Kapitel 18
Karini war Julius durch die Straßen gefolgt, weit hinaus in ein Viertel, in dem überwiegend Schwarze lebten. Schon von Weitem hörte sie die Trommeln, und als sie näher kamen, vermischten sich Gesang und Musik zu einem lockenden Rhythmus, der sie magisch anzog. Sie hatte Julius in den letzten Wochen mehrmals zu verschiedenen dansi begleitet und freute sich jedes Mal mehr darauf. Nicht nur wegen Julius, sondern auch, weil das Tanzen sie so einnahm. Zur Musik am Feuer schienen sich ihre Beine zu verselbstständigen, ihr Körper folgte der Musik über viele Stunden und sie vergaß die Welt um sich herum. »Tongo! Tongo!«, riefen die Menschen – jeder sang und tanzte. Und wenn Julius sie dann mit seinen tiefbraunen Augen im Feuerschein ansah, ihre Hand nahm und sie mitzog, dann klopfte ihr Herz bis zum Hals und ihr wurde ganz schwindelig vor Glück.
Als sie spät in der Nacht zum Stadthaus zurückschlichen, war sie zutiefst erfüllt und aufgeregt. Leise scherzte sie mit Julius, der ihre Hand genommen hatte, was zum wiederholten Male ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch hervorrief. Karini mochte seine Nähe und sehnte schon jetzt ihr nächstes Treffen herbei, aber die Tage dazwischen waren immer unendlich lang. Sie konnten sich nur freitags auf dem Markt treffen, wo sie sich dann heimlich für einen weiteren Abend in der Woche verabredeten.
Nun verweilten sie noch einen Moment vor der Hofpforte. Julius ließ ihre Hand los, stellte sich dicht vor sie und spielte mit ihrem Haar. Sie ließ es geschehen, spürte seine Finger sanft über ihren Kopf streichen, die Wärme seines Körpers dicht vor ihrem. Aufgeputscht vom Rhythmus der Musik, der in ihrem Körper nachbebte, und der Macht der aufwallenden Gefühle, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Noch während ihre Lippen die seinen berührten, durchzuckte Karini der Gedanke, einen Fehler zu begehen, doch die Sehnsucht nach seinen weichen, vollen Lippen, die schon so lange in ihr wohnte, war stärker. Julius schien im ersten Moment verdutzt, dann aber öffnete er seine Lippen und erwiderte ihren Kuss. Karini hatte das Gefühl, als würde das Feuer, um das sie vorhin noch gemeinsam getanzt hatten, in ihr neu entfacht, ihr wurde heiß, dann durchströmte sie eine wohlige Wärme, und einen Moment glaubte sie, der Boden würde sich unter ihren Füßen auftun, so schwindelig war ihr zumute.
»Ich muss jetzt gehen«, flüsterte sie.
Julius nickte und strich ihr mit der Hand zärtlich zum Abschied über die Wange. »Wir sehen uns bald wieder.«
»Ja, das tun wir.« Sie drückte kurz seine Hand an ihre Wange und wandte sich dann ab. Glücklich schlüpfte Karini durch die Pforte zum Hinterhof des Stadthauses.
Sie erschrak fast zu Tode, als an der Hausecke jemand nach ihrem Arm griff und sie zu sich hinzog. »Wo kommst du her? Wer war das?«, drang Masra Martins Stimme leise und bedrohlich an ihr Ohr.
Karini war vollkommen überrumpelt. »Was machst du hier … und … das geht dich gar nichts an.«
»Nein? Das glaub ich aber schon, immerhin … du …«
Sie spürte, wie ihre anfängliche Überraschung in Ärger umschlug. Was wollte er von ihr, sie war ihm keine Rechenschaft über ihr Tun in ihrer Freizeit schuldig. »Immerhin was? Und es ist mitten in der Nacht. Was machst du selbst hier draußen?«
Andererseits … was, wenn er Liv von ihrem nächtlichen Ausflug berichtete? Sie hatte sich nie die Erlaubnis dazu geholt, sondern das Haus jedes Mal mehr oder weniger heimlich, manchmal unter einem fadenscheinigen Vorwand verlassen und bisher nie das Gefühl gehabt, dass Liv etwas von ihren Ausflügen ahnte.
Masra Martin riss sie aus ihren Gedanken. »War das dein Freund?«
»Nein … ja … vielleicht.« Karini wusste es selbst nicht genau. Hatte sie jetzt einen Freund? Immerhin hatte Julius sie geküsst, oder mussten sie sich dafür noch öfter küssen? In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander.
»Ich möchte nicht, dass du dich mit fremden Männern herumtreibst«, hörte sie Masra Martin nun leise und ernst sagen.
Karini traute ihren Ohren nicht. Sie hätte fast aufgelacht. »Warum nicht? Weil ich euer schwarzes Dienstmädchen bin?« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme zynisch klang. Aber es war genau das, was sie empfand. Masra Martin hatte sie in den letzten Monaten nicht nett behandelt, er hatte sie in Anwesenheit anderer blanker immer wieder gedemütigt, wenn auch nicht ganz so schlimm, wie damals auf dem Schulhof. Und selbst wenn sie mit Masra Martin und Masra Henry allein war, hatte er ihr das eine und andere Mal Anweisungen gegeben, deren Sinn selbst Masra Henry infrage stellte. Sie wusste, dass ihre Antwort frech war, schließlich war sie ja wirklich sein Dienstmädchen, und es stand ihr nicht zu, so mit ihrem Masra zu reden. Sie fürchtete schon, ihn mit ihrer Bemerkung ernsthaft erzürnt zu haben, bemerkte dann jedoch erstaunt, dass er den Blick gesenkt hielt, als er antwortete.
»Nein. Nicht weil du … unser Dienstmädchen bist, Karini, sondern weil … weil …«, er stockte.
Karini beobachtete ihn verwundert, es war lange her, dass er sich ihr gegenüber unsicher gezeigt hatte. Gespannt wartete sie auf die Fortsetzung.
»Ich dachte, Karini … ich dachte, du bist … unsere … meine Freundin?«, kam es schließlich zögerlich.
Ein Blick in seine flehenden Augen ließ Karini ein Lachen unterdrücken. Natürlich waren sie Freunde, waren es immer gewesen, aber sein Verhalten in der letzten Zeit hatte ihrer Freundschaft einen Knacks versetzt. Und dafür war allein er verantwortlich, schließlich war er es, der sie entweder nicht beachtete oder demütigte. Der ihre Beziehung immer wieder auf die Hautfarbe reduzierte und nicht müde wurde, seine gesellschaftliche Überlegenheit auszuspielen. Wie konnte er ernsthaft davon ausgehen, dass ihre Freundschaft sich durch solches Verhalten nicht verändert hatte? Plötzlich drängte sich ein Gedanke auf. Es gab nur eine einzige Erklärung für seine Frage. »Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte sie überrascht. Sein verlegenes Schweigen war Antwort genug. Er wich ihrem Blick aus.
Karini schluckte. Dass Masra Martin … damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet! Aber wenn er wirklich … warum verhielt er sich dann so abweisend? Natürlich mochte sie ihn, und einmal hatte sie sogar in seiner Gegenwart dieses Kribbeln gespürt, das Julius gerade eben wieder in ihr geweckt hatte. Julius … Masra Martin … in Karinis Kopf purzelten die Gedanken wild durcheinander.
Karini wusste nicht, was sie sagen sollte, und auch Masra Martin schien sprachlos. Schließlich räusperte er sich. Sein Blick war immer noch auf den Boden gerichtet, als er sagte:
»Eigentlich hab ich auf dich gewartet, weil ich dir sagen wollte, dass wir morgen in aller Frühe anfangen zu packen. Wir fahren zur Plantage.«
Karini war überrascht. »Nach Rozenburg? Aber eigentlich sind doch noch ein paar Wochen Zeit? Warum?«
»Tante Juliette hat ihr Baby bekommen. Onkel Jean hat einen Boten geschickt und erlaubt, dass wir eher anreisen, und einen Brief an die Schule hat er wohl auch schon geschickt. Henry will natürlich sein Geschwisterchen sehen, und er will sofort morgen losfahren.«
»Ja, aber …«