Kapitel 1

Karini war stolz, während der letzten drei Monate auf Watervreede so gut mit Misi Gesine ausgekommen zu sein. Damals war alles sehr schnell gegangen. Nachdem Misi Gesine sich fürchterlich über Inikas Zustand erschreckt hatte, hatte sie ihren Mann sogar gedrängt, so schnell wie möglich nach Watervreede überzusiedeln. »Hier gibt es so viele Wilde«, hatte sie gezetert. Dass alle anderen wussten, wer Inika das angetan hatte, schien sie nicht zu bemerken. Und auch Misi Juliettes Hinweis, dass keine Gefahr mehr drohe, glitt an ihr ab. Karini hatte sich über Misi Gesine geärgert: Anstatt auch nur einmal an Inika zu denken, die mit dem Tod kämpfte, dachte die Misi nur an sich. Die Stimmung auf Rozenburg war sehr bedrückt gewesen, aber Karini wäre am liebsten dort geblieben, um Inika zumindest in dieser schweren Zeit Beistand leisten zu können. Aber sie hatte zugesagt, mit Misi Gesine nach Watervreede zu gehen, und schon bald das Boot mit Misi Gesine, Masra Wim und Masra Thijs bestiegen.

Auf Watervreede ließ das Geschehene sie alle nicht los. Masra Thijs hatte die unheilvolle Aufgabe, Sarina zu berichten, was ihrer Tochter widerfahren war. Die Inderin war tief getroffen, lehnte aber das Angebot ab, nach Rozenburg zu ihrer Tochter zu fahren. Karini wusste, wie schwer Sarina das fiel, doch die Angst vor ihren Landsleuten war stärker. Masra Wim hingegen stürzte sich in die Arbeit, auch ihn hatte der brutale Vorfall schockiert.

Misi Gesine fand ihre ganz eigene Art, sich auf andere Gedanken zu bringen. Mit gekünstelter Fröhlichkeit machte sie sich gleich nach ihrer Ankunft daran, dem Plantagenhaus die Handschrift einer Frau zu verleihen. Möbel wurden umgestellt, alte Teppiche entsorgt, Fenstervorhänge umgenäht und neu gestaltet. Misi Gesine stand dabei allerdings meist in der Mitte des jeweiligen Raumes, während Karini und Sarina ihre Anweisungen ausführten.

Dann schlich sich auf Watervreede allmählich ein Alltag ein. Jeder freute sich auf den August, wo eine Zusammenkunft aller anlässlich der eintreffenden Dampfmaschine geplant war.

Masra Thijs und Masra Wim hatten gute Vorarbeit geleistet. An den großen Haufen Lianen und Kletterpflanzen, die später auf dem Wirtschaftshof verbrannt worden waren, hatte Karini erahnen können, wie das Haus vormals ausgesehen haben musste. Was die Gestaltung der vorderen Veranda anging, hatte es einen kurzen garstigen Wortwechsel zwischen den Masras und Misi Gesine gegeben. Misi Gesine war nicht sehr angetan von den großen Orchideen, die von der Decke der Veranda herabhingen. Die Masras bestanden aber beide darauf, die Pflanzen dort zu belassen. Karini fand die Blumen auch sehr schön, zudem verströmten sie am Abend einen angenehmen, süßlichen Duft. Die Orchideen blieben schließlich, wo sie waren.

Die Arbeiter, die von Rozenburg mit herübergekommen waren, hatten in Windeseile ihre eigenen Hütten instand gesetzt und sich dann an das Dach des Gästehauses gemacht.

Nun nahte der August und die Ankunft der Dampfmaschine mit großen Schritten. Alle Arbeiten auf der Plantage wurden mit betriebsamer Eile vorangetrieben. Masra Wim hatte von einem fahrenden Händler am Fluss Unmengen neuer singeis, länglicher Dachschindeln aus hartem Holz, gekauft, wie sie überall im Hinterland verwendet wurden, und die Arbeiter angewiesen, die Hütten damit einzudecken.

»Die Palmwedel verrotten doch viel zu schnell«, hatte er gesagt.

Auch Karini hatte eine kleine Hütte bekommen, auf der nun singeis lagen. Karini mochte das Geräusch des Regens, der auf das dichte Dach prasselte; Dächer mit Palmenwedeln neigten eher zum Tropfen.

Den Händlern war nicht verborgen geblieben, dass die Plantage wieder urbar gemacht wurde, und so legten sie nun des Öfteren an, um ihre Waren anzupreisen. Masra Thijs hatte viele weitere Dinge gekauft, sogar vier brüllende Ochsen hatte er einem Händler abringen können, der die Tiere eigentlich zum Schlachten in die Stadt bringen wollte.

Inzwischen war die Zugkraft der Tiere zur geschätzten Hilfe auf der Plantage geworden. Neben den Ochsen befanden sich auf dem Plantagengrund auch einige Hühner sowie zwei Jagdhunde, die der Masra von einem Maroon erworben hatte. Die Plantage erwachte langsam zum Leben.

Karini war stolz auf die Fortschritte auf Watervreede und freute sich auf die Reaktion der anderen, wenn sie die einst fast verfallene Plantage in neuem Glanz erstrahlen sehen würden. Und sie war zudem stolz, weil sie das erste Mal in ihrem Leben außerhalb des Schattens von Rozenburg, ihrer Eltern und fern ab von Masra Henry und Masra Martin etwas geschafft hatte. Sie fühlte sich viel erwachsener als noch vor wenigen Monaten, und Watervreede war ihr ein Heim geworden. Obwohl Misi Gesine immer noch anstrengend war.

Mit Spannung hatte Karini die Ankunft von Misi Juliette, Masra Henry und Masra Martin erwartet. Die letzten Tage hatten sich zäh in die Länge gezogen, und als eines Mittags Anfang August schließlich nur Misi Juliette, Misi Helena, Masra Jean und Masra Henry aus dem Boot stiegen, schlug Karinis Vorfreude in Sorge um. Masra Martin war nicht mitgekommen. Sie ahnte, dass es Unbill gegeben hatte und auch noch geben würde.

Nach dem Abendessen kam Masra Henry zu ihr. »Lass uns zum Fluss gehen«, sagte er fröhlich.

Wie in alten Zeiten liefen sie los und erreichten atemlos das Flussufer. Von den Bananenstauden vor Blicken aus Richtung des Plantagenhauses geschützt, setzten sie sich und beobachteten den Sonnenuntergang.

»Bist du zufrieden hier auf Watervreede?« Der Blick, den Masra Henry ihr zuwarf, schien besorgt. »Ich meine … es war sehr ungewohnt ohne dich in der Stadt. Und als ich dann vor einer Woche mit deiner Mutter endlich auf Rozenburg ankam und wir hörten, dass du mit Gesine nach Watervreede gegangen bist …«, er brach ab.

Karini fühlte sich geschmeichelt. Er schien sich tatsächlich um sie zu sorgen, vermisste sie sogar. »Mir geht es gut. Es gefällt mir hier, und ich brauche ja auch nur leichte Arbeiten zu machen«, Karini lachte leise. »Haare hochstecken hier, neues Kleid rauslegen da, Getränke holen. Die schweren Arbeiten im Haus und das Kochen übernimmt Sarina.«

»Du bist also Gesines Dienstmagd«, resümierte Masra Henry leise.

Karini zuckte zusammen. Seine nüchterne Feststellung versetzte ihr einen Stich, auch wenn er recht hatte. Aber immerhin bin ich schon Dienstmagd und nicht mehr nur einfaches Küchenmädchen, dachte sie trotzig. »Ja«, antwortete sie betont gelassen und wechselte das Thema.

»Was ist mit Masra Martin?«

Masra Henry zuckte die Achseln. »Ach der … Martin hat sich entschieden, bei seinem Vater zu wohnen. Er kommt gemeinsam mit ihm hierher, wenn die Dampfmaschine gebracht wird.«

Karini war nicht wirklich überrascht, sie konnte Masra Martins Entscheidung in gewisser Weise sogar nachvollziehen. Aber Misi Juliette sah das sicher anders.

»Wie hat deine Mutter reagiert, als Masra Martin nicht mit dir kam?«

»Mutter hat sich zuerst sehr aufgeregt, sich dann aber beruhigt. Ich meine … ich kann schon verstehen, dass Martin bei seinem Vater sein will. Ich … ich habe meinen Vater ja auch nie kennengelernt«, sagte Masra Henry nachdenklich.

»Masra Jean ist doch jetzt dein Vater.« Karini sah ihn vorwurfsvoll an. Sie fand ihn in diesem Moment kleinlich, schließlich würde er seinen Vater in Zukunft täglich um sich haben. Im Gegensatz zu ihr selbst. Ihr Vater lebte jetzt bei den Maroons, und er würde selbst bei ihren seltenen Besuchen auf Rozenburg meist nicht da sein. Sie spürte, wie eine Welle von Wehmut sie durchfuhr und mühte sich, sich auf Masra Henry zu konzentrieren.

»Ja, aber nicht mein leiblicher«, sagte er jetzt und verzog das Gesicht.

Karini wollte dieses Argument nicht gelten lassen. »Aber einen besseren Vater hättet ihr beide doch nicht haben können!«

»Ja, stimmt, ich klage ja auch nicht, aber Martin hat halt noch einen … einen echten Vater.« Er schien betrübt.

Die Blume von Surinam
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