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Mit geschnittenen Haaren und in moderner Kleidung sah Dor eher wie jemand aus diesem Jahrhundert aus …
… und mithilfe des Stundenglases hielt er sich nun für längere Zeiträume in der Realität auf, um sich wichtige Dinge anzueignen. In einer Sprachschule erlernte er das Alphabet und das Buchstabieren. Und da Vater Zeit ohnehin schon alle Sprachen der Welt verstehen konnte, fielen ihm die nächsten Schritte nicht schwer.
Als er lesen gelernt hatte, besaß er den Zugang zu allem Wissen.
Dor begab sich in eine Bibliothek in Madrid und studierte über ein Drittel der dort vorhandenen Werke. Er beschäftigte sich mit Geschichte und Literatur, betrachtete Landkarten und Fotobände. Durch das Stundenglas brauchte er dafür nur wenige Minuten, während in der Normalzeit Jahrhunderte vergangen wären.
Als Dor aus der Bibliothek trat, stellte er das Stundenglas aufrecht und sah zu, wie die Nacht hereinbrach. Fasziniert beobachtete er, wie der Mensch durch die Elektrizität den Tag verlängerte. Dor kannte nur Öllampen und Feuer als künstliches Licht. Nun wandelte er durch Straßen, die durch Lampen hell erleuchtet waren, und blieb die ganze Nacht wach, um immer wieder staunend zu den Laternen aufzublicken.
Am Morgen hielt er die Sonne an …
… und wanderte durch die spanischen Ebenen, überquerte den größten Fluss Frankreichs und schritt durch die Wälder von Belgien und Deutschland. Er sah historische Ruinen, moderne Sportstadien, betrachtete Hochhäuser, Kirchen, Einkaufszentren.
Und überall untersuchte Dor die Zeitmessinstrumente. Der Alte hatte Recht. Dor hatte die Zeit als Erster gemessen, doch die Menschheit hatte sein einfaches System aus Stäben und Schalen weiterentwickelt und eine Vielzahl von Gerätschaften geschaffen.
Dor machte sich mit allen vertraut.
In einem Museum unweit der Hüttenstraße in Düsseldorf zerlegte er alle historischen Uhren und untersuchte die Federn und Spulen, während der erstarrte Aufseher nur wenige Meter von ihm entfernt war.
Auf einem Flohmarkt in Frankfurt entdeckte Dor einen Radiowecker, bei dem man die Zeit vor- und zurückschalten konnte, wenn man bestimmte Knöpfe gedrückt hielt. Dor drückte den Rückwärtsknopf und sah zu, wie die Zeit verschwand. Mittwoch, Dienstag, Montag, und Dor dachte sich, wie schön es wäre, wenn er die Zeit so lange zurückschalten könnte, bis er wieder zuhause wäre.
Du bist der Vater der irdischen Zeit.
Konnte er wahrhaftig für all das verantwortlich sein? Dor dachte an die Jahrtausende, in denen er in der Höhle gefangen gewesen war. Und fragte sich, ob jeder Mensch, der die Uhr im Auge behält, dafür bestraft wird.
Schließlich erreichte er die Küste.
Dort stieß er in dem Ort Westerhever in Deutschland auf einen Leuchtturm. Er hatte etwas gelesen über Leuchttürme und die Nordsee. Dor hielt das Stundenglas aufrecht, um die Wellen beobachten zu können. Dann verlangsamte er die Zeit wieder.
Seine Ausbildung in der modernen Welt war vollendet. Dor hatte hundert Jahre lang einen einzigen Tag erforscht.
Er horchte auf den Wind. Hörte, was er hören musste.
»Noch ein Leben.«
»Es soll aufhören.«
Dor watete in das stille Wasser.
Und begann zu schwimmen.