Kapitel 17
Die Fahrt von Calais über den Landweg nach Rotterdam entpuppte sich als ebenso schaukelig wie eine Schiffspassage. Die Straßen waren vom vielen Regen aufgeweicht und schlammig. Die Pferde vor dem Wagen mussten sich des Öfteren kräftig in die Geschirre legen, um den Wagen voranzuziehen, und mehr als einmal schlingerte das Gefährt so stark, dass Henry angst und bange wurde. Schrievenberg war wenig redselig und döste die meiste Zeit vor sich hin. Ihn schienen die Zustände der Straßen und Wege wenig zu kümmern. Mehrmals sah er Henry mit einem müden Grinsen an. »Junger Mann, das wird schon.«
Die ersten Meilen führte sie der Weg parallel zur Küstenlinie. Der scharfe Seewind rüttelte an der Droschke. Sie machten Rast in kleinen Fischerdörfern, die Pferde brauchten häufiger eine Pause. Bereits am ersten Abend sprach der Kutscher sie an, er müsse den Fahrpreis erhöhen, da der Futterbedarf der Pferde durch das schlechte Wetter und die damit verbundene Anstrengung steige. Schrievenberg nickte nur und gab dem Kutscher ein kleines Geldsäckchen. Henry hatte mit ihm in Calais abgesprochen, die Fahrtkosten zu teilen, bisher aber hatte Schrievenberg alles bezahlt. Henry war dies furchtbar unangenehm, aber seine Mittel waren begrenzt, und als er jetzt hörte, dass die Kutschfahrt teurer wurde als gedacht, war er seinem Reisebegleiter dankbar, dass dieser ohne ein Wort die Kosten trug.
Sie querten die belgische Grenze und rasteten in Brügge, der ersten größeren Stadt. Henry war fasziniert von der Bauweise der Häuser, er hatte von den unterschiedlichen Baustilen in Europa gelesen, jetzt aber die Werke vieler Jahrhunderte dicht an dicht nebeneinander zu sehen begeisterte ihn. Wie jung war doch dagegen Surinam!
Die mächtige Kathedrale St. Salvator mit ihren fünf Kapellen überragte die Stadt und schützte ihre Nachtruhe in der nahe gelegenen Herberge. Bereits am nächsten Tag kamen sie nach Gent, und hier wurden Henrys Erwartungen noch übertroffen. Die Hauptstadt von Surinam kam ihm im Gegensatz zu Gent wie ein Dorf vor. Die von Grachten durchzogene Stadt begrüßte die Ankömmlinge mit langen, dicht stehenden Bürgerhäusern und imposanten Handelsgebäuden. Mitten in der Stadt fuhren sie um eine mittelalterliche Wasserburg herum, die Gravensteen. Henry hatte ein solches Bauwerk noch nie gesehen, dass es so etwas in Europa überhaupt gab, überraschte ihn.
Tag um Tag, Herberge um Herberge näherten sie sich Amsterdam. Von Gent über Sint-Niklaas, Antwerpen, Brecht, über die belgisch-niederländische Grenze nach Breda und dann über Utrecht immer weiter gen Norden. In Henrys Kopf verschwammen die Städte und Dörfer. In Surinam reiste man von Plantage zu Plantage, hier aber von Stadt zu Stadt, und die Fülle verwirrte ihn. Aber trotz seiner schier unendlichen Größe, der weiten Felder und unzähligen kleinen Dörfer und großen Städte erschien das Land trist und grau, im Gegensatz zu der üppigen Tropenpracht seiner Heimat. Die Menschen, denen sie begegneten, schauten immer misstrauisch und übellaunig. In den Herbergen blieben die Gäste unter sich, ein Umstand, der Henry ebenfalls fremd war. In Surinam kannte fast jeder jeden, und man freute sich immer über Besuch. Neuankömmlinge wurden stets gefragt, woher sie kamen und wohin sie gingen. Hier in diesem Land interessierte das niemanden. Und dann war da noch etwas: In Surinam sprach man in Bezug auf die Niederlande immer gerne von der goldenen Heimat, die aber hatte Henry noch nicht finden können.
Abseits der imposanten Architektur und Größe der Städte, drückten sich zahlreiche zerlumpte Gestalten an die Häuserecken, hielten die Hände auf und bettelten mit zahnlosen Mündern nach ein paar Münzen. In den Herbergen hatte man im Gastraum schneller eine Dirne auf dem Schoß als einen Krug Bier auf dem Tisch, und auch die baufälligen Häuser auf dem Land sprachen nicht gerade von Reichtum. Da ging es sogar den ehemaligen Sklaven in Surinam besser, befand Henry. Vieles, was er sah, verwirrte ihn, machte ihn nachdenklich und ließ ihn an den Geschichten über die Niederlande zweifeln. Er bekam Heimweh, Heimweh nach dem wohlig warmen Klima der Tropen, den Geräuschen des Regenwaldes und selbst nach den mückenumschwirrten Abenden am Fluss. Wie es Karini wohl erging? Ob sie ähnlich empfand? Ob Gesine sie gut behandelte? Je näher sie Amsterdam kamen, desto mehr wurde Henry von der Angst befallen, diese Reise umsonst angetreten zu haben. Wenn es ihr bei Misi Gesine so gut gefiel, dass … Was, wenn Karini gar nicht mit zurück nach Surinam wollte? Nein, wenn er ihr seine Liebe gestehen würde und sie erfuhr, dass ihr keine Gefahr drohte, würde sie wieder mit zurückkommen. Wer wollte denn schon freiwillig in diesem grauen, kalten Land bleiben?