Kapitel 1

Karini schrak auf, als das Boot im Hafen von Paramaribo anlegte.

Kiri hatte ihrer Tochter auf der Plantage eilig einige Sachen zusammengesucht und in einen Sack gepackt, dann zwei Männer aus dem Dorf geholt und sie zusammen mit Karini ins Boot gesetzt. Karini hatte während der Fahrt gedankenversunken auf das Wasser gestarrt und kaum bemerkt, dass es dunkel geworden war.

Vom Hafen aus machte sie sich nun mit schweren Beinen auf zum Kinderhaus von Misi Erika. Sie war schrecklich müde, und ihr Körper schmerzte. Als sie am Kinderhaus ankam, schaffte sie es noch zu klopfen, um dann in der Tür Misi Minou in die Arme zu sinken.

Am nächsten Morgen wurde Karini von den Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht geweckt. Sie spürte, dass sie in einem Bett lag, und genoss für einen Moment die Weichheit der Laken. Dann schob sich plötzlich ein Schatten vor die Sonne. Und mit ihm kamen die Erinnerungen. Karini blinzelte und erkannte, als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, Misi Erika, die sich nun über sie beugte. »Karini, meine Güte? Was ist denn passiert?«

Karini war froh, sie zu sehen. Sie setzte sich auf und nahm dankbar ein Glas Wasser entgegen. Dann sah sie, dass auch Masra Wim an ihr Bett trat. Er sagte nichts, sein besorgter Blick aber sprach Bände.

Misi Erika setzte sich auf die Bettkante und nahm Karinis Hand. »Und jetzt erzählst du uns, was passiert ist und warum … warum du so aussiehst.«

Karini ließ sie gewähren, die Nähe tat ihr gut. Wie von selbst begann sie zu sprechen. Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne, die von all dem berichtete, was passiert war: von dem sich stetig verschlimmernden Zustand der beiden Kranken, von ihrer Beobachtung, als Masra Pieter Sarina ein Mittel verabreicht hatte, von Masra Pieters Schlägen und von seinen Drohungen; von ihrer nächtlichen Flucht nach Rozenburg und schließlich davon, dass ihre Mutter sie jetzt in die Stadt geschickt hatte. Das Wissen um ihren leiblichen Vater behielt sie für sich. Es lastete wie ein großer schwarzer Fleck auf ihrer Seele, und sie wusste noch nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Als sie geendet hatte, herrschte einige Minuten vollkommene Stille. Misi Erika war sichtlich betroffen und streichelte immer wieder Karinis Hand.

Masra Wim begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wir hätten nicht fortgehen dürfen. Vielleicht wäre das alles dann nicht passiert!«

»Wim, mach dir doch keine Vorwürfe!« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wir müssen mit Gesine reden. Die Papiere sind unterzeichnet, sie wollte so schnell wie möglich zurück auf die Plantage und zu Pieter. Dabei ist es doch wohl mehr als eindeutig, dass er nur auf ihr Geld aus ist! Und nach allem, was er jetzt getan hat … Wir können Gesine nicht in ihr Unglück rennen lassen. Sie bringt sich in Lebensgefahr!«

»Sie wird uns kaum glauben. Die Geschichte ist ja schon fast zu abenteuerlich.«

»Aber Karini wird sie glauben. Man braucht sich das Mädchen ja nur anzusehen.« Misi Erika wandte sich an Karini. »Glaubst du, dass du es schaffst, das Ganze noch einmal zu erzählen?«

Karini nickte. Sie wollte ja auch nicht, dass Misi Gesine etwas geschah.

Wenige Stunden später standen sie vor dem Haus, in dem Misi Gesine in der Stadt untergekommen war. Karini war sehr erschöpft, und sie fühlte sich ein bisschen, als würde sie alles nur träumen. Ein Hausmädchen mit gestärkter Schürze und weißem Häubchen öffnete die Tür.

»Wir möchten zu Frau … Vandenberg.« Masra Wim zögerte kurz, als bereite es ihm Schwierigkeiten, Misi Gesine beim Namen zu nennen.

»Wim? Ich denke, in dieser Situation schickt es sich nicht, sich gegenseitig zu besuchen«, erklang sofort Misi Gesines hochmütige Stimme aus einem Nebenraum.

»Doch, es schickt sich«, sagte Misi Erika und zog Karini an der Hand in das Haus, am verdatterten Hausmädchen vorbei in den Raum, aus dem Misi Gesines Stimme erklungen war. Misi Gesine sprang auf.

»Was erlauben Sie sich …«, rief sie entrüstet, verstummte aber, als ihr Blick auf Karini fiel. »Karini? Mädchen … was ist denn mit dir passiert?« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und warf Misi Erika und Masra Wim einen fragenden Blick zu.

»Sie sollten sich anhören, was Karini zu berichten hat. Es gibt Entwicklungen … die nicht sehr erfreulich sind.«

Karini erzählte zum zweiten Mal an diesem Tag von den Geschehnissen, die ihr fast schon wie ein ferner Traum vorkamen. Doch die schmerzenden blauen Male in ihrem Gesicht sprachen eine andere Sprache, und sie hielt schließlich erschöpft inne.

Eine Weile sprach niemand ein Wort. Misi Gesine war sichtlich erschüttert, sie starrte ins Leere und schüttelte hin und wieder den Kopf.

Dann stand sie plötzlich mit einem Ruck auf, strich ihr Kleid glatt und atmete einmal tief durch. »Danke, dass ihr mich benachrichtigt habt.« Ihr Blick ruhte eine Weile auf Karini, die überrascht war, so viel Mitgefühl darin zu lesen. Dann veränderte sich der Gesichtsausdruck der Misi und sie ließ ihren Blick zu Masra Wim wandern. »Dieses Land … ich denke, es ist das Beste, wenn ich nach Europa zurückkehre.« Sie zögerte einen Moment, und ihre Gesichtszüge wurden hart. »Für alle das Beste …«, fügte sie schließlich hinzu und Karini meinte, einen drohenden Ton in ihrer Stimme zu hören. »Ich werde noch heute eine Nachricht an meinen Vater aufsetzen, der alle nötigen Anweisungen treffen wird. Und …«, ihre Augen wurden schmal, »er wird nicht erfreut sein über dein Verhalten, Wim. Du solltest ihm besser eine Weile nicht unter die Augen treten. Aber«, fügte sie mit einem Blick auf Misi Erika schnippisch hinzu, »das wird ja vermutlich auch nicht der Fall sein.«

Masra Wim räusperte sich. »Gesine, es tut mir aufrichtig leid. Aber unabhängig von den Entwicklungen, die uns beide betreffen, habe ich tatsächlich Angst um dich, man weiß schließlich nicht … was Pieter Brick noch einfällt. Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn du in die Niederlande zurückkehrst. Ich kann gerne am Hafen nachfragen, wann ein Schiff geht«, sagte er ruhig.

Misi Gesine schien dieses freundliche Angebot jedoch zu missfallen. »Ach, du kannst mich wohl nicht schnell genug loswerden«, stieß sie mit einem Seitenblick auf Misi Erika hervor. »Aber gut, es ist nach all dem, was geschehen ist, wirklich nicht zu viel verlangt, wenn du dich nach einem Schiff erkundigst. Und du könntest dafür sorgen, dass mir beizeiten mein restliches Hab und Gut von Watervreede nachgeschickt wird.«

»Selbstverständlich. Wir werden auf dem Rückweg am Hafen anhalten.«

Die Misi schenkte Masra Wim einen kalten Blick.

Masra Wim kam recht schnell von der Hafenmeisterei zurück. »Wir sollten noch einmal bei Gesine vorbeifahren. Ein Schiff geht gleich übermorgen, in aller Frühe, das nächste erst in ungefähr zwölf Wochen. Entweder muss sie sich eilen oder lange warten.«

Eine Stunde später war beschlossen, dass Misi Gesine bereits in weniger als zwei Tagen das Land verlassen würde.

Die Blume von Surinam
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