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Kein Morphium.
Noch nicht.
Victor wollte den Überblick behalten.
Er atmete immer schneller, weil der Körper versuchte, das Kohlenmonoxid loszuwerden, um die Übersäuerung des Blutes zu verhindern.
Victor blieb nicht mehr viel Zeit.
Einige Geschäftspartner statteten ihm einen letzten Besuch ab. Victor trug Grace auf, nur wenige Leute zu empfangen. Er sagte ihr, er fühle sich außerstande, unentwegt Abschied zu nehmen.
Das stimmte zwar, aber Victor hatte nicht das Gefühl, überhaupt wegzugehen.
Die letzten Wochen anderer Sterbender sind für gewöhnlich von Ängsten und letzten Ritualen geprägt; Victor dagegen war damit beschäftigt, sein lediglich vorübergehendes Verschwinden aus dieser Welt zu planen. Und in diesem Plan war folgender Schritt enthalten:
An Silvester nahmen Victor und Grace gewöhnlich an einer Gala teil, bei der sie ihrer Wohltätigkeitsorganisation eine große Geldsumme spendeten, deren Höhe jeweils Rückschlüsse auf Victors Bilanzen in diesem Jahr zuließ.
»Du solltest hingehen, Grace«, hatte Victor am Vortag zu seiner Frau gesagt.
»Nein, das werde ich nicht tun.«
»Du musst den Scheck überreichen.«
»Ich werde dich nicht alleine lassen.«
»Es ist aber sehr wichtig, dass diese Geste nicht ausfällt.«
»Das kann auch jemand anderer für uns übernehmen.«
Victor behalf sich ein weiteres Mal mit einer Lüge.
»Mir würde aber viel daran liegen.«
»Warum?«, fragte Grace überrascht.
»Weil ich mir wünsche, dass diese Tradition erhalten bleibt. Ich möchte, dass du das dieses und nächstes Jahr und hoffentlich noch viele weitere Jahre machst: zur Gala gehen und den Scheck überreichen.«
Grace zögerte.
Die Gala war ursprünglich ihre Idee gewesen, doch Victor hatte nie Wert darauf gelegt und sich früher sogar darüber geärgert, dass er mitkommen musste.
Nun fragte sich Grace, ob er sich auf diese Weise für sein Verhalten entschuldigen wollte.
»Na schön«, sagte sie. »Ich geh hin.«
Er nickte, sichtlich erleichtert. »Alle werden froh darüber sein.«