18

In den naturwissenschaftlichen Fächern war Sarah Lemon ein As.

Und was habe ich davon?, fragte sie sich oft. In der Schule zählte nur, wie beliebt man war, und das lag vor allem am Aussehen. Das war aber genau das Problem. Wenn Sarah, für die jede Biologieklausur ein Kinderspiel war, vor dem Spiegel stand, war sie mit ihrem Anblick ausgesprochen unzufrieden: Ihre nussbraunen Augen standen zu weit auseinander, ihre Haare waren trocken und wellig, zwischen den Schneidezähnen hatte sie eine Lücke, und die Speckröllchen, die sie sich nach der Trennung ihrer Eltern angefuttert hatte, war sie nicht mehr losgeworden. Obenherum hatte sie genügend zu bieten, fand Sarah, dafür aber untenherum zu viel. Außerdem hatte eine Freundin ihrer Mutter gesagt, Sarah würde »bestimmt einmal hübsch werden«, was wohl eher kein Kompliment war.

Im letzten Jahr der Oberschule war Sarah Lemon siebzehn Jahre alt und wurde von den meisten ihrer Altersgenossen als zu klug und zu sonderbar oder als beides zugleich betrachtet. Der Unterricht stellte keine Herausforderung für sie dar; sie setzte sich absichtlich ans Fenster, weil sie mit der Langeweile zu kämpfen hatte. Deshalb zeichnete sie häufig nebenbei Porträts von sich selbst mit Schmollschnute, und schirmte sie mit dem Ellbogen ab, um sie vor ihren Nachbarinnen zu verbergen.

In den Pausen blieb sie für sich, ging nach der Schule alleine nach Hause und verbrachte die Abende zuhause in Gesellschaft ihrer Mutter, sofern Lorraine nicht ausging, um sich mit den schnatternden Freundinnen zu treffen, die Sarah als »den Scheidungsklub« bezeichnete. Sarah aß dann alleine vor dem Computer.

Sie war die drittbeste Schülerin ihrer Klasse und hatte bereits einen Zulassungsantrag für eine nahe gelegene Universität gestellt – die einzige Uni, die Lorraine sich leisten konnte.

Dieser Antrag hatte Sarah zu dem Jungen geführt.

Er hieß Ethan.

Ethan war groß und schlaksig, hatte verträumte Augen und dichtes kaffeebraunes Haar. Er war auch in der letzten Oberschulklasse und immer umschwärmt von guten Freunden beiderlei Geschlechts. Gehörte der Leichtathletikmannschaft an. Spielte in einer Band. In der Astronomie einer Oberschule wäre Sarah niemals in seine Umlaufbahn geraten.

Doch samstags entlud Ethan Essenslaster für ein Obdachlosenheim – wo auch Sarah arbeitete, weil sie für ihre Unibewerbung einen Bericht über eine »gemeinnützige Tätigkeit« vorlegen musste. Da sie auf diesem Gebiet bislang keinerlei Erfahrungen aufzuweisen hatte, war sie in dem Heim vorstellig geworden, wo man sie mit Freuden angenommen hatte. Sie hielt sich allerdings am liebsten in der Küche auf und füllte den Haferbrei in Schalen, weil sie sich zwischen den Obdachlosen ziemlich fehl am Platz fühlte (eine Oberschülerin mit Daunenjacke und iPhone? Was sollte sie zu diesen Menschen sagen außer »tut mir leid für Sie«?).

Doch dann erschien Ethan auf der Bildfläche. Er fiel ihr gleich an seinem ersten Arbeitstag auf, als er neben dem Laster stand – sein Onkel besaß einen Lebensmittelhandel –, und er bemerkte sie, weil sie die einzige andere Person in seinem Alter war. Als er einen Karton auf den Küchentresen stellte, sagte er: »Hey, alles klar?«

Sarah bewahrte diese Worte in ihrem Herzen wie ein Andenken. »Hey, alles klar?« Die ersten Worte, die er zu ihr gesprochen hatte. Von da an unterhielten sie sich jede Woche. Einmal bot Sarah ihm eine Packung Erdnussbuttercracker aus dem Regal an, und Ethan sagte: »Nee, ich möchte den Leuten hier nichts wegessen«, was sie sehr sympathisch und beeindruckend fand.

Die Begegnung mit Ethan betrachtete Sarah nun als Fügung für ihr Leben, wie junge Mädchen das mit Jungen häufig tun. Fern der Schule mit ihren festgeschriebenen sozialen Regeln fühlte Sarah sich jetzt selbstsicherer, hielt sich aufrechter, trug seltener ihre üblichen T-Shirts mit Weltverbesserer-Slogans, sondern häufiger feminine Tops mit tiefem Ausschnitt. Wenn Ethan dann in Anspielung auf ihren Nachnamen zu ihr sagte: »Hübsches Outfit heute, Lemonade«, errötete sie.

Nach einigen Wochen war Sarah kühn genug zu glauben, dass Ethan für sie dieselben Gefühle hegte wie sie für ihn …

… und dass ihre Begegnung an diesem ungewöhnlichen Ort kein Zufall war. In Büchern wie Zadig von Voltaire oder Paolo Coelhos Alchimist hatte sie Schilderungen des Schicksals gefunden, und sie war zu der Überzeugung gelangt, dass die Fügung auch in ihrem Leben die Hand im Spiel hatte. In der Vorwoche hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und Ethan gefragt, ob er Lust hätte, mit ihr auszugehen, und er hatte gesagt: »Ja, warum nicht, wie wär’s mit Freitag?«

Nun war dieser Freitag gekommen.

Halb neun, halb neun!

Sarah ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass sie sich lieber nicht zu sehr in einen Jungen vergucken sollte. Aber Ethan war anders. Ethan veränderte die alten Muster ihres Lebens.

In ihrem himbeerroten T-Shirt, der schwarzen Jeans und den hochhackigen Pumps war sie nur noch zwei Straßen von der großen Begegnung entfernt, als ihr Handy den Piepton für eine SMS von sich gab.

Ihr Herz tat einen Sprung.

Die Nachricht war von Ethan.

Der Stundenzaehler
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