9

Nach Nims Besuch an diesem Abend stiegen Dor und Alli auf einen Hügel, um den Sonnenuntergang zu betrachten.

Das taten sie beinahe jeden Abend, und dann erinnerten sie sich gemeinsam an ihre Kinderzeit, als sie noch zusammen Haschen gespielt hatten. Doch diesmal blieb Dor stumm. Er hatte mehrere Schalen und einen Krug Wasser dabei. Als sie sich gesetzt hatten, berichtete er Alli von Nims Besuch.

Sie begann zu weinen.

»Aber wo sollen wir nun hingehen?«, fragte sie. »Hier haben wir unser Heim, unsere Familie. Wie sollen wir überleben?«

Dor blickte unter sich.

»Willst du, dass ich Sklave dieses Turms werde?«

»Nein.«

»Dann haben wir keine Wahl.«

Er berührte ihre Tränen und wischte sie fort.

»Ich habe Angst«, flüsterte Alli.

Sie schlang die Arme um ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Das tat sie jeden Abend, und wie die meisten kleinen Gesten der Liebe hatte auch diese eine große Wirkung. Dor fühlte sich sofort geborgen, und er wusste, dass kein anderer Mensch ihn jemals so lieben und verstehen würde wie Alli. Er barg sein Gesicht in ihrem langen dunklen Haar und atmete so tief ein, wie er nur in ihrer Nähe atmen konnte.

»Ich werde dich beschützen«, versprach er.

Lange saßen sie so da und blickten zum Horizont.

»Schau«, flüsterte Alli. Sie liebte die Farben des Sonnenuntergangs – das Orange, die weichen Rosétöne, das leuchtende Rot.

Dor stand auf.

»Wohin gehst du?«, fragte Alli.

»Ich muss etwas ausprobieren.«

»Bleib bei mir.«

Aber Dor trat zu den Felsen. Er goss Wasser in eine kleine Schale, stellte sie in eine größere. Nahm die Tonkugel heraus, mit der das Loch in der oberen Schale – über die Nim sich lustig gemacht hatte – verschlossen gewesen war. Das Wasser begann herauszutropfen.

»Dor?«, flüsterte Alli.

Er schaute nicht auf.

»Dor?«

Alli schlang die Arme um die Knie. Was soll nur aus uns werden?, dachte sie. Wo sollen wir hingehen? Sie ließ den Kopf sinken und schloss die Augen.

Hätte damals schon jemand Geschichte geschrieben, so hätte er wohl vermerkt: Die Frau des Erfinders der allerersten Uhr vergoss einsame Tränen, während er mit Zählen beschäftigt war.

Dor und Alli verbrachten die ganze Nacht auf diesem Hügel.

Alli schlief. Doch Dor kämpfte gegen die Müdigkeit an, weil er wach sein wollte, wenn die Sonne aufging. Er sah zu, wie das Schwarz der Nacht wich und der Himmel sich erst dunkelviolett und dann tiefblau färbte. Als die Sonne über dem Horizont erschien wie die goldene Pupille eines Auges, tauchten ihre Strahlen die Welt in helles, beinahe weißes Licht.

Wäre Dor weiser gewesen, so hätte er die Schönheit des Sonnenaufgangs bestaunt und wäre dankbar gewesen, dass er dieses Wunder miterleben durfte. Doch Dor hatte kein Auge für diesen Zauber – er war nur interessiert daran, dessen Dauer zu messen. Als die Sonne verschwand, nahm er die untere Schale beiseite und ritzte mit einem scharfkantigen Stein eine Linie in den Ton, um den Wasserstand zu markieren.

Daran, so schloss er – an dieser Menge Wasser –, ließ sich die Zeit zwischen Dunkelheit und Licht ablesen. Von nun an würde niemand mehr für die Rückkehr des Sonnengottes beten müssen. Anhand dieser Wasseruhr würden die Menschen wissen, dass der Sonnenaufgang nahte, wenn die Wassermenge größer wurde. Nim irrte sich. Es gab keinen Götterkampf zwischen Tag und Nacht. Dor hatte beide in einer Schale eingefangen.

Er goss das Wasser aus.

Auch das entging Gott nicht.

Der Stundenzaehler
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