15 Die Tore von Londra
Die Truppen hatten sich außerhalb von Londra gesammelt, als die sechs Reiter an der Spitze ihrer Kavallerie den Hügelkamm erreichten.
Falkenmond umklammerte das Rote Amulett. Er wusste, es allein hielt ihn noch am Leben, es half ihm, die Macht des Schwarzen Juwels zu bekämpfen. Irgendwo in der Stadt bediente Kalan die Maschine, die die grauenvolle Kraft in den Edelstein pumpte: Um an Kalan zu gelangen, musste er die Stadt nehmen, musste er die Legionen schlagen, die unter Meliadus’ Führung auf ihn warteten.
Falkenmond zögerte nicht, er durfte es nicht, denn jede Sekunde seines Lebens war kostbar. Er zog das rote Schwert der Morgenröte und gab Befehl zum Angriff.
Die kamarganische Kavallerie stürmte den Hügel herab, auf eine Streitmacht zu, die ihnen um ein Vielfaches überlegen war.
Flammenlanzen spuckten aus den Reihen der Granbretanier, und das Feuer der Kamarganer erwiderte den Beschuss. Falkenmond hielt den richtigen Moment für gekommen und stieß den Schwertarm in die Höhe. »Legion der Morgenröte! Ich rufe die Legion der Morgenröte!« Und dann stöhnte er, als unerträglicher Schmerz sich in seinem Schädel breitmachte und er die Hitze des Juwels in seiner Stirn spürte. Er konnte nicht einmal mehr Antwort auf Yisseldas besorgte Frage nach seinem Befinden geben.
Und schon befanden sie sich mitten im Schlachtgetümmel. Falkenmonds Augen waren glasig vor Schmerz, er konnte den Feind kaum erkennen und vermochte auch zuerst nicht zu sagen, ob die Legion der Morgenröte erschienen war. Aber sie waren hier, die barbarischen Krieger, und ihr rötlicher Strahlenkranz leuchtete. Das Rote Amulett half ihm im Kampf gegen das Schwarze Juwel, und er spürte allmählich seine Kraft zurückkehren. Aber wie lange würde sie ihm bleiben?
Nun befand er sich in der Mitte einer Masse von ängstlich wiehernden und sich aufbäumenden Pferden und hieb mit dem Schwert auf Geierkrieger ein, die sich mit Keulen zur Wehr setzten. Er blockierte einen Schlag und erwiderte ihn, dass seine mächtige Klinge die Rüstung des Gegners durchdrang und ihm in die Brust fuhr. Dann warf er sich im Sattel herum und trennte einem anderen Gegner den Kopf vom Hals, und gleich darauf duckte er sich unter einer zischenden Keule und stach seinem Besitzer die Schwertspitze in die Seite.
Die Schlacht war laut, der Kampf heiß und hysterisch. Die Luft stank nach Angst, und Falkenmond wusste, dass dies die schlimmste Schlacht war, die er je bestritten hatte. Die granbretanischen Soldaten hatten beim Erscheinen der Legion der Morgenröte die Nerven verloren, sie kämpften wild in aufgelösten Reihen und hatten ihre Anführer verloren.
Falkenmond wusste, dass es ein grässliches Gemetzel war, dessen Ende nicht viele erleben würden. Er ahnte, dass er nicht zu den wenigen Glücklichen zählen würde, denn der Schmerz in seinem Schädel nahm wieder zu.
Oladahn fiel, ohne dass seine Kameraden es bemerkten, einsam und ohne würdige Gegner – ein Dutzend Streitäxte, von Schweinekriegern geschwungen, zerstückelten ihn.
Und so starb Graf Brass:
Er traf auf drei Barone – Adaz Promp, Mygel Holst und Saka Gerden (letzterer vom Orden der Stiere). Sie sahen zwar nicht sein Gesicht, das vom Helm völlig verborgen war, aber sie erkannten seine Rüstung aus Messing, und sie stürmten gleichzeitig auf ihn ein – Hund, Ziege und Stier – mit ihren erhobenen Schwertern, um ihn niederzumachen.
Aber Graf Brass blickte von der Leiche seines letzten Gegners hoch (der sein Ross getötet und dadurch den Grafen gezwungen hatte, zu Fuß zu kämpfen). Er sah die drei Barone auf sich zukommen und packte sein Schwert mit beiden Händen. Als ihre Pferde ihn erreichten, schwang er die Klinge und zertrennte ihre Beine, dass die Barone über die Köpfe ihrer Rosse hinwegflogen und im Schlamm des Schlachtfeldes landeten. Das gab Graf Brass die Chance, Adaz Promp in einer recht würdelosen Stellung, von der Kehrseite aus, niederzustechen und Mygel Holsts Kopf abzuschlagen, während der Ziegenbaron noch um sein Leben flehte. Er hatte demnach nur noch den Stier, Saka Gerden, gegen sich. Durch Brass’ kurzen Kampf gegen seine beiden Kameraden war Saka die Zeit geblieben, auf die Füße zu kommen und sich um eine anständige Kampfposition zu bemühen. Allerdings schüttelte er, geblendet von Brass’ Spiegelhelm, den Kopf. Als der Graf das bemerkte, riss er sich den Helm vom Kopf und zeigte sein vom Kampf gerötetes Gesicht mit dem rostfarbenen Schnurrbart und gleichfarbigem Haar. »Ich habe zwei auf etwas unfaire Weise erledigt«, brummte er, »deshalb ist es nur recht, dass ich Euch die Chance gebe, mich zu töten.«
Saka Gerden stürmte wie ein Stier, der ja sein Ordenstier war, auf ihn ein. Graf Brass wich zur Seite aus und brachte seine Klinge mit solcher Gewalt auf den Baron herab, dass sie Helm und Schädel spaltete. Als Gerden fiel, lächelte der Graf. Im gleichen Augenblick stieß ihm ein berittener Ziegenkrieger die Lanze durch den Nacken. Graf Brass drehte sich um, zerrte die Lanze aus der Hand seines Feindes und warf sein Breitschwert. Es blieb in der Kehle des Ziegenkriegers stecken. Auf diese Weise zahlte er es ihm mit gleicher Münze heim. So starb Graf Brass.
Orland Fank sah, wie es geschah. Er hatte die Freunde vor der Schlacht verlassen, sich dann aber ihnen wieder zugesellt und mit seiner Axt ordentlich gewütet. Er sah Graf Brass sterben. Es war im gleichen Augenblick, als die Krieger des Dunklen Imperiums, denen nun drei ihrer Führer fehlten, sich am Tor sammelten. Sie hätten auch dort nicht haltgemacht, wäre nicht Baron Meliadus, der in seiner schwarzen Rüstung, seiner schwarzen Wolfsmaske und dem gewaltigen Breitschwert furchterregend aussah, dort gestanden, um sie aufzuhalten.
Aber selbst Meliadus wurde zurückgedrängt, als Falkenmond, Yisselda, d’Averc, Bowgentle, Orland Fank und die übrig gebliebenen Kamarganer nebst der Legion der Morgenröte, die ihre gespenstischen Klagelieder sang, auf die granbretanischen Tierkrieger einstürmten.
Es blieb keine Zeit, die Tore vor den Helden aus der Kamarg zu schließen. Baron Meliadus wusste nun, dass er Falkenmonds Macht richtig berechnet, aber dann in seiner Überheblichkeit doch unterschätzt hatte. Es blieb ihm nichts übrig, als soviel Verstärkung wie nur möglich heranzuschaffen und Kalan zu veranlassen, die Kraft des Schwarzen Juwels zu verstärken.
Aber plötzlich schlug sein Herz schneller, denn er sah Falkenmond im Sattel schwanken. Die Hände des Herzogs pressten sich gegen den Silberhelm, und der seltsame Mann mit der Mütze und den karierten Hosen hielt ihn und griff hinter ihm nach der Stoffrolle, die am Sattel befestigt war.
Fank flüsterte eindringlich. »Hört zu, Falkenmond. Es ist an der Zeit, den Runenstab zu benutzen, unsere Standarte zu zeigen. Tut es sofort, Falkenmond, oder Ihr habt nicht länger als eine Minute mehr zu leben.«
Falkenmond spürte die Kraft des Juwels an seinem Hirn nagen wie eine Ratte an den Gittern ihres Käfigs. Aber er nahm den Runenstab, als Fank ihn ihm reichte. Er hob ihn mit der Linken in die Höhe und sah die Wellen und Strahlen die Luft um ihn füllen.
Fank brüllte: »Der Runenstab! Der Runenstab! Wir kämpfen für den Runenstab.« Fank lachte und lachte, dass die Granbretanier vor Angst zurückfielen; trotz ihrer Übermacht so demoralisiert, dass Falkenmond schon an den Sieg glaubte.
Aber Baron Meliadus war nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Er brüllte seine Männer an: »Das ist nichts weiter als ein harmloser Stab! Er kann euch nichts anhaben! Marsch, vorwärts! Auf sie!«
Schwankend saß Falkenmond im Sattel, aber es gelang ihm, den Runenstab hoch erhoben durch die Tore Londras zu tragen, hinein in die Stadt, wo noch eine Million Gegner ihrer harrten.
Wie im Traum führte Falkenmond seine übernatürliche Legion gegen den Feind, mit dem Schwert der Morgenröte in der einen und dem Runenstab in der anderen Hand, während er sein Pferd mit den Knien lenkte.
Der Ansturm war so stark, als Schweine- und Ziegeninfanteristen sie aus den Sätteln zu reißen versuchten, dass sie sich kaum noch bewegen konnten. Falkenmond sah eine der Spiegelhelmgestalten mit größtem Heldenmut kämpfen, als ein Dutzend Krieger sie vom Ross zerrten. Er fürchtete, es sei Yisselda. Neue Kraft strömte in ihn, und er drehte sich um, um sie zu erreichen, aber inzwischen war bereits ein zweiter Spiegelbehelmter zu ihrer Hilfe geeilt. Da erst erkannte er, dass nicht Yisselda in Gefahr gewesen war, sondern Bowgentle, und dass Yisselda zu seiner Unterstützung gekommen war.
Aber es war zwecklos. Bowgentle verschwand unter den Leibern der Ziegen-, Schweine- und Hundekrieger, die sich auf ihn geworfen hatten. Und schließlich hob einer den blutigen Silberhelm in die Höhe, dass alle ihn zu sehen vermochten – aber nur einen Augenblick, denn schon hatte Yisseldas schmale Klinge den Arm am Handgelenk durchtrennt, und der Helm rollte zu Boden.
Eine neue ungeheure Schmerzwelle durchströmte Falkenmond. Zweifellos hatte Kalan die Intensität erhöht. Er keuchte, und alles begann vor seinen Augen zu schwimmen. Trotzdem glückte es ihm, sich vor den Waffen der Gegner zu schützen und den Runenstab festzuhalten.
Als seine Sicht für kurze Zeit wieder klar wurde, bemerkte er, dass d’Averc sein Pferd durch die Reihen der Granbretanier drängte. Mir wirbeldem Schwert bahnte er sich einen Weg, offensichtlich verfolgte er ein bestimmtes Ziel. Da wusste Falkenmond, wohin er wollte – zum Palast, zu der Frau, die er liebte, zu Königin Flana.
Und so starb d’Averc:
Irgendwie gelang es dem Franzosen, den Palast zu erreichen, der sich noch im gleichen Zustand wie nach dem Sturm von Meliadus’ Truppen befand. Er konnte deshalb durch die Bresche in der Mauer reiten, und er sprang erst vor den Stufen vom Pferd, um sich die Wachen am Tor vorzunehmen. Sie hatten Flammenlanzen, er nur ein Schwert. Er warf sich flach auf den Boden, als die Feuerzungen über seinen Kopf hinwegzischten, und rollte sich in einen Graben, den Kalans grüne Kugeln ausgehöhlt hatten. Er fand dort eine Flammenlanze, die er über den Rand hob und mit der er die Wachen niederbrannte, ehe sie überhaupt begriffen, was vor sich ging.
Dann sprang d’Averc auf und rannte durch die hohen Korridore, in denen seine Schritte laut hallten. Er lief, bis er schließlich die Flügeltür zum Thronsaal erreichte. Die Wachen davor sahen ihn. Sie richteten ihre Waffen auf ihn, aber er schoss sie alle mit seiner Flammenlanze nieder und wurde selbst leicht an der rechten Schulter gestreift. Er schob die Tür einen Spalt auf und spähte in den Thronsaal hinein. Eine Meile entfernt stand das Podest mit dem Thron, aber er konnte nicht sehen, ob Flana darauf saß. Der Saal schien leer zu sein.
D’Averc begann auf den fernen Thron zuzulaufen.
Immer wieder rief er den Namen seiner Geliebten: »Flana! Flana!«
Flana hatte auf ihrem Thron vor sich hingeträumt. Sie blickte auf, als sie die winzige Gestalt auf sich zukommen sah. Sie hörte ihren Namen in tausend Echos in dem riesigen Saal. »Flana! Flana! Flana!«
Da erkannte sie die Stimme, doch sie glaubte, dass sie immer noch nicht richtig wach war und weiterträumte.
Die Gestalt kam näher. Sie trug einen Helm, der wie hochpoliertes Silber, wie ein Spiegel glitzerte. Aber die Statur -die Statur …
»Huillam?« rief sie unsicher. »Huillam d’Averc?«
»Flana!« Die Gestalt riss den Helm vom Kopf und schleuderte ihn von sich, dass er klirrend über den Marmorboden rollte.
»Huillam!« Sie erhob sich und begann die Stufen hinunterzusteigen.
Er breitete die Arme aus und lächelte glücklich.
Aber sie sollten einander nicht mehr lebend gehören, denn ein Flammenlanzenstrahl schoss von einer der hohen Galerien herab und verbrannte Huillams Gesicht, dass er vor unerträglichem Schmerz aufschrie und in die Knie sank. Da verzehrten die Flammen auch seinen Rücken. Er stürzte vor Flanas Füße und starb zu ihren Füßen, während ersticktes Schluchzen ihren Körper schüttelte.
Eine Stimme rief selbstzufrieden von der Galerie herunter: »Nun seid Ihr sicher, Madam.«