Kapitel 20
Karini war entsetzt, als Masra Jean im Salon berichtete, was während ihrer Abwesenheit auf der Plantage geschehen war.
»Und ihr Vater ist tot?« Auch Masra Henry machte ein betroffenes Gesicht.
»Ja.« Masra Jean nickte.
»Habt ihr diesen anderen Kerl gefunden? Den muss man doch … Wenn er die Plantage verlassen hat … das ist doch verboten!« Masra Martin schien eher verwirrt als entsetzt. Die Tatsache, dass die Arbeiter zu solchen Handlungen fähig waren, schien ihn mehr zu erschrecken, als dass es einen Toten gegeben hatte.
»Wir vermuten, dass er schwer verletzt wurde. Ich denke, er ist nicht weit gekommen. Und wenn Kiri recht hat und Inika heimlich mit den Missionaren nach Berg en Dal gefahren ist, ist sie dort auf jeden Fall in Sicherheit. Ist sie allerdings auf eigene Faust in den Wald gelaufen …«
»Oh Gott! Dann hat sie es nicht weit geschafft«, vollendete Masra Henry den Satz. Er sprang auf. »Wir müssen sie suchen, wir müssen sehen, ob sie in Berg en Dal angekommen ist.«
»Ich sagte doch, ich schicke morgen ein paar Männer los.«
»Ich werde mitfahren.« Masra Henry nickte bestimmt, wie um seine Worte zu unterstreichen.
»Ach Henry, denkst du nicht, dass es besser ist, wenn du hierbleibst? Denk allein an die zusätzliche Aufregung für deine Mutter, die wird ihr nicht guttun.«
Masra Henry verzog das Gesicht, hob dann aber resigniert die Hände.
Karini verfolgte die Diskussion wie aus weiter Ferne. In ihr setzte sich ein Gedanke fest, der ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Die Entscheidung, die sie traf, fiel ihr nicht leicht, aber sie war richtig.
»Ich … ich könnte mitfahren«, flüsterte sie schließlich.
Masra Martin lachte auf. »Ha, und dann womöglich diesen flüchtigen Kerl noch stellen!«
Masra Jean schüttelte den Kopf. »Nein. Die Suche nach Baramadir ist auch erst einmal zweitrangig. Ich denke, wir werden ihn, wenn überhaupt, nur noch tot finden.«
Dann schaute er Karini fragend an.
»Vielleicht … fährt mein Vater auch mit?«, überlegte sie laut.
»Ja, er fährt mit. Aber meinst du das wirklich ernst? Ich meine … würdest du die Männer begleiten? Ich befürchte nämlich, dass Inika sich versteckt, wenn wir sie aufspüren. Dich aber kennt sie, und ich glaube, sie vertraut dir.« Er seufzte. »Es ist bestimmt nicht leicht, ihr zu erklären, was hier vorgefallen ist, aber … ihre Mutter kann ich nicht mitfahren lassen, sie ist außer sich vor Sorge und Trauer, das will ich nicht riskieren.«
Karini ahnte, dass die Worte dem Masra nicht leichtgefallen waren. Er schien fast dankbar über ihr Angebot – und Dankbarkeit war ein Gefühl, dass Bedienstete nur selten zu spüren bekamen. Karini fühlte sich geschmeichelt.
»Ja, natürlich Masra, ich fahre gerne mit.« Noch stärker aber wog ihr schlechtes Gewissen. Schließlich hatte sie noch vor Inika selbst von den Hochzeitsplänen gewusst. Und kein Wort darüber verloren. Hätte sie etwas gesagt, vielleicht wäre dann alles nicht so schlimm gekommen! Aber warum war Inika überhaupt geflohen? Karini vermutete, dass etwas Schreckliches vorgefallen war. Inika war doch eher ängstlich, außerdem kannte sie sich überhaupt nicht aus in diesem Land – wenn sie sich gezwungen gesehen hatte, allein zu fliehen, musste deutlich mehr dahinterstecken.
Während ihre Gedanken um Inika kreisten, hörte sie im Hintergrund Masra Martin mit Masra Jean diskutieren, was man mit Baramadir machen sollte, so man ihn lebend fand.
»Martin, er wird tot sein. Du weißt selbst, wie gefährlich es dort draußen im Busch ist. Und wenn, dann müsste man ihn in die Stadt bringen und der Polizei übergeben. Wir können doch nicht einfach wie früher … Wie kommst du überhaupt darauf? Die Zeiten, in denen man entflohene Sklaven selbst richten konnte, sind schon lange vorbei. Punkt.«
Die energischen Worte des Masra holten Karini in die Wirklichkeit zurück. Misstrauisch schaute sie Masra Martin an. Der hatte eben allen Ernstes vorgeschlagen, Baramadir einzufangen und am Baum auspeitschen zu lassen. Es waren genau diese Momente, in denen Karini sich vor Masra Martin fürchtete.
Am nächsten Morgen bestieg Karini, zusammen mit ihrem Vater Dany und drei weiteren Männern mit einem kleinen Bündel Gepäck das Boot, das flussaufwärts nach Inika suchen sollte. Auch Masra Henry war zur Anlegestelle gekommen. Karini fand die Besorgnis, mit der er seit einigen Minuten auf sie einredete, fast schon amüsant.
»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, fragte er nun zum wiederholten Male.
»Masra Henry – ich kenn mich dort draußen besser aus als ihr alle zusammen. Und außerdem ist doch mein Vater bei mir. Mir passiert schon nichts! Ich will nur Inika finden und sie sicher wieder zurück nach Rozenburg bringen. Die Arme, sie kann doch nicht mal eine Schlange von einer Liane unterscheiden.« Eigentlich war Karini nicht zum Scherzen zumute, aber sie wollte sich Masra Henry gegenüber auch nicht anmerken lassen, dass sie durchaus nervös war. Zumal die Männer des Suchtrupps sich nicht unbedingt um das indische Mädchen scherten, sondern die Tage eher als willkommene Freizeit ansahen. Ihr war nicht verborgen geblieben, dass niemand im Arbeiterdorf Inika zutraute, mit dem Boot der Missionare geflohen zu sein, geschweige denn länger als zwei Tage außerhalb der Plantage überlebt zu haben.
Als die Männer das Boot nun vom Anleger in die Strömung des Flusses lenkten, winkte Karini Masra Henry noch einmal zu.
Jetzt lag es an ihr, Inika zu finden.