4 Die Macht des Amuletts

 

Falkenmond legte seinen Umhang über Yisseldas nackte Schultern. Das Mädchen zitterte von den Nachwirkungen des Ausgestandenen und gleichzeitig vor Freude über das Wiedersehen mit Falkenmond. Der Ritter in Schwarz und Gold stand noch immer bewegungslos am Eingang.

Während Falkenmond Yisselda in die Arme nahm, begann der Ritter sich wieder zu bewegen. Er durchquerte die Halle, und tauchte in der Dunkelheit unter, wo die Leiche Stalnikoffs, des Wahnsinnigen Gottes, lag.

»O Dorian«, schluchzte Yisselda. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in den vergangenen Monaten alles durchgemacht habe. Einmal war ich von einer, dann von einer anderen Gruppe gefangen, während wir Hunderte von Meilen durchs Land zogen. Ich weiß nicht einmal, wo dieser schreckliche Ort hier liegt. Ich habe keine Erinnerung an die letzten Tage, nur ganz schwach entsinne ich mich eines Alptraums, in dem ich gegen ein furchtbares Verlangen ankämpfte, dich zu töten …«

Falkenmond drückte sie fest an sich. »Ein Alptraum, Geliebte, mehr war es nicht. Komm, brechen wir auf und kehren zur Kamarg in die Sicherheit zurück. Erzähle mir, was ist mit deinem Vater und den anderen?«

Ihre Augen weiteten sich. »Weißt du es nicht? Ich dachte, du wärst erst dorthin zurückgekehrt, ehe du nach mir suchtest.«

»Ich habe nichts als Gerüchte vernommen. Wie geht es Bowgentle? Von Villach? Graf Brass …?«

Sie senkte den Blick. »Von Villach wurde an der Nordgrenze im Kampf gegen die Granbretanier durch eine Flammenlanze getötet. Graf Brass …«

»Ja?«

»Als ich ihn das letzte Mal sah, lag er im Krankenbett. Selbst Bowgentles Heilkünste schienen ihm nicht helfen zu können. Es war, als hätte er jeden Wunsch zu leben verloren. Er sagte, die Kamarg würde bald fallen – er hielt dich für tot, als du nicht in der vorausberechneten Zeit zurückkamst.«

Falkenmonds Augen blitzten wie kaltes Eisen. »Ich muss sofort zur Kamarg zurück – selbst wenn es nur dazu wäre, Graf Brass den Lebenswillen zurückzugeben. Dass auch du noch verschwandest, muss ihn schwer getroffen haben.«

»Wenn er überhaupt noch lebt«, sagte sie leise.

»Er muss leben. Wenn die Kamarg noch steht, dann lebt auch Graf Brass noch.«

Auf dem Gang zum großen Thronsaal dröhnten eilige Schritte. Falkenmond stellte sich vor Yisselda und zog sein Schwert.

Die Tür wurde aufgestoßen, und Oladahn stand keuchend vor ihnen, d’Averc folgte ihm dicht auf.

»Granbretanier«, stieß der Kleine hervor. »Mehr als wir bekämpfen könnten. Sie durchsuchen wahrscheinlich die Burg und die Gegend nach Beute und Überlebenden.«

D’Averc drängte sich an dem kleinen Bepelzten vorbei. »Ich versuchte, mit ihnen zu reden, sie zu überzeugen, dass ich das Recht habe, sie zu befehligen, da mein Rang höher ist als der ihres Anführers, aber …« Er zuckte die Schultern, »offensichtlich habe ich überhaupt nichts mehr zu sagen. Der verdammte Ornithopterpilot lebte wohl noch lange genug, um einem Suchtrupp zu verraten, dass ich mich zu dumm anstellte, Euch gefangen zu halten. Nun bin ich nicht weniger ein Gesetzloser als Ihr.«

Falkenmonds Gesicht verfinsterte sich. »Kommt beide herein und verriegelt die Tür. Sie ist vielleicht stark genug, um einem Angriff standzuhalten.«

»Ist sie der einzige Zugang?« D’Averc betrachtete sie abschätzend.

»Vermutlich«, sagte Falkenmond. »Doch darüber können wir uns später Gedanken machen.«

Der Ritter in Schwarz und Gold kam aus der Düsternis zurück. Von einer Hand baumelte an einem blutigen Lederband das Rote Amulett.

Der Ritter war bedacht, das Amulett selbst nicht zu berühren, er hielt es Falkenmond entgegen, als d’Averc und Oladahn die Türe verriegelten.

»Hier«, murmelte er. »Es gehört Euch.«

Falkenmond zuckte zurück. »Ich will es nicht. Bleibt mir damit vom Leibe. Etwas Böses geht von ihm aus. Es ist schuld am Tode vieler und an ihrem und anderem Wahnsinn. Selbst der bedauerliche Stalnikoff war nichts weiter als sein Opfer. Behaltet es. Findet einen anderen, der bereit ist, es zu tragen.«

»Ihr müsst es tragen!« klang die Stimme aus dem Helm. »Nur Ihr dürft es.«

»Ich werde es nicht nehmen!« Falkenmond zeigte auf Yisselda. »Dieses Ding machte aus dem zarten Mädchen hier ein blutgieriges Monster. All jene, die wir im Fischerdorf sahen, starben durch die Macht des Roten Amuletts. All jene, die sich uns entgegenstellten, waren dem Wahnsinn verfallen – durch das Rote Amulett. All jene, die erschlagen im Hof liegen, sind Opfer des Roten Amuletts.« Er schlug dem Ritter das Ding aus der Hand. »Ich will es nicht. Wenn es das ist, was der Runenstab hervorbringt, will ich nichts davon wissen!«

»Das ist, was Menschen – Narren wie ihr – damit machen«, sagte der Ritter in Schwarz und Gold mit seiner ernsten, ausdruckslosen Stimme. »Es ist Eure Pflicht als der erwählte Diener des Runenstabs, die Gabe anzunehmen. Es wird Euch nichts anhaben. Es gibt Euch nichts außer Macht.«

»Macht, um zu zerstören und um andere zum Wahnsinn zu treiben?«

»Macht, Gutes zu tun – Macht, die Horden des Dunklen Imperiums zu bekämpfen.«

In diesem Augenblick krachte etwas gegen die Tür, und Falkenmond wusste, dass die Krieger Granbretaniens sie gefunden hatten.

»Sie sind in der Überzahl«, sagte Falkenmond. »Wird das Amulett uns die Macht geben, ihnen durch jene Tür zu entkommen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt?«

»Es wird Euch helfen«, versicherte ihm der Ritter in Schwarz und Gold und hob das Amulett wieder an seinem Band vom Boden auf.

Die Tür ächzte unter dem Druck und den Schlägen derer auf der anderen Seite.

»Wenn es so viel Gutes tun kann, weshalb berührt Ihr es dann nicht selber?« fragte Falkenmond.

»Das steht nur Euch zu. Täte ich es, geschähe mir das gleiche wie Stalnikoff. Hier, nehmt es. Seinetwegen kamt Ihr hierher.«

»Ich kam hierher, um Yisselda zu retten. Das habe ich getan.«

»Das war der Grund für ihr Hier sein.«

»So war es ein Trick, um mich hierher zu locken …?«

»Nein, es war ein Teil des Planes. Aber Ihr sagt, Ihr kamt, um sie zu retten, und dennoch weigert Ihr Euch, das Mittel zu benutzen, das Euch und sie sicher aus dieser Burg bringen kann. Gibt diese Türe nach, werden die Krieger Granbretaniens euch alle niedermachen. Und Yisseldas Schicksal mag noch schlimmer sein als das Eure …«

Ein Spalt öffnete sich in der Tür. Oladahn und d’Averc sprangen mit erhobenen Schwertern zurück. Verzweiflung zeichnete ihre Züge.

»Gleich werden sie hier sein«, sagte d’Averc. »Lebt wohl, Oladahn – und auch Falkenmond. Ihr wart weniger langweilige Gefährten als einige andere …«

Falkenmond betrachtete das Amulett. »Ich weiß nicht, wie …«

»Vertraut meinen Worten«, sagte der Ritter in Schwarz und Gold. »Ich habe Euch schon mehrere Male gerettet. Hätte ich das getan, um Euch hier zu vernichten?«

»Vernichten wohl nicht – aber damit liefere ich mich einer bösen Macht aus. Wie will ich wissen, dass ich ein Diener des Runenstabs bin? Ich habe nur Euer Wort, dass ich ihm diene, und nicht einer finsteren Macht?«

»Die Tür gibt nach!« brüllte Oladahn. »Herzog Dorian, wir brauchen Eure Hilfe. Lasst den Ritter mit Yisselda fliehen, wenn er kann!«

»Rasch«, sagte der Ritter und streckte Falkenmond das Amulett erneut entgegen. »Nehmt es und rettet wenigstens das Mädchen.«

Einen Augenblick zögerte er noch, dann nahm Falkenmond das Amulett. Es schmiegte sich wie ein lebendes Wesen in seine Hand – wie ein außerordentlich mächtiges, lebendes Wesen. Sein rotes Licht schien kräftiger zu strahlen; es durchflutete jeden Winkel des seltsamen Saales. Falkenmond fühlte Kraft aus ihm in sich überströmen, und ein Gefühl des Wohlbehagens beflügelte ihn. Seine Bewegungen waren nun geschmeidig und sehr schnell, die Ereignisse des vergangenen Tages schienen nicht länger auf ihm zu lasten. Lächelnd streifte er sich das blutverschmierte Lederband über den Kopf. Er bückte sich und küsste Yisselda, und mit diesem wundervollen Gefühl, das durch seinen Körper schoss, wirbelte er herum, um sich mit dem Schwert in der Hand der heulenden Horde zu stellen.

Schließlich fiel die Türe in den Saal, dahinter standen in lauernder Haltung die keuchenden Bluthunde Granbretaniens. Tigermasken aus emailleverziertem Metall und Halbedelsteinen glänzten, und Waffen richteten sich auf die kleine Gruppe, die im Saal wartete.

Der Führer der Granbretanier trat vor.

»So viel Mühe wegen so weniger«, keuchte er. »Brüder, das sollen sie uns bezahlen.«

Und dann begann das Töten.