17
Dor erwachte in einer Höhle.
Obwohl es nirgendwo Licht gab, konnte er seine Umgebung erkennen. Felsgestein unter seinen Füßen, zerklüftete Zacken an der Decke.
Er rieb sich Ellbogen und Knie. Lebte er noch? Wie war er hierhergelangt? Nach dem Besteigen des Turms hatte ihm alles weh getan. Doch nun waren sämtliche Schmerzen verschwunden, und er rang auch nicht mehr um Luft. Er berührte seine Brust und spürte, dass er nur ganz flach atmete.
Dor fragte sich, ob er in einem Versteck der Götter gelandet war. Dann dachte er an die Menschen, die vom Turm gestürzt waren, und an das geschmolzene Fundament und das Versprechen, das er Alli gegeben hatte – ich werde dein Leiden beenden –, und sank auf die Knie. Er hatte versagt. Er hatte die Zeit nicht angehalten. Warum hatte er Alli bloß verlassen? Warum war er weggelaufen?
Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Die Tränen flossen durch seine Finger, und wo sie auf den Boden tropften, färbte sich der Fels schillernd blau.
Wie lange Dor weinte, ließ sich nicht ermessen.
Als er schließlich aufschaute, erblickte er eine Gestalt, die ihm gegenübersaß. Es war der alte Mann, den er als Kind schon einmal gesehen hatte. Jetzt hatte der Alte das Kinn auf den Stab aus goldenem Holz gestützt und betrachtete Dor wie ein Vater, der seinen schlafenden Sohn ansieht.
»Gelüstet es dich nach Macht?«, fragte der Alte. Seine Stimme klang so gedämpft und wie ein verwehender Windhauch, als sei sie noch nie benutzt worden.
»Alles, was ich will, ist die Sonne und den Mond anzuhalten«, flüsterte Dor.
»Ah«, antwortete der Alte, »und das ist wohl keine Macht?«
Er berührte Dors Sandalen mit dem Stab, und sie lösten sich auf.
»Seid Ihr der höchste aller Götter?«, fragte Dor.
»Ich bin nur sein Diener.«
»Bin ich tot?«
»Du wurdest vor dem Tode bewahrt.«
»Um stattdessen hier zu sterben?«
»Nein. In dieser Höhle wirst du nicht einmal altern, nicht einen einzigen Augenblick.«
Dor wandte beschämt den Blick ab. »Solch ein Geschenk habe ich nicht verdient.«
»Es ist kein Geschenk«, erwiderte der Alte.
Er erhob sich.
»In deiner Zeit auf Erden hast du etwas begonnen«, sprach der Alte. »Etwas, das alle verändern wird, die dir nachfolgen.«
Dor schüttelte den Kopf. »Ihr irrt. Ich bin nur ein schwacher Mensch, ein aus der Gemeinschaft Verstoßener.«
»Selten weiß der Mensch um seine Kräfte«, entgegnete der Alte.
Er klopfte mit dem Stab auf den Boden. Dor blinzelte. Vor ihm standen all seine Messgeräte und sein Werkzeug – seine Stöcke, Steine, Tafeln.
»Hast du etwas davon weggegeben?«, fragte der Alte.
Dor dachte an den Sonnenstab.
»Etwas wurde mir weggenommen«, antwortete er.
»Und von diesem Etwas gibt es nun ganz viele«, fuhr der Alte fort. »Einmal begonnen, gibt es kein Halten mehr für dieses Verlangen. Es wird Ausmaße annehmen, die du dir niemals vorstellen kannst.
Bald wird der Mensch alle Tage zählen und dann die kleineren Einheiten des Tages und schließlich die noch viel kleineren – bis das Zählen ihn vollkommen in Anspruch nimmt und die Wunder der Welt, die ihm geschenkt wurden, für ihn verloren sind.«
Der Alte klopfte erneut mit dem Stab auf den Boden. Dors Gerätschaften zerfielen zu Staub.
Der Alte verengte die Augen.
»Warum wolltest du Tage und Nächte zählen?«
Dor blickte unter sich. »Ich wollte etwas wissen«, antwortete er.
»Wissen?«
»Ja.«
»Und was«, fragte der Alte, »weißt du nun über die Zeit?«
»Zeit?«
Dor schüttelte den Kopf. Er hatte dieses Wort noch nie zuvor vernommen. Welche Antwort würde angemessen sein?
Der Alte reckte den knochigen Zeigefinger und ließ ihn in der Luft kreisen. Dors Tränen am Boden flossen zusammen und bildeten einen blauen Teich im Fels.
»Nun wirst du das lernen müssen, was du noch nicht weißt«, sagte der Alte. »Du musst verstehen, welche Folgen das Zählen der Augenblicke hat.«
»Wie?«, fragte Dor.
»Indem du dem Leid lauschst, das daraus entsteht.«
Der Alte hielt die Hand über den Tränenteich, der nun zu leuchten begann. Rauchwölkchen erschienen auf der Oberfläche.
Verstört und verwirrt beobachtete Dor das Geschehen. Er wollte nur eines – seine Alli wiederhaben, doch sie blieb verschwunden.
Mit erstickter Stimme flüsterte er: »Bitte lass mich sterben. Ich möchte, dass alles zu Ende ist.«
»Darüber hast du nicht zu bestimmen«, erwiderte der Alte. »Auch das wirst du lernen.«
Er legte die Hände aneinander und begann zu schrumpfen, bis er nur noch so groß wie ein kleiner Junge war, dann so groß wie ein Kleinkind. Schließlich erhob er sich in die Luft wie eine Biene.
»Warte!« schrie Dor. »Wie lange muss ich hierbleiben? Wann kommst du wieder?«
Die kleine Gestalt war bereits oben an der Höhlendecke angelangt. Spaltete den Fels. Aus diesem Spalt fiel ein einziger Wassertropfen.
»Wenn der Himmel die Erde berührt«, antwortete der Alte.
Und verwandelte sich zu nichts.