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Wenn Kinder größer werden, wachsen sie ihrer Bestimmung entgegen.

So war es auch bei Dor, Nim und Alli, den drei Kindern auf jenem Hügel.

Nim wurde kräftig und breitschultrig …

… und schleppte Lehmziegel für seinen Vater, einen Baumeister. Nim fand Gefallen daran, dass er stärker war als andere Jungen. Und Macht begann ihn zu faszinieren.

Alli wurde sehr schön …

… und ihre Mutter wies sie an, ihr dunkles Haar zu Zöpfen zu flechten und den Blick gesenkt zu halten, damit ihr Liebreiz nicht die unziemlichen Gedanken der Männer auf den Plan rief. Bescheidenheit wurde Allis Schutzmittel.

Und Dor?

Nun, Dor wurde zum Zähler der Dinge. Er markierte Steine, er schnitzte Kerben in Stöcke, er sammelte Zweige, Kiesel und alles andere, was sich zählen ließ. Oft versank er in Tagträumen und dachte über Zahlen nach, und seine älteren Brüder gingen ohne ihn zur Jagd.

Dor rannte unterdessen mit Alli die Hügel hinauf, und sein Geist lief vorneweg und winkte ihm, damit er hinterherkam.

Und dann, an einem heißen Tag, geschah etwas Seltsames.

Dor, der nach unserer Zählweise nun ein Teenager war, saß auf der Erde und steckte einen Stab in den Boden. Die Sonne war hell und stark, und Dor bemerkte den Schatten des Stocks.

Er legte einen Stein ans Ende des Schattens. Dabei sang er vor sich hin und dachte an Alli. Sie kannten sich seit früher Kindheit, doch nun war er größer, und sie war sanfter, und wenn sie den Blick hob, um ihn anzusehen, wurde etwas in ihm ganz schwach, und er fühlte sich, als würde er geschubst.

Eine Fliege surrte vorüber und riss ihn aus seiner Träumerei.

»Ahhh«, sagte er und verscheuchte sie.

Als er wieder auf den Stock blickte, reichte der Schatten nicht mehr bis zum Stein.

Dor wartete, aber der Schatten wurde immer kürzer, weil die Sonne am Himmel höher wanderte. Er beschloss, den Stock stehen zu lassen und morgen an diese Stelle zurückzukehren. Und wenn der Schatten morgen wieder den Stein erreichen würde, würde dieser Augenblick … derselbe sein wie heute.

Ob es wohl jeden Tag diesen Augenblick gab, in dem Schatten, Stock und Stein verbunden waren?, sinnierte er. Diesen Augenblick wollte er nach Alli benennen und jeden Tag an diesem Punkt an sie denken.

Dor war ziemlich stolz auf sich und schlug sich auf die Stirn.

Und so begann der Mensch, die Zeit zu messen.

Die Fliege kehrte zurück.

Dor verscheuchte sie erneut. Doch dieses Mal verwandelte sie sich in einen langen schwarzen Streifen, der sich zu einer dunklen Höhle auswuchs.

Heraus trat ein alter Mann mit einem weißen Umhang.

Dor riss entsetzt die Augen auf. Er wollte schreien und fortlaufen, doch sein Körper rührte sich nicht.

Der Alte hielt einen Stab aus goldenem Holz in der Hand. Er stieß Dors Sonnenstock an, worauf dieser sich aus der Erde erhob und zu einer langen Reihe von Wespenleibern wurde. Die Wespen bildeten einen neuen Streifen Dunkelheit, der sich öffnete wie ein aufgezogener Vorhang.

Der Alte trat hindurch.

Und war verschwunden.

Dor rannte davon.

Er erzählte niemandem von dieser Begegnung.

Nicht einmal Alli.

Erst ganz am Ende.

Der Stundenzaehler
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