Kapitel 13
Karini stand auf dem Vorhof der Schule in Paramaribo, während der Februarregen ihr unangenehm kalt in den Nacken tropfte. Die Brote der Jungen lagen sicher unter einem Teller, Karini aber hatte sich nur notdürftig ihr Tuch über den Kopf legen können. Vorsichtig griff sie mit den Fingern nach einer verirrten Strähne und versuchte, sie zurück in ihren geflochtenen Zopf zu stecken. Ihre Haare waren tiefschwarz und viel glatter als die der meisten schwarzen Mädchen. Sie schielte zu dem lang gezogenen Vordach des Schulgebäudes hinüber, wo die Masras sie bei schlechtem Wetter erwarteten. Erst wenn die Pause begann, würde sie dorthin gehen dürfen, vorher war es den farbigen Bediensteten untersagt, sich dort aufzuhalten. Manchmal sehnte sie sich danach, dass die Schulzeit der Jungen endete und sie alle auf der Plantage blieben.
»Du gehst mit Liv in die Stadt, ich werde bei der Misi auf der Plantage bleiben«, hatte ihre Mutter gesagt. Karini grollte ihrer Mutter immer noch. Und zwar nicht wegen der Aussicht, mit Liv die kommenden Monate in der Stadt verbringen zu müssen, was für Karini deutlich mehr Arbeit bedeutete, weil Liv die Haushaltsführung in der Stadt nicht kannte und Karini sie dort unterstützen musste. Nein – es ging genau um die Situation, in der sie jetzt war: als schwarzes Dienstmädchen frierend im Regen auf die Masras warten zu müssen.
Auf der Plantage hatten sie nach dem heftigen Streit zu Beginn wieder freundschaftlich zueinandergefunden. Sie hatten zusammen gelacht, zusammen am Fluss gesessen, die alte, fast kindliche Vertrautheit zwischen ihnen hatte sich wieder eingestellt. Auch das Problem mit Inika hatte sich gelöst, da das Mädchen in den letzten Wochen kaum noch aufgetaucht war. Die Jungen hatten Karini gefragt, was mit Inika los sei. »Sie muss arbeiten«, hatte Karini abgewunken, niemals aber ihrem schlechtem Gewissen ob dieser Lüge entfliehen können.
Das zarte Band der Freundschaft mit den Masras war gerissen, sobald sie wieder in der Stadt angekommen waren. Insbesondere Masra Martin war sofort dazu übergegangen, Karini herumzukommandieren und zu bevormunden. Gerade in der Gegenwart von Freunden ließ er Karini hin- und herlaufen und benahm sich im Stadthaus, als wäre er der erwachsene Eigentümer. Selbst vor Liv scheute er nicht zurück, wobei diese dem jugendlichen Masra stets gehorchte und keinen Widerstand bot. Karini ärgerte sich über Livs Verhalten. Ihre Mutter hätte dieses Benehmen niemals geduldet.
Sie hasste das Gefühl der Demütigung und hatte viel darüber nachgedacht. Masra Martins Verhalten und Livs Reaktion machten ihr bewusst, in welch aussichtsloser Situation sie sich befand. Eigentlich war schon mit ihrer Geburt festgelegt, welches Leben sie führen würde: Als Tochter einer ehemaligen Sklavin würde sie ebenfalls dem Haushalt der Plantage dienen müssen. Natürlich durften die Schwarzen inzwischen wählen, für wen sie arbeiteten, aber das half ihr auch nicht weiter. Sie könnte später einmal in einen anderen Haushalt wechseln, ja, aber die Aussichten dort waren auch nicht besser. Von anderen farbigen Mädchen wusste sie, dass viele blanke ihre Dienstmädchen nicht sonderlich gut behandelten, da war es um sie unter der Obhut von Misi Juliette und Masra Jean noch gut bestellt.
Jetzt öffnete sich die Tür des Schulgebäudes. Karini seufzte und balancierte das volle Tablett vorsichtig mit einer Hand, während sie sich mit der anderen den Regen von der Stirn wischte.
Nach der Pause eilte sich Karini, zurück zum Stadthaus zu kommen, sie war nass bis auf die Haut. Und sie fror. Das war ungewohnt für sie, aber in diesem Jahr brachten die Regenfälle ungewöhnlich kalte Luft mit sich. Die meisten Bewohner der Stadt freuten sich darüber, bereitete doch das feuchtheiße Klima nicht selten den Nährboden für allerlei Übel und Krankheit. Karini aber fand, dass es nun allmählich reichte.
Sie hatte sich ihr Kopftuch tief in das Gesicht gezogen und hastete mit gesenktem Kopf in Richtung Stadthaus. Als sie um eine Straßenecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. Um ihre Füße kullerten sogleich zahlreiche Orangen, und ihr Gegenüber stieß einen leisen Fluch aus.
Karini erschrak. »Entschuldigung!« Sie zog ihr Kopftuch zurück und blickte auf.
»Kannst du nicht aufpassen?« Vor ihr bückte sich ein junger Mann und begann, die Orangen aufzusammeln. Karini eilte sich, ihm zu helfen.
Als sie ihm die letzte Orange reichte, blickte sie ihm ins Gesicht. Seine Haut war deutlich heller und seine schwarzen, kurzen Haare weniger kraus als die eines Schwarzen, aber er war unzweifelhaft noch ein Mulatte. Doch irgendetwas an seinen Gesichtszügen war ungewöhnlich, befand Karini sofort. Dann blickte sie ihm in die Augen, während sie nochmals eine Entschuldigung stammelte.
»Na, ist doch nichts passiert.« Er lächelte sie an.
Karinis Herz machte einen merkwürdigen Hopser, und ihr Mund wurde plötzlich trocken.
Mit einem Blick auf das Tablett, das neben ihr auf dem Boden lag, fragte der junge Mann: »Bist du ein Frühstücksmädchen?«
Jeder in der Stadt wusste, was ein Mädchen tat, wenn es am Morgen mit einem Tablett durch die Straßen lief.
Karini nickte nur.
Er fixierte sie, immer noch lächelnd, mit seinen dunkelbraunen Augen. »Na dann, Frühstücksmädchen, pass mal auf, dass du nicht noch jemanden umrennst.« Mit diesen Worten tippte er sich zum Gruß kurz mit der Hand an die nicht vorhandene Mütze und ging weiter.
Karini drehte sich um und starrte ihm noch einen Moment hinterher.
Als er sich wiederum umwandte und ihr noch einmal zuwinkte, erschrak sie fast. Sie griff nach dem Tablett und den Tellern und Bechern und eilte weiter. Aber die braunen Augen des jungen Mannes sollten sie noch den ganzen Tag im Geiste verfolgen.