52

Auch nach der Beerdigung hoffte der kleine Victor noch, dass sein Vater vielleicht eines Tages auf magische Weise zurückkehren würde …

… gerade so, als gehörten der Priester, die weinende Trauergemeinde und der hölzerne Sarg eben dazu, wenn Erwachsene verunglückten. Als seien sie notwendige Ärgernisse, die man über sich ergehen lassen musste, bevor der Erwachsene endlich zurückkam und alles wieder wurde wie vorher.

Er fragte seine Mutter danach.

Sie sagte, er solle beten, vielleicht fände Gott eine Möglichkeit, sie alle drei wieder zu vereinen. Sie knieten gemeinsam vor einem kleinen Kamin, und seine Mutter legte ihnen beiden ein Tuch über die Schultern. Dann schloss sie die Augen und murmelte etwas.

Victor tat es ihr gleich. Er sagte: »Bitte mach, dass wieder gestern ist und Papa nach Hause kommt.«

Weit entfernt in einer Höhle stiegen die Worte des Jungen aus einem leuchtenden Teich auf. Es gab dort Millionen anderer Stimmen, doch die Bitten eines Kindes dringen leichter an unser Ohr als andere, und Dor berührte dieser simple Wunsch sehr. Kinder bitten selten darum, dass die Zeit zurückgedreht wird. Im Gegenteil: Meist können sie nicht erwarten, dass die Zeit schneller vergeht. Dass die Schulglocke läutet. Dass der Geburtstag endlich kommt.

»Bitte mach, dass wieder gestern ist.«

Dor erinnerte sich an Victors Stimme. Zwar werden Stimmen mit dem Alter tiefer, doch für jemanden, der dazu verdammt ist, ihnen bis in alle Ewigkeit zu lauschen, sind sie so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. In dem Augenblick, in dem Victor ihn im Uhrenladen ansprach, wusste Dor, wer da vor ihm stand.

Er wusste jedoch nicht, dass das Kind, das damals die Zeit zurückdrehen wollte, sich nun die Zukunft anzueignen gedachte.

Victor betete nie wieder.

Nachdem seine Mutter von der Brücke gesprungen war, verzichtete er auf Gebete und Bitten um mehr Zeit.

Als er nach Amerika kam, stellte er rasch fest, dass diejenigen, die ihre Zeit nutzten, reich wurden. Deshalb arbeitete Victor hart, beschleunigte sein Leben und gewöhnte sich ab, an seine Kindheit zu denken.

Erst jetzt, in seinem Büro hoch oben über der Stadt, wurde er von einem seltsamen Fremden wieder daran erinnert.

»Als Sie ein Kind waren, haben Sie um etwas gebeten«, fuhr der Lehrling fort. »Ich habe das gehört. Sie wollten Zeit.«

»Wovon reden Sie?«

Der Lehrling wies auf die Taschenuhr.

»Wir sehnen uns alle nach dem, was wir verloren haben. Doch manchmal vergessen wir darüber das, was wir haben.«

Victor blickte auf das Bild der Familie auf dem Uhrgehäuse.

Als er aufblickte, war der Lehrling verschwunden.

»Hey!«, schrie Victor, der annahm, es handle sich um einen Trick. »Hey! Kommen Sie zurück!«

Victor steuerte seinen Rollstuhl zur Tür.

Draußen kamen bereits Charlene, seine Sekretärin, und sein Assistent Roger angelaufen.

»Alles in Ordnung, Mr. D?«, fragte Charlene.

»Haben Sie hier grade einen Mann rausrennen sehen?«

»Einen Mann?«

Victor registrierte ihre besorgte Miene.

»Nicht wichtig«, sagte er verlegen. »Muss wohl ein Irrtum gewesen sein.«

Er schloss die Tür. Sein Herz hämmerte wie wild. Gab sein Gehirn jetzt den Geist auf? Er fühlte sich vollkommen außer sich, was er nicht von sich kannte.

Das Telefon klingelte und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Es war Grace, die wissen wollte, wann er nach Hause kam. Sie machte Essen.

Er seufzte.

»Ich weiß nicht, ob ich dieses Zeug essen kann, Grace.«

»Komm doch erst mal heim, dann sehen wir weiter.«

»Okay.«

»Stimmt etwas nicht?«

Victor schaute auf die Taschenuhr und musste unwillkürlich an seine Eltern denken. Er sah ihre Gesichter vor sich, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Das machte ihn wütend.

Er musste sich beherrschen.

»Ich werde mit der Dialyse aufhören, Grace.«

»Was?«

»Sie ist sinnlos.«

»Das kannst du nicht machen, Victor …«

Grace verstummte. Dann sagte sie: »Wenn du das tust …«

»Ich weiß.«

»Warum?« Ihre Stimme klang zittrig, und er merkte, dass sie weinte.

»Das ist doch kein Leben. Ich bin von einer verfluchten Maschine abhängig. Du weißt ja, was die Ärzte gesagt haben.«

Er hörte, wie Grace tief einatmete.

»Grace?«

»Komm erst einmal nach Hause, dann können wir darüber sprechen, ja?«

»Meine Entscheidung ist gefallen.«

»Wir können doch darüber reden.«

»Okay, aber ich will nicht darüber diskutieren

Victor hätte diesen Satz lieber im Zusammenhang mit seinem anderen Plan – dem Einfrieren für ein neues Leben – benutzt. Doch er wusste, dass Grace sich darauf erst recht nicht einlassen würde. Deshalb brachte er ihn jetzt zum Einsatz.

»Ich will nicht diskutieren«, flüsterte sie. »Komm einfach nach Hause.«

Der Stundenzaehler
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