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Ein Mann sitzt in einer Höhle, allein.
Seine Haare sind lang, sein Bart reicht bis zu den Knien. Er hat das Kinn in die Hände gestützt.
Er schließt die Augen.
Horcht auf etwas. Stimmen. Niemals verstummende Stimmen, die aus einem Teich aufsteigen.
Es sind Stimmen von Menschen auf der Erde.
Und sie verlangen alle nur eines. Zeit.
Sarah Lemon gehört eine dieser Stimmen.
Sarah, ein junges Mädchen, liegt mit ihrem Handy auf dem Bett und betrachtet das Foto eines gut aussehenden Jungen mit kaffeebraunen Haaren auf dem Display.
An diesem Abend wird sie ihn treffen. Um halb neun. Aufgeregt murmelt sie die Uhrzeit vor sich hin – halb neun, halb neun! – und überlegt, was sie anziehen soll. Die schwarze Jeans? Das ärmellose Top? Nein. Sie findet ihre Arme hässlich. Nicht das ärmellose also.
»Ich brauche mehr Zeit«, sagt sie.
Victor Delamonte gehört eine dieser Stimmen.
Victor ist ein reicher Mann Mitte achtzig. Er sitzt mit seiner Frau in einem Behandlungszimmer. Der Schreibtisch des Arztes ist mit Papieren übersät.
Behutsam sagt der Arzt: »Wir können nicht mehr viel tun.«
Die monatelange Behandlung konnte nichts ausrichten gegen die Tumore. Das Versagen der Nieren.
Victors Frau will sprechen, bringt jedoch kein Wort hervor. Und als hätten sie eine gemeinsame Kehle, muss auch Victor sich räuspern.
»Grace möchte wissen …«, sagt er. »… wie viel Zeit bleibt mir noch?«
Seine Worte – und Sarahs Worte – wehen hinauf zu der fernen Höhle, zu dem einsamen bärtigen Mann, der dort sitzt.
Der Mann ist Vater Zeit.
Man mag ihn nur für einen Mythos halten, für ein Bild auf einer Neujahrskarte – eine hagere Gestalt, älter als die gesamte Menschheit, mit einem Stundenglas in Händen.
Doch Vater Zeit existiert wirklich.
Und er kann nicht altern.
Unter dem buschigen Bart und der wilden Mähne – Zeichen des Lebens, nicht des Todes – verbirgt sich ein sehniger Körper mit glatter Haut, immun gegen genau das, worüber er herrscht.
Einst, bevor Vater Zeit Gott verärgerte, war er nur ein gewöhnlicher Mensch, dem am Ende seiner Tage der Tod bevorstand.
Doch sein Schicksal hat sich gewandelt: In die Höhle verbannt, muss er den Bitten aller Menschen lauschen – ihrem Flehen um mehr Minuten, Stunden, Jahre, um mehr Zeit.
Vater Zeit sitzt seit einer Ewigkeit in dieser Höhle, und er hat jegliche Hoffnung aufgegeben.
Doch irgendwo tickt für uns alle, still und leise, eine Uhr.
Sogar für ihn.
Denn bald wird Vater Zeit frei sein.
Um auf die Erde zurückzukehren.
Und um zu vollenden, was er begonnen hat.