« fragte Oladahn.
»Dann setzen wir erneut Segel – und warten darauf, dass der Eigner nach seinem Schiff sucht.«
»Können wir sicher sein, dass er das tun wird? Was ist, wenn er von unserem Besuch in Simferopol erfährt?«
Falkenmond lächelte grimmig. »Dann wird er uns zweifellos erst Recht suchen.«