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Dor schrie, hilflos und frustriert.
Was konnte er noch tun, außer das Stundenglas schräg zu halten? Er konnte die Zeit verlangsamen, aber er konnte sie nicht vollständig anhalten. Die Autos, die er erforscht hatte, waren weitergefahren, aber kaum wahrnehmbar. Und die Menschen, die er betrachtet hatte, hatten weitergeatmet – so langsam allerdings, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerken konnten.
Die Kraft des Stundenglases hatte es ihm ermöglicht, die Augenblicke zu dehnen, wie es ihm beliebte – eine ungeheure Macht. Doch das reichte nicht aus, merkte Dor jetzt. Die Zeit würde einfach weiter vergehen.
Irgendwann würde Victor mit Eis bedeckt und aufgeschnitten werden.
Irgendwann würde das Kohlenmonoxid in Sarahs Blutkreislauf eindringen, Sauerstoffmangel, Vergiftung, Herzversagen bewirken.
Dazu war Dor nicht auf die Erde geschickt worden – um diesen beiden beim Sterben zuzusehen.
Diese beiden Menschen waren Dors Mission, seine Bestimmung. Aber beide hatten extreme Maßnahmen ergriffen, bevor er etwas ausrichten konnte.
Er hatte versagt.
Es war zu spät.
Es sei denn …
Es ist niemals zu spät oder zu früh, hatte der Alte gesagt. Sondern immer so, wie es bestimmt ist.
Dor ging vor zwei Mülltonnen in die Hocke. Legte die Hände aneinander, presste sie an die Lippen, schloss die Augen, wie er es in der Höhle getan hatte, wenn er die Millionen anderer Stimmen ausblenden und sich auf seine innere Stimme konzentrieren wollte.
Immer so, wie es bestimmt ist.
Dieser Augenblick?
Doch wie konnte er in diesem Augenblick ausharren?
Dor dachte an alles, was er über die Zeit gelernt hatte.
Was war die Konstante?
Bewegung.
Ja. Zur Zeit gehörte auch immer die Bewegung: Die untergehende Sonne. Tropfendes Wasser. Die Uhrenpendel. Der rinnende Sand.
Um seine Bestimmung zu erfüllen, musste er jegliche Bewegung unterbinden! Er musste die Zeit vollständig anhalten …
Dor öffnete die Augen, richtete sich rasch auf. Hob Sarah aus dem Auto.
Das alte Jahr war fast zu Ende, das neue würde in wenigen Minuten beginnen. Vater Zeit trug das sterbende Mädchen hinaus, in die Schneeflocken, die im Mondlicht vom Himmel taumelten.
Er schritt durch die winterliche Stadt, zwischen Autos und festlich glitzernden Lichtern hindurch.
Sarahs Kopf lag an seiner Brust; unter halb geöffneten Lidern blickte sie zu ihm auf.
Das Mädchen tat ihm leid.
Eine Seele, die zu wenig Zeit verlangt. So hatte der Alte sie beschrieben.
Dor dachte an seine eigenen Kinder und fragte sich, ob sie jemals so unglücklich gewesen waren, dass sie die Welt freiwillig verlassen wollten. Er hoffte, dass ihnen das erspart geblieben war. Doch hatte er sich nicht selbst das Ende seines Lebens herbeigewünscht?
Er ging an einer Autobahn entlang, durch einen Tunnel, vorbei an einem vollbesetzten Parkplatz neben einem Stadion, an dem für eine SILVESTER HIP-HOP-PARTY geworben wurde.
Nach seiner Zeitrechnung marschierte Dor zwei Tage lang – nach unserer kaum eine Sekunde –, bis er zu einem dunklen Industriegebiet und zum Gebäude der Kryonik-Firma kam.
Er musste Sarah und Victor zusammenbringen. Vielleicht hatte der Alte das gemeint.
Wie es bestimmt ist.
Dor trug Sarah in das Lagerhaus mit den riesigen Behältern und setzte sie dort ab, an die Wand gelehnt. Dann ging er in den Raum, in dem Victor fürs Einfrieren vorbereitet wurde, hob ihn hoch und brachte auch ihn in das Lagerhaus, wo er ihn neben Sarah setzte. Er fühlte beiden den Puls und spürte nach einer Weile ein extrem langsames Pochen. Sie waren am Leben.
Vielleicht konnte seine Idee doch noch verwirklicht werden.
Dor ging vor den beiden in die Hocke, nahm ihre Hände und presste sie an das Stundenglas.
Er drückte ihre Finger fest an die geflochtenen Streben und hoffte, dass die beiden so mit der Quelle seiner Macht verbunden würden. Dann griff er nach dem Deckel des Stundenglases und zog fest daran.
Der Deckel löste sich und erhob sich, ein blaues Licht verströmend, in die Luft.
Als Dor in den oberen Kolben sah, blickte er direkt auf den feinen weißen Sand, der glitzerte wie Diamanten.
Hierin befindet sich jeder Augenblick des Universums.
Dor zögerte. Entweder hatte er Recht, und der Schluss seiner Geschichte blieb vorläufig offen. Oder aber er irrte sich, und sie endete genau jetzt.
Er brachte Daumen und Zeigefinger nahe zusammen, flüsterte »Alli« – falls er starb, sollte dies sein letztes Wort gewesen sein – und stieß seine Hand in den Sand, bis zu der schmalen Öffnung, die beide Kolben verband.
Sofort wirbelten Millionen von Bildern durch seinen Kopf. Das Fleisch schmolz von seinen Fingern, und sie verwandelten sich in nadeldünne Stöckchen, die sich nun durch die schmale Öffnung zwängten. Jeder Augenblick des Universums raste durch Dors Geist, als er die Reise antrat und alles durchlebte, was bereits geschehen war und was dereinst geschehen würde.
Schließlich presste Dor mit einer Kraft, die nicht menschlich war, seine beiden nadeldünnen Fingerspitzen zusammen.
In seinen Augen explodierten Farben.
Sein Kopf wurde nach hinten gerissen.
Er hatte ein einziges Sandkorn ergriffen, kurz bevor es am Boden auftraf.
Und nun geschah Folgendes …
Von Los Angeles bis Tripolis erstarrten an den Küsten Wellen im Moment des Überschlags.
Wolken verharrten an Ort und Stelle. In Mexiko hingen Regentropfen in der Luft fest, und ein Sandsturm in Tunesien gefror zu einem reglosen Wirbel.
Es gab keine Geräusche mehr auf der Welt. Flugzeuge hingen lautlos über Landebahnen. Raucher blieben umhüllt von ihren eigenen Qualmwolken. Telefone waren tot, Bildschirme schwarz. Niemand sprach, niemand atmete. Tag und Nacht veränderten sich nicht mehr, und das Silvesterfeuerwerk in New York sprenkelte den Himmel so bunt, als habe ein Kind das Firmament bemalt und sei dann weggelaufen.
Niemand wurde geboren.
Niemand starb.
Niemand kam näher.
Niemand ging weg.
Die Zeit schritt nicht mehr voran.
Ein Mann.
Ein Sandkorn.
Vater Zeit hatte die Welt angehalten.