61

Es war 20.00. Lorraine kleidete sich vor dem Spiegel an.

Sie konnte Silvesterpartys nicht leiden, ging aber dennoch jedes Jahr zu einer. Ihre geschiedenen Freundinnen und sie hatten vereinbart, sich an jenen Abenden gegenseitig beizustehen, an denen Einsamkeit besonders schwer zu ertragen war.

Lorraine sprayte ihre Haare und spähte dann in den Flur hinaus, um zu sehen, ob ihre Tochter inzwischen aufgetaucht war.

Sarah trug seit fünf Tagen dieselbe schwarze Jogginghose und ein altes grünes T-Shirt und hatte ihr Zimmer kaum verlassen.

Lorraine machte sich Sorgen. Sie hätte Sarah gerne gefragt, für wen sie die hochhackigen Schuhe getragen hatte, aber auf solche Fragen eine Antwort zu erhoffen war von vornherein aussichtslos. Damit biss sie bei Sarah auf Granit.

Lorraine dachte an die Zeit zurück, als sie den Jahreswechsel noch zu dritt verbracht hatten.

An einem Silvester waren sie am Times Square gewesen und hatten zugesehen, wie um Mitternacht der Zeitball abgesenkt wurde. Sarah, die damals sieben Jahre alt war, hatte auf Toms Schultern gesessen und in Honig geröstete Pecannüsse gefuttert, die sie auf der Straße gekauft hatten. Kurz vor Mitternacht hatte es zu schneien begonnen, und Sarah hatte mit einer Million anderer Menschen »drei … zwei … eins … Frohes neues Jahr!« geschrien.

An diesem Abend war Lorraine glücklich gewesen und hatte viele Fotos gemacht.

Aber als sie danach ins Auto gestiegen waren, hatte Tom sich den Schnee aus den Haaren gewischt und gesagt: »Gut, das müssen wir nicht noch mal haben.«

Lorraine klopfte an Sarahs Tür.

Im Zimmer lief Musik. Die Stimme einer Sängerin.

»Schatz?«

Schweigen.

Dann: »Was ist?«

»Ich wollte nur rasch Tschüss sagen.«

»Tschüss.«

»Frohes neues Jahr.«

»Jo.«

»Ich komm nicht so spät zurück.«

»Alles klar. Tschüss dann.«

Lorraine hörte ein Auto hupen. Ihre Freundinnen.

»Unternimmst du heute Abend irgendwas mit jemandem?« Lorraine fühlte sich nicht wohl bei dieser Frage.

»Ich will nichts unternehmen, Mom.«

»Okay.« Lorraine schüttelte den Kopf. »Morgen frühstücken wir zusammen, ja?«

Schweigen.

»Sarah?«

»Aber nicht zu früh.«

»Nein, nicht zu früh.«

Wieder Hupen.

»Ich ruf dich später noch an, Schatz.«

Lorraine ging nach unten. An der Haustür blieb sie stehen und seufzte tief. Zum Glück war sie dieses Jahr nicht die Fahrerin. Denn sie brauchte jetzt unbedingt einen Drink.

Sarah hatte bereits Alkohol intus. Wodka, den sie sich aus dem Wohnzimmerschrank geholt hatte.

Heute Abend wollte sie ihr Leben beenden.

Heute Abend. Dieser Zeitpunkt eignete sich am besten: Sie war alleine im Haus. Man würde sie also erst später finden.

Hieß es nicht immer, Silvester sei der einsamste Abend des Jahres?

Sarah fand den Gedanken tröstlich, dass es auf diesem Planeten wohl noch andere Menschen gab, die sich ebenso elend fühlten wie sie.

Es ist das Ende der Welt
Weil ich deine Liebe verlor.

Sarah hatte den Namen der Sängerin herausgefunden und sich den Song heruntergeladen. Sie hörte ihn schon seit Tagen. Sie verließ ihr Zimmer kaum. Duschte nicht. Aß nur wenig.

Als Lorraine sie am Vortag in denselben Klamotten aus der Toilette kommen sah, hatte sie gefragt: »Was ist los mit dir, Schatz?«

Sarah hatte sie angelogen, hatte erzählt, sie müsse für ein Schulprojekt so heftig arbeiten, dass sie nicht mal Zeit zum Duschen hätte.

Jetzt trank sie einen Schluck Wodka, spürte, wie er in ihrer Kehle brannte.

Vielleicht wird man Ethan nach Wodka fragen, wenn ich tot bin, dachte sie. Und dann muss er vielleicht zugeben, dass er vor ein paar Wochen zusammen mit dem Mädchen getrunken hatte, das er so unattraktiv fand.

Sarah wusste, dass sie es nie mehr ertragen könnte, ihn – oder auch nur irgendjemanden, der ihn kannte oder von ihnen beiden wusste – wiederzusehen. Aber das waren ja nun wohl alle, oder?

Es gab kein Entkommen mehr.

Keine Zuflucht.

Auch in der Schule würde sie sich nicht ducken und unsichtbar machen können. Sarah wusste genau, wie das alles ablaufen würde: Grinsen und Lästern hinter ihrem Rücken. Weitere Posts auf Facebook.

»Nich dein Ernst!«

»Schlampe, klarer Fall.«

»Renn, Digger!«

Gott! Wie genüsslich die über sie herfielen! Wie sie Ethan beipflichteten in seiner Fassungslosigkeit, dass jemand so Unattraktives wie Sarah Lemon gewagt hatte, sich an ihn heranzumachen!

Sarah fühlte sich wertlos und leer.

An ihrer Lage war nichts mehr zu retten.

Es gab keine Hoffnung mehr.

Und wenn es keine Hoffnung mehr gibt, ist Zeit eine Strafe.

»Es soll aufhören«, flüsterte sie.

Und torkelte mit dem Wodka und ihrem Handy in die Garage.

Der Stundenzaehler
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