69

Dor hustete.

Er schlug die Augen auf, als erwache er, obwohl er seit Tausenden von Jahren nicht geschlafen hatte.

Nachdem er mehrmals geblinzelt hatte, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag und Victor und Sarah sich über ihn beugten.

Während Dor sich zu besinnen versuchte, bombardierten die beiden ihn mit Fragen.

»Wer sind Sie?«

»Was ist hier los?«

Dor erinnerte sich an Farbwirbel, gefolgt von abrupter Finsternis, dem Sturz in die Tiefe mit dem Stundenglas … wo war es eigentlich?

Er sah, dass Sarah es in Händen hielt. Der Deckel war wieder geschlossen.

Da die beiden lebten, waren seine Vermutungen richtig gewesen.

Er konnte jetzt also …

Augenblick.

Hatte er gerade gehustet?

»Wie kommen Sie hierher?«, fragte Victor.

»Und ich?«, wollte Sarah wissen. »Bin ich unter Drogen gesetzt worden? Wo ist mein Haus? Und die Garage?«

»Wieso fühle ich mich gesund?«, fragte Victor.

Dor war völlig verwirrt. Er hatte gehustet. In der Höhle hatte er niemals gehustet oder geniest, nicht einmal heftig geatmet.

»Reden Sie mit uns«, verlangte Victor.

»Reden Sie mit uns«, echote Sarah.

Dor blickte auf seine rechte Hand, die er noch immer zur Faust geballt hatte. Seine Finger sahen wieder normal aus. Er öffnete die Hand.

Ein einziges Sandkorn lag darin.

In der Höhle hatte Dor auch ein Wellholz in die Felswand geritzt.

Als Symbol für die Geburt ihres ersten Kindes. In Dors Zeit arbeiteten die Hebammen bei schwierigen Geburten mit Massageöl und Wellholz. Alli hatte laut aufgeschrien, während die Hebammen das Wellholz zum Einsatz brachten und dabei für sie beteten. Das Kind kam gesund auf die Welt, und Dor hatte sich gefragt, wie ein derart schlichter Gegenstand – ein Wellholz, das man auch in den ärmsten Hütten vorfand – solch einen gewaltigen Vorgang wie eine Geburt beeinflussen konnte.

Ein Asu erklärte ihm später, dass nur ein Zauberwellholz solche Kräfte besäße. Und dass die Götter den Zauber wirkten. Wenn die Götter etwas berührten, würde das Gewöhnliche außergewöhnlich und das Schlichte wunderbar.

Ein Wellholz, um die Geburt eines Kindes einzuleiten.

Ein Sandkorn, um die Welt anzuhalten.

Nun blickte Dor auf ein junges Mädchen in einer Jogginghose und einen alten Mann im Bademantel, und ihm wurde bewusst, dass er durch die Magie der Elemente bis hierher gekommen war.

Alles Weitere lag nun in seinen Händen.

»Bitte sagen Sie etwas«, bat Sarah mit zittriger Stimme. »Sind wir tot?«

Dor rappelte sich hoch.

»Nein«, antwortete er.

Und zum ersten Mal seit sechstausend Jahren war er müde.

»Ihr seid beide nicht tot«, fuhr er fort. »Ihr befindet euch in der Mitte eines Augenblicks.«

Dor streckte die Hand aus, auf der das Sandkorn lag. »Dieses Augenblicks.«

»Was reden Sie da?«, sagte Victor.

»Die Welt wurde angehalten und damit auch euer beider Leben – obwohl eure Seelen jetzt hier sind.

Was ihr bis jetzt getan habt, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber was ihr nun tun werdet …«

Dor zögerte.

»Was?«, fragte Victor. »Was?«

»Das ist noch offen.«

Sarah und Victor warfen sich einen Blick zu.

Beide dachten an den letzten Augenblick, an den sie sich erinnern konnten.

Sarah im Auto, in sich zusammengesunken, die Lunge voll giftiger Abgase.

Victor in der Lagerhalle, kurz bevor man ihn auf Eis legen und zum medizinischen Experiment machen sollte.

»Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte Sarah.

»Ich habe dich getragen«, antwortete Dor.

»Und was passiert nun?«, fragte Victor.

»Es gibt einen Plan.«

»Was für einen Plan?«

»Er ist mir noch nicht bekannt.«

»Wie kann es einen Plan geben, wenn Sie ihn gar nicht kennen?«

Dor rieb sich mehrmals die Stirn und zuckte zusammen.

»Was ist los?«, fragte Sarah.

»Schmerzen.«

»Ich verstehe das nicht. Wieso sind wir in diese Lage geraten?«, fragte Victor.

»Weil euer Schicksal wichtig ist.«

»Wichtiger als das aller anderen Menschen?«

»Nein.«

»Wie haben Sie uns gefunden?«

»Ich habe eure Stimmen gehört.«

»Schluss!« Victor hob die Hände hoch. »Schluss mit diesem Blödsinn. Stimmen? Schicksal? Hören Sie doch auf! Wer sind Sie schon? Ein Angestellter in einem Uhrenladen!«

Dor schüttelte den Kopf. »In diesem Augenblick ist es nicht weise, nur mit den Augen zu urteilen.«

Victor wandte den Blick ab, versuchte sich selbst eine Erklärung zurechtzulegen, wie er es immer tat, wenn andere sich als unfähig erwiesen.

Dor hob den Kopf. Öffnete den Mund. Und sprach mit der Stimme eines neunjährigen französischen Jungen.

»Bitte mach, dass wieder gestern ist

Victor erkannte seine Kinderstimme und starrte Dor fassungslos an.

Dann wurde Dors Stimme tiefer.

»Noch ein Leben

Dor wandte sich zu Sarah.

»Es soll aufhören«, sagte er mit ihrer Stimme.

Sarah und Victor waren sprachlos. Woher kannte dieser Mann ihre geheimsten Wünsche?

»Bevor ich zu euch kam«, sagte Dor, »seid ihr zu mir gekommen.«

Sarah betrachtete ihn prüfend.

»In Wirklichkeit reparieren Sie gar keine Uhren, oder?«

»Mir ist es lieber, wenn sie nicht funktionieren«, antwortete Dor.

»Und warum?«, fragte Victor.

Dor blickte auf das Sandkorn in seiner Hand.

»Weil ich der Sünder bin, der sie erfunden hat.«

Der Stundenzaehler
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