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Erst jetzt erzählte Vater Zeit seine Geschichte.

Seine Stimme wurde rau und sein Husten stärker, während er Victor und Sarah die Welt schilderte, aus der er stammte.

Er berichtete von dem Sonnenstab, den er erfunden hatte.

Von der Wasseruhr aus Schalen.

Von seiner Frau Alli und seinen drei Kindern.

Und von dem alten Mann aus dem Himmel, der Dor aufgesucht hatte, als er noch ein Junge war, und der ihn später zu ewiger Gefangenschaft verdammte.

Seinen beiden Zuhörern kam diese Geschichte höchst unwahrscheinlich vor, doch als Dor von Nims Turm erzählte, flüsterte Sarah »Babel«, und Victor murmelte »das ist doch nur ein Mythos«.

Als Dor zu seiner Zeit in der Höhle kam, legte er Victor die Hand auf die Augen, so dass er die ewige Einsamkeit, die Qualen eines Daseins ohne das Vertraute – Frau, Kinder, Freunde, ein Zuhause – sehen konnte.

Ein zweites Leben?

Ein tausendstes?

Was sollte das bringen?

»Ich lebte«, sagte Dor, »aber ich war nicht lebendig.«

Victor sah, wie Dor zu fliehen versuchte, wie er an die Felswände schlug, wie er in den leuchtenden Teich steigen wollte. Und er hörte das niemals endende Gewirr der Stimmen.

»Was haben all diese Stimmen zu bedeuten?«, fragte er.

»Unglück«, antwortete Dor.

Und Dor erklärte, wie die Menschen seit Beginn der Zeitmessung die Fähigkeit verloren hatten, glücklich und zufrieden zu sein.

Stets verlangten sie nach mehr Minuten, mehr Stunden, nach noch schnellerem Fortschritt, damit sie an jedem Tag noch mehr erreichen konnten. Die schlichte Freude am Leben zwischen zwei Sonnenaufgängen hatten sie eingebüßt.

»Nichts, was der Mensch heutzutage tut, um möglichst erfolgreich seine Zeit zu füllen, befriedigt ihn noch«, erklärte Dor. »Es lässt ihn nur immer begieriger werden, noch mehr zu leisten. Der Mensch möchte seine Existenz als sein Hab und Gut betrachten. Doch niemand kann die Zeit besitzen

Dor löste die Hand von Victors Augen.

»Wenn man das Leben misst, lebt man es nicht. Ich weiß, wovon ich rede.«

Er blickte unter sich.

»Denn ich war der Erste, der das getan hat.«

Seine Haare waren inzwischen schweißgetränkt, und er wurde immer bleicher.

»Wie alt sind Sie?«, flüsterte Victor.

Dor schüttelte ratlos den Kopf: Der erste Mensch, der seine Tage gezählt hatte, wusste nicht, wie viele er angehäuft hatte.

Er tat einen tiefen, mühsamen Atemzug.

Und brach zusammen.

Der Stundenzaehler
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