Kapitel 19
Wie klein ihre Fingerchen waren, die Nase so zart und erst der Flaum auf ihrem Köpfchen! Julie konnte sich an dem kleinen Wunder, das sie in den Armen hielt, kaum sattsehen. Helena – Julie hatte ihre Tochter nach ihrer Mutter benannt.
»Ist sie nicht wunderschön?«
»Ganz die Mutter.« Jean streichelte seiner wenige Tage alten Tochter zärtlich das Köpfchen.
Es war alles sehr schnell gegangen. Nach der Geburt war das Kind zwar wohlauf, Julie aber maßlos erschöpft.
Julie schlief viel, stillte das Kind und genoss die Nähe des Neugeborenen. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich langsam erholte. Sie wusste, dass Jean sich große Sorgen um sie gemacht hatte. Seit der Geburt stürmte er mehrmals in der Stunde in den Raum und fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Jean, du warst gerade mal ein paar Minuten fort! Ja, es ist alles in Ordnung.« Julie lachte, aber ihr Herz war sehr gerührt. Dieses kleine, zarte Baby in ihren Armen brachte ihn aus dem Konzept. Er machte einen hilflosen und verlorenen Eindruck, er wollte sie beschützen und umsorgen, in jeder Sekunde. Das Wunder der Geburt von Helena hatte ihn in den letzten Tagen völlig in seinen Bann gezogen. Aber nun war es an der Zeit, ihn wieder ins Hier und Jetzt zu holen. »Hast du die Männer schon losgeschickt, um nach Inika zu suchen?«
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr sofort, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag: Es war nichts passiert. »Dann los! Es ist schon viel zu viel Zeit vergangen.«
»Wir werden sie schon finden, momentan ist es wichtig, dass du wieder auf die Beine kommst und es der Kleinen gut geht.«
Doch das Argument ließ Julie nicht gelten. »Mir geht es gut. Ich bin nicht krank, ich habe ein Baby bekommen und außerdem … ob ich nun hier liege oder nicht, die Männer können trotzdem den Fluss hinauffahren, ich habe doch gar nichts damit zu tun.«
»Also gut. Ich kümmere mich heute Abend darum«, sagte er. Dann blitzten seine Augen auf, und Julie warf ihm einen neugierigen Blick zu.
Jean schmunzelte. »Ach ja … und da wäre noch etwas …« Jetzt grinste er übers ganze Gesicht, »heute kommen die Jungen nach Hause!«
Julie traute ihren Ohren nicht. »Henry und Martin? Aber es ist doch noch gar nicht August?« Dankbar sah sie ihren Mann an, der sie liebevoll anlächelte.
»Henry wollte doch im Dezember schon am liebsten hierbleiben, und jetzt brennt er darauf, seine Schwester kennenzulernen.«
Julie musste bei dem Gedanken an ihren Sohn ebenfalls lächeln. Er hatte sich nach ihrem Unfall große Sorgen gemacht, war ihr bis zu seiner Abfahrt kaum von der Seite gewichen und hatte ihr in den letzten Monaten fast wöchentlich einen Brief geschrieben. Julie hatte ein bisschen Angst gehabt, dass Henry vielleicht eifersüchtig auf das Baby sein könnte, aber mit seinen nun sechzehn Jahren schien er sich eher mächtig auf die Rolle als großer Bruder zu freuen. Martin hingegen hatte die Nachricht von Julies Schwangerschaft mit sparsamer Freude entgegengenommen. Aber von Martin war Julie auch keine sentimentalen Gefühlsausbrüche gewohnt. Jean hatte seine Einstellung treffend beschrieben: »Martin ist siebzehn, er will ein starker Mann sein.«
Nachdem am Nachmittag das Boot mit Martin, Henry, Liv, Karini und Henry angelegt hatte, war es natürlich Henry, der als Erster in Julies Schlafzimmer gestürmt kam. Als er bemerkte, dass er nicht einmal geklopft hatte, stand er schon im Zimmer. Er stammelte eine Entschuldigung.
Julie musste lachen. »Ach, komm her. Ich weiß doch, dass du neugierig bist.«
Helena lag in ein weißes Steckkissen gebunden in Julies Armen und schlummerte friedlich. Julie hatte in den letzten Tagen einige Male darüber nachgedacht, ob der kleine Wirbelwind, der in ihrem Bauch so viel getreten hatte, nun still war, weil er endlich das Licht der Welt erblickt hatte, oder ob das Baby nur eine Weile verschnaufte. Sie hoffte, Helena würde sich so pflegeleicht zeigen, wie Henry es gewesen war. Ihr Erstgeborener war immer ein sehr stilles Baby gewesen und hatte mit seinen großen Augen die Welt um sich herum beäugt.
Wie groß Henry geworden war! Er schien in den letzten sechs Monaten in der Stadt auch sehr viel reifer geworden zu sein. Leise trat er an ihr Bett heran. Seine Augen leuchteten, als er ihr einen Kuss auf die Wange hauchte und dann verzückt das Baby in ihrem Arm betrachtete.
»Sie ist ja winzig«, staunte er.
Helena reckte im Schlaf die Ärmchen. Henry sah Julie fragend an. Julie nickte und schmunzelte.
»Du darfst deine Schwester ruhig streicheln.«
Henry berührte mit der Kuppe seines Zeigefingers zaghaft die kleine Babyhand. Diese fasste reflexartig nach dem Finger und umklammerte ihn.
»Oh …«
Julie lachte. »Ja, Henry, siehst du? Deine Schwester hat dich schon im Griff.«
Henry lächelte versonnen, setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und hielt geduldig mit seinem Finger das Händchen des kleinen Mädchens.
Wenig später klopfte es. Auf Julies Aufforderung betraten die übrigen Ankömmlinge das Zimmer. Karini und Martin tappten zögerlich hinter Liv her.
»Misi, sie ist wunderschön!« Karinis Zurückhaltung verschwand, sobald sie das Baby sah, und sie hockte sich neben das Bett. Martin blieb am Fußende stehen und nickte lediglich kurz. Der Blick, mit dem er das Baby auf Julies Arm betrachtete, schien fast misstrauisch. Julie entschied sich, nicht darauf einzugehen.
Im Raum herrschte einen Moment lang vollkommene andächtige Stille, und als Jean Sekunden darauf ebenfalls eintrat, musste Julie ein paar Tränen unterdrücken. Um sie und die kleine Helena herum stand ihre ganze Familie. Sie empfand nichts als Glück.
Jean räusperte sich und brach damit den Zauber. »Morgen früh werden vier Männer losfahren, um Inika zu suchen.«
Martin, Henry und Karini schauten Jean gleichsam verwundert an.
»Suchen? Warum denn suchen? Ist Inika weg?«, fragte Henry.
Jean warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Ja«, sagte er ernst, »aber das ist eine längere Geschichte. Ich erkläre euch das gleich unten, wir lassen Julie und Helena ein bisschen schlafen.«
Julie betrachtete ihn dankbar. Sie war erleichtert, dass die Suche nach Inika endlich begann. Sie wusste, dass Jean die Männer hauptsächlich ihretwegen losschickte, er selber war der Meinung, dass das Mädchen längst in Sicherheit war.
Als hätte sie geahnt, dass sie gleich mit ihrer Mutter allein sein würde, begann Helena zu krähen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie hungrig war.