Kapitel 30
Und dann war er Ende Juni plötzlich da, der Tag der Gerichtsverhandlung. Alle, die der Posthalter vernommen hatte, sowie Karini, waren vom Gericht geladen worden und befanden sich im Saal. Der Gang war für alle schwer, die meisten von ihnen hatten sich nie zuvor in einer solchen Situation befunden. Julie sah mit Erleichterung, dass Henry keine Fesseln mehr trug, als er aus einer Seitentür in den Verhandlungssaal geführt wurde. Er machte sogar einen sehr ruhigen Eindruck, wenn man davon absah, dass er nicht einmal zu ihr hinblickte. Er hielt den Kopf gesenkt, wie in Gedanken versunken.
Der ehrenwerte Richter Flavius van Parkensteen ging behäbig zu seinem Platz, rückte seine weiß gelockte Perücke zurecht und ließ seinen Blick im Saal umherwandern. Julies Nervosität stieg.
»Wie ich hörte«, eröffnete er die Sitzung, »sind nun alle Personen, die zu dem bedauerlichen Tod von Pieter Brick etwas zu sagen haben, anwesend.« Er warf Henry einen Blick zu, den Julie nicht zu deuten vermochte.
Jetzt räusperte sich der Gerichtsdiener und erhob sich langsam von seinem Stuhl rechts neben Richter van Parkensteen. Bedächtig faltete er ein Blatt Papier auseinander und begann vorzulesen: »Anwesend sind heute die nachfolgend namentlich genannten Personen: Juliette Riard, verwitwete Leevken, geborene Vandenberg; Jean Riard, der ihr angetraute Ehemann; Henry Leevken, Sohn von Juliette Riard aus erster Ehe; Martin Brick, Sohn des Verstorbenen und Enkelsohn von Juliette Riard aus erster Ehe; Thijs Marwijk, Besitzer der Plantage Watervreede, dem Tatort; des Weiteren eine ehemalige Sklavin der Plantage Rozenburg namens Aniga; die Kontraktarbeiter namens Sarina, Inika und Bogo.« Er hielt inne und blickte kurz auf, bevor er fortfuhr: »Die Ehefrau des Beklagten, Karini Leevken, geborene Rozenberg, sowie als weitere Zeugen Wim Vandenberg und Erika Bergmann.«
Als der Gerichtsdiener das Blatt schließlich beiseitelegte, schauten alle verlegen in die Runde. Besonders die alte Aniga kauerte ganz hinten im Saal, sie fühlte sich sichtlich unwohl. Julie hatte ihr mehrfach versichert, dass sie nichts zu befürchten habe, Aniga aber schien sich nicht von den Erinnerungen an den jahrelangen Gebrauch der Peitsche, insbesondere im Zusammenhang mit offiziellen Stellen, befreien zu können.
Der Gerichtsdiener räusperte sich, als wolle er sich die Aufmerksamkeit sichern. Dann nahm er ein weiteres Blatt Papier in die Hand und holte tief Luft: »Die bisherigen Ermittlungsergebnisse haben Folgendes ergeben: Ich beginne mit den angegebenen Aufenthaltsorten in der Tatnacht. Jean und Juliette Riard – in ihrem Schlafgemach; Martin Brick – Schlafgemach; Thijs Marwijk – Schlafgemach; Henry Leevken – auf dem Weg zur Plantage Rozenburg.« Juliette bemerkte beunruhigt, dass der Richter Henry einen abschätzenden Blick zuwarf. Sie knetete nervös ihr Taschentuch. Das hier gefiel ihr überhaupt nicht.
Der Gerichtsdiener fuhr im gleichen, fast schon leiernden Tonfall fort: »Kontraktarbeiter Sarina, Inika, Bogo – in ihrer Kammer; nicht auf der Plantage anwesend: Hausmädchen Karini Leevken, ehemals Rozenberg, deren Aufenthaltsort: Plantage Rozenburg. Anzumerken: Thijs Marwijk sowie die Kontraktarbeiterin Sarina waren zur Tatzeit schwer erkrankt und bettlägerig.«
Der Richter nickte dem Gerichtsdiener kurz zu, der sich daraufhin setzte. Julies Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Richter räusperte sich und begann zu sprechen: »Es haben sich durch die Befragung der Zeugen folgende Erkenntnisse ergeben: Thijs Marwijk und die Kontraktarbeiterin Sarina scheiden als Täter aus, sie waren nicht in der Lage, das Bett zu verlassen, obwohl sie durchaus ein Motiv hatten, Pieter Brick zu töten. Pieter Brick wird unter anderem vorgeworfen, ihre Erkrankung mutwillig herbeigeführt zu haben. Dies wird bestärkt durch Aussage der Heilerin namens Aniga sowie durch die Beobachtung des ehemaligen Hausmädchens Karini, die auch als Verdächtige ausgeschlossen werden kann, da sie zur Tatzeit nicht mehr auf der Plantage Watervreede anwesend war.« Er ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten und fuhr dann mit ernster Stimme fort: »Wie gesagt: Es wird bestärkt, konnte aber nicht bewiesen werden. Damit bleiben folgende Personen unter Verdacht: Martin Brick gab an, zur Tatzeit in seinem Bett gewesen zu sein, dafür gibt es keine Zeugen. Jean und Juliette Riard waren ebenfalls auf ihrem Zimmer und bezeugen dies gegenseitig. Die Kontraktarbeiterin Inika befand sich mit ihrem Mann und ihrer Mutter ebenfalls in einem Raum. Henry Leevken«, der Richter nickte in Henrys Richtung, »dessen Befragung ich vor zwei Tagen selbst durchführen konnte, war zur Tatzeit nicht anwesend.« Er hielt kurz inne, und Julie meinte, vor Spannung platzen zu müssen. »Mijnheer Leevken«, nochmals fixierte der Richter Henry mit seinem Blick, »ich bedaure noch einmal die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen mit Ihrer Verhaftung bereitet haben.«
Julie verstand nicht, was der Richter damit sagen wollte. Wurde Henry jetzt doch nicht mehr beschuldigt?
Der Richter blätterte in einem Stapel Papier, der vor ihm lag. Dann stützte er sich auf die Ellenbogen und räusperte sich erneut. Die Stimmung war angespannt, niemand im Saal bewegte sich.
»Durch die Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bleibt letztendlich nur eine Verdächtige – die auch ein Motiv hatte.«
Julie hatte das Gefühl, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen, und zwang sich zur Ruhe. Sie warf einen Blick zu ihrem Sohn, der nun zusammengesackt auf seinem Stuhl saß und auf seine Knie starrte.
»Juliette Riard.«
Julie traute ihren Ohren nicht. Als sie jetzt ihren Namen hörte, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie spürte den Blick des Richters und aller anderen auf sich und schrumpfte auf ihrem Stuhl zusammen.
»Ich? Aber …«
»Sch, sch … sag erst einmal nichts«, hörte sie Jean von der Seite flüstern. Sie blickte ihn an, tiefe Sorgenfalten hatten sich auf seiner Stirn gebildet.
»Mevrouw Riard. Punkt eins: Wir sind bei unseren Nachforschungen bezüglich des tragischen Ablebens Ihres ersten Mannes auf gewisse Ungereimtheiten gestoßen. Insbesondere, was die Erbfolge auf der Plantage betrifft. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Sohn Henry nicht das leibliche Kind Ihres verstorbenen Ehemannes Karl Leevken, sondern der Sohn Ihres jetzigen Mannes ist?«
Julie senkte beschämt den Blick, der Richter schien dies als stumme Zustimmung zu werten.
»Zunächst ist davon auszugehen, dass Pieter Brick, als Ihr Schwiegersohn und damals noch praktizierender Arzt, dies gewusst hat und dass es sich nachfolgend bei dem Unglück, das Ihrem Mann zugestoßen war, womöglich nicht um einen Unfall gehandelt hat und …«
Julie wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hatte diese Geheimnisse so lange gehütet und gehofft, dass sie sie niemals heimsuchen würden. Es wussten nur äußerst wenige Menschen davon, wie also hatte der Richter davon erfahren können? Ihr Blick wanderte zu Henry, der den Kopf hängen ließ. Nein, ihr Sohn hatte nicht verraten, was er wusste, ebenso wenig wie ihr Mann, da war sie sich sicher. Blieb noch Pieter, aber er war tot. Es sei denn, er hatte Martin gegenüber irgendwann eine Bemerkung fallen lassen. Sie wandte den Kopf ruckartig in dessen Richtung, Martin aber saß mit versteinerter Miene neben Inika und wich ihrem Blick aus. Martin also. In Julies Kopf kreisten die Gedanken wild durcheinander.
»Wir erwarten ein Kind«, hatte er Julie mit Inika an der Hand kurz und knapp vor wenigen Wochen mitgeteilt. Seitdem hatte er sich im Stadthaus nicht mehr sehen lassen. Julie war das Gefühl nicht losgeworden, dass Martin irgendetwas sehr belastete, und das war sicherlich nicht der Tod seines Vaters gewesen. War es die Tatsache, dass sie jetzt unter Verdacht gestellt wurde? Das würde zumindest seine Zurückhaltung in den letzten Wochen erklären. Aber der Richter war noch nicht fertig.
»Aber Letzteres soll nicht Gegenstand dieser Verhandlung sein – es geht darum, den Mörder von Pieter Brick auszumachen. Stimmt es, Mevrouw Riard«, fuhr der Richter fort, »dass der Vater Ihres Sohnes Henry nicht Karl Leevken, sondern Ihr jetziger Mann, Jean Riard, ist?«
Julie schluckte schwer, so hatte Henry es nicht erfahren sollen. Dennoch war es Zeit für die Wahrheit. »Ja«, antwortete sie mit dünner Stimme. Dann sah sie zaghaft zu ihrem Sohn hinüber. Henry hielt den Blick starr nach unten gerichtet. Der Richter fuhr fort.
»Dann gehe ich auch recht in der Annahme, dass das Erbe, das Sie und Ihr Sohn auf der Plantage Rozenburg angetreten haben, nicht rechtens war? Und dass Sie das wussten?«
»Ja.« Julie kullerten Tränen über die Wange.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Pieter Brick über all dies informiert war?«
»Ja.«
»Wusste sonst noch jemand, außer Ihrem jetzigen Mann, in Bezug auf die Vaterschaft von diesem Umstand?«
Julie sah irritiert auf. »Nein!«
Der Mund des Richters wurde von einem leichten Lächeln umspielt. »Das ist wichtig zu wissen«, sein Blick schwenkte durch den Saal, »denn es gab nur eine Person, die uns bei den Befragungen auf diesen Umstand hingewiesen hat, und von wem hätte sie es wissen können, wenn nicht von Pieter Brick selbst?«
Der Blick des Richters heftete sich auf Inika.
Julie war verwirrt. Inika?
Sarina stieß einen kurzen Schrei aus und Martin sprang entsetzt auf. »Du hast … Du hast das ausgesagt?«, seine Stimme war spitz und schrill.
»Mijnheer Brick, bitte setzen Sie sich. Wussten Sie auch davon?«
Julie sah, wie Martin sich sichtlich wand. »Ja, nein … doch«, gab er schließlich kleinlaut zu.
»Wann hat Ihnen das Arbeitermädchen davon erzählt – vor oder nach der besagten Nacht?«
Martin wurde rot. »Danach!«, rief er energisch. »Lange, nachdem mein Vater getötet wurde.« Er spie die letzten beiden Worte förmlich aus und rückte auf seinem Stuhl so weit wie möglich von Inika weg.
Der Richter bedachte Inika mit einem langen Blick. »Also, Inika, sagen Sie uns, woher Sie das wussten? Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie zu Pieter Brick etwas mehr Kontakt hatten als nur als … Hausmädchen?«
Julie sah, wie Inika sich hektisch umblickte. Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie sah aus wie ein weidwundes Tier, das in der Falle saß und hektisch einen Fluchtweg suchte.
Dem Richter schien dies Genugtuung zu bereiten. »Waren Sie in der besagten Nacht im Kochhaus?«
Inika schüttelte den Kopf, wurde aber deutlich bleich im Gesicht. Julie fühlte sich zunehmend unwohl. Sollte diese zarte Frau Pieter wirklich erstochen haben? Und wenn ja, warum?
»War es nicht zufällig so?«, fuhr der Richter nun fort und beugte sich etwas über seinen Tisch, als würde er geradezu auf ein Geständnis aus Inkas Mund lauern.
Das Mädchen sprang hektisch auf. »Nein, ich … ich war es nicht!«, rief sie fahrig. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schien angestrengt zu überlegen. »In der Nacht … ja, ich war im Kochhaus und habe von Masra Pieter erfahren, dass … « Inika brach ab.
Alle starrten das Mädchen an. Julie senkte betroffen den Blick.
Plötzlich sprang Bogo neben ihr auf und riss den Arm hoch.
Der Richter sah ihn verwundert an. »Was soll das jetzt bedeuten? Haben Sie mit der Sache doch etwas zu tun?«
Bogo nickte und klopfte sich auf die Brust und riss wieder den Arm hoch.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Pieter Brick erstochen haben?«
Julie beobachtete entsetzt, dass Bogo heftig nickte. Inika neben ihm schien nicht weniger entgeistert zu sein, das Mädchen wirkte wie erstarrt.
»Was haben Sie dazu zu sagen, Inika?«
Julie wartete wie alle anderen gespannt auf Inikas Antwort. Ihr entging nicht der eindringliche Blick, den Bogo Inika zuwarf, bevor das Mädchen stockend zu sprechen begann.
»Wir waren beide im Kochhaus in dieser Nacht.« Inika senkte den Blick und sprach leise. »Masra Pieter kam betrunken herein, er hat uns wirre Dinge erzählt, von Masra Henry und Masra Martin, und dass sein Sohn doch eigentlich der Erbe von Rozenburg wäre. Dass er bald die Plantage führen würde und wir uns daran schon mal gewöhnen sollten. Bogo und ich wollten gehen, als Masra Pieter«, sie schluchzte. »Er … er wollte mich anfassen … da ist Bogo dazwischengegangen und hat … er wollte mich doch nur beschützen!«
Bogo nickte immer noch beflissen.
Der Richter lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. »Dann haben wir den Mörder also gefunden. Nehmen Sie den Mann fest«, sagte er zu den zwei Beamten, die zuvor Henry hereingeführt hatten. »Das Gericht wird sich beraten. Das Urteil wird in zwei Tagen um elf Uhr verkündet.« Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Saal. Bogo wurde abgeführt, und alle anderen blieben wie versteinert sitzen. Julie starrte ihm nachdenklich hinterher.
Am 27. Juni des Jahres 1881 wurde Bogo für die Tat verurteilt. Die Strafe belief sich auf zwölf Jahre. Da er seine Frau hatte beschützen wollen, ließ der Richter Milde walten. Julie dünkte aber, dass dieser Richter, der in den vergangenen Wochen mehr in ihren Familienbeziehungen herumgesucht hatte als je ein Mensch zuvor, vielleicht auch zu der Einsicht gekommen war, dass Pieter sich auch so einiges hatte zuschulden kommen lassen. Auch wenn das natürlich keinen Mord rechtfertigte. Julie hatte der Urteilsverkündung in Begleitung von Jean und Inika beigewohnt. Mit einem traurigen Blick in Richtung Inika ließ Bogo sich nach der Urteilsverkündung abführen. Julie sah ihm nachdenklich hinterher. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht rechtens war. Inikas versteinerte Miene ihr gegenüber sprach Bände, obwohl die Geschichte der beiden durchaus glaubwürdig klang. Bogo war zwar zuvor niemals gewalttätig geworden, Julie wusste aber, dass er Inika aufrichtig liebte und … wenn Pieter ihr etwas hätte antun wollen, hätte er sie auch beschützt. Dass Inika aber wiederum von Martin ein Kind erwartete, das passte nicht so recht ins Bild.
Wenige Tage später kehrten alle nach Rozenburg zurück. Auch Sarina und Thijs Marwijk sowie Erika und Wim waren mitgekommen. Julie wollte sofort mit ihren Söhnen reden, das duldete jetzt keinen Aufschub mehr. In der Stadt waren alle sehr hektisch und durcheinander gewesen und niemand hatte richtig gewagt, den anderen anzusprechen.
Kiri brach vor Glück in Tränen aus, als sie ihre Tochter wieder in die Arme schließen konnte. Julie gab den beiden einen Moment Zeit füreinander, dann rief sie Henry und Karini sowie Martin und Inika in den Salon, um alle Unstimmigkeiten ein für alle Mal zu beseitigen. Auch Jean rief sie dazu. Dieser setzte sich sichtlich angespannt neben Julie.
Julie blickte in die Runde und holte tief Luft. »Vorweg möchte ich eines klarstellen: Ich mache keinem von euch einen Vorwurf. Ihr seid irgendwie doch alle meine Kinder, und ich liebe euch alle.« Sie faltete die Hände in ihrem Schoß, senkte den Blick und fuhr leise fort: »Ja, Henry, du bist der leibliche Sohn von Jean. Wie oft war ich versucht, es dir zu sagen, habe es aber nicht gewagt, weil ich damit Pieter freie Hand über das Erbe von Rozenburg gegeben hätte, und das hätte der Plantage und allen, die auf ihr leben, nicht gutgetan. Aber jetzt … Auch wenn Henry nicht der direkte Erbe ist«, sie bedachte Karini mit einem liebevollen Blick, »wächst hier gerade die nächste Generation heran, und diese hat über Karini und ihren Vater durchaus ein Anrecht, auf Rozenburg zu leben. Karini, du bist wegen Pieter nicht nur die Halbschwester von Martin, sondern wegen deines Vaters auch eine Enkelin von Martins Großmutter.« Sie fing Karinis verwirrten Blick auf. »Das wird dir deine Mutter noch einmal in Ruhe erzählen, keine Sorge. Und da Karini nun mit Henry verheiratet ist«, sie wandte sich an Martin, »hoffe ich doch, Martin, dass du die Verhältnisse einzuschätzen weißt.« Nun war es heraus. Julie war sich nicht sicher, wie Martin nach all den Geschehnissen auf diese Aussage reagieren würde. Aber sie hatte sich offensichtlich umsonst Sorgen macht, sein reumütiges Gesicht sprach Bände.
»Juliette, ich wusste nicht, dass Inika bei ihrer Aussage … bitte glaube mir, es macht für mich keinen Unterschied, ob Henry der Sohn von meinem Großvater ist oder von Jean. Oder Karini … Er ist wie ein Bruder für mich, Karini ist und bleibt meine Schwester, und du«, Julie wurde warm ums Herz bei dem zärtlichen Blick, den er ihr jetzt zuwarf, »du warst immer wie eine Mutter für mich. Juliette, es tut mir so unendlich leid. Ich habe mich von Inika in eine Richtung lenken lassen.« Er warf dem schwangeren Mädchen einen bösen Blick zu. »Und ich hatte nicht einen Moment vor, euch Rozenburg streitig zu machen. Es gibt niemanden, der all die Jahre so wie du um eine Plantage gekämpft hat. Ohne dich wären wir doch heute alle nicht mehr hier!«
Seine Worte taten Julie gut, und sie war stolz auf ihn – stolz auf seinen Mut, diese Worte zu äußern. »Danke, Martin.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu und strich über seinen Arm. »Wir hatten alle eine schlimme Zeit. Und auf eine Art tut mir das mit deinem Vater auch sehr leid. Aber du hast hoffentlich inzwischen verstanden, dass er ein … schwieriger Mensch war und sehr viel Unglück über unsere Familie gebracht hat.«
Martin nickte, und Julie meinte, ein Glitzern in seinen Augen zu sehen. Sie ließ ihren Blick zu Jean wandern, der sich nun an Inika wandte, die sichtlich zusammengesunken neben Martin saß.
»Inika, ich möchte dir nur eines mit auf den Weg geben: Wenn du in unserer Familie eines Tages Vertrauen und Achtung erlangen willst, dann darfst du nie wieder hinter unserem Rücken solche Intrigen spinnen.«
Inika nickte und tupfte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
Julie fing Jeans bedeutungsvollen Blick auf und nickte. Sie hätte noch so vieles sagen wollen, aber die Zeit würde alles richten. Jetzt war es erst einmal wichtig, dass die Mädchen ihre Kinder gesund zur Welt brachten und Ruhe in der Familie einkehrte.
»Na dann.« Jean stand auf und schenkte sich und den Jungen einen Dram ein. »Auf die Zukunft. Martin, wie ich hörte, plant Thijs mit Sarina eine Reise und will dir Watervreede anvertrauen. Aber darüber wird er sicher selber noch mit dir sprechen. Auf gutes Gelingen!« Er hob sein Glas und prostete Martin zu. »Und du – Sohn«, wandte er sich mit einem breiten Lächeln an Henry, »wirst mir hoffentlich ab jetzt hier auf Rozenburg zur Seite stehen.«
»Ja, Vater.« Henry lächelte ihn an und klopfte ihm auf die Schulter. Julie kannte ihren Mann gut genug, um zu wissen, dass diese Antwort ihm viel bedeutete.
Julie betrachtete ihre kleine Familie und fühlte, wie eine Welle der Zärtlichkeit sie durchlief. Dann öffnete sich die Tür, und Wim und Erika kamen mit Helena an der Hand herein.
»Dürfen wir?«
»Natürlich!« Julie breitete die Arme aus, und ihre Tochter flog hinein. Glücklich schloss sie das kleine Mädchen in die Arme. Hoffentlich würden Helena eines Tages mit ihren Neffen oder Nichten solch turbulente Zeiten erspart bleiben.