Kapitel 11

Karini stand mit Masra Henry im Salon und blickte immer wieder durch das Fenster auf die Straße, in der Hoffnung, Masra Martin zu erspähen. Dieser war am Mittag aus dem Haus geschlichen, und die beiden wussten nur zu gut, wohin es ihn trieb. Seit er von der Ankunft seines Vaters gehört hatte, war Masra Martin sichtlich unruhig gewesen. Karini ging es ähnlich. Sie wusste, was das bedeutete: Veränderungen. Sie seufzte. »Meinst du, er hat ihn gefunden?«

»Sicherlich«, meinte Masra Henry, »so groß ist Paramaribo ja nicht. Und unter den Weißen sprechen sich Neuankömmlinge schnell herum.« Er deutete auf den Flur. In der kleinen Silberschale auf der Anrichte stapelten sich bereits die Einladungen für Misi Juliette, oder besser gesagt für Masra Wim und Misi Gesine. Wie immer brannten die weißen Kolonisten darauf, die aus Europa Angereisten einzuladen, um Neuigkeiten aus der alten Heimat zu hören.

»Mit Misi Gesine werden sie ihren Spaß haben«, bemerkte Karini grinsend. Noch nie hatte sie eine Frau kennengelernt, die so viel redete. Aber die Misi hatte auch wunderschöne Kleider und teuren Schmuck. Karini hatte helfen dürfen, die unzähligen Koffer der Misi auszupacken und andächtig in aller Heimlichkeit den Stoff eines jeden Kleidungsstückes vorsichtig befühlt. Wie weich die Kleider waren! Karini befand, dass Misi Gesine eine richtige Dame war. Aber ihre Redseligkeit war für alle in diesem Haus ungewohnt.

Selbst mit Karini hatte die Misi Gesine ununterbrochen gesprochen. Oder besser gesagt, sie hatte geredet, und Karini hatte schweigend zugehört. Ein bisschen stolz war Karini schon, dass Misi Juliette ihr aufgetragen hatte, sich um das Wohl von Misi Gesine zu kümmern. Das bedeutete für Karini, dass Misi Juliette ihr zutraute, diese Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen. Ihre Mutter hatte zwar die Stirn gerunzelt, auch weil Kiri sehr wohl wusste, dass ihre Tochter die Rolle des Dienstmädchens nicht gerne übernahm. Aber sie konnte ja nicht wissen, dass Karini sich dieses Mal sogar sehr darüber freute. Denn wo hätte sie mehr über Europa und das Leben als Dame dort erfahren können, als von Misi Gesine? Dafür nahm sie sogar in Kauf, von Misi Gesine herumkommandiert zu werden.

Masra Henry riss Karini aus ihren Gedanken. »Wenn er nicht bald zurückkommt, wird Mutter etwas bemerken.«

»Er wird schon aufpassen, ich glaube nicht, dass er es jetzt schon auf einen Streit ankommen lässt.« Karini schob nochmals die Vorhänge beiseite. Plötzlich sah sie Masra Martin die Straße entlanghasten. Er lief leicht gebeugt und hielt den Kopf gesenkt, als wolle er nicht entdeckt werden. Karini nickte in Richtung des Fensters. »Da kommt er«, sagte sie und folgte Masra Henry dann mit großen Schritten durch den Salon bis zur Tür.

Masra Martin schloss hastig die Tür und schrak zurück, als er die beiden entdeckte. Dann blickte er sich hastig um.

»Keine Sorge, Misi Juliette ist mit Helena noch auf ihrem Zimmer«, flüsterte Karini.

Einen Moment herrschte vollkommene Stille, dann atmete Masra Martin hörbar aus und wandte sich in Richtung Treppe. Karini aber musste wissen, was passiert war. »Hast du … hast du ihn getroffen?«, stellte sie die Frage, die ihr auf der Seele brannte.

Masra Martins Augen weiteten sich kurz. Dann nickte er, während er den Finger auf die Lippen legte und mit der anderen Hand die Treppe hinaufwies. Einen kurzen Moment sahen sich alle drei verschwörerisch an, dann liefen sie nach oben. Als sie Misi Juliettes Zimmer passierten, schlich Karini auf baren Sohlen daran vorbei, die Schuhe von Masra Martin und Masra Henry aber schienen in ihren Ohren zu dröhnen. Doch nichts regte sich.

In Masra Martins Zimmer schloss Masra Henry, so leise es ging, die Tür und ließ sich dann auf den Stuhl an dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster fallen. Karini atmete erleichtert aus und hockte sich, wie immer, auf den Boden, während Masra Martin an der Wand neben der Tür stehen blieb und sich mit einer fahrigen Geste die Haare aus der Stirn strich. Sein Gesicht war leicht gerötet, und er schien sehr aufgewühlt zu sein.

»Nun erzähl schon«, drängte Masra Henry.

»Ich habe gar nicht lange fragen müssen, er … mein Vater … ist als Gast bei John Therhorsten untergekommen.«

Karinis Herz schlug schneller in ihrer Brust. »Und? Hast du ihn besucht?«, fragte sie neugierig.

»Bist du verrückt … ich kann da doch nicht einfach hingehen«, zischte Masra Martin vorwurfsvoll.

Karini musterte ihn überrascht. Masra Martin hatte so lange auf ein Wiedersehen mit seinem Vater gehofft. Jetzt war er hier, Masra Martin wusste sogar wo, aber er ging nicht hin?

»Warum nicht?«

Masra Martin zuckte die Achseln. Dann ließ er sich rücklings die Wand heruntergleiten, kauerte sich auf den Boden und legte den Kopf auf die Knie. »Ich … ich weiß doch gar nicht, ob er mich wiedersehen will.« Seine Stimme bebte und Karini bemerkte erstaunt, dass er weinte. Hilfe suchend warf sie Masra Henry einen Blick zu. Diese Seite hatte sie an ihm, dem stets Resoluten, Zielstrebigen, aber auch Verschlossenen, noch nie gesehen.

Masra Henry zuckte nur die Achseln. Karini empfand ein starkes Bedürfnis, Masra Martin zu trösten, und rutschte ein Stück an ihn heran. Denn auch wenn er sie in den letzten Monaten immer wieder gedemütigt hatte, rührten seine Tränen sie zutiefst. Sie zögerte einen Moment, legte ihm dann aber entgegen jeglicher Etikette beruhigend eine Hand auf den Arm. Seine Haut war warm und weich, und Karini spürte überrascht, dass sie die Berührung genoss. Ihr Körper wurde von einem angenehmen Prickeln ergriffen, und alles um sie herum schien einen Augenblick in weite Ferne zu rücken.

»Dein Vater ist jetzt um die halbe Welt gereist, und ich bin mir sicher, er wäre nicht nach Surinam zurückgekommen, wenn er nicht auch vorhätte, dich zu sehen«, sagte sie schließlich sanft.

»Ja, nun warte doch erst einmal ab, das Schiff hat vor gerade einmal vierundzwanzig Stunden angelegt. Ich denke, dein Vater hat erst mal andere Dinge regeln müssen.« Karini war Masra Henry dankbar für seine Unterstützung.

Masra Martin hob den Kopf und blickte ihr direkt ins Gesicht. Für einen kurzen Moment meinte Karini, so etwas wie Dankbarkeit in seinen geröteten Augen zu erkennen, dann wurde sein Blick hart. Er schüttelte ihre Hand ab, rappelte sich auf und strich sein Hemd gerade. »Ich würde gerne … etwas allein sein.«

Masra Henry stand auf, hob kurz die Arme und ging zur Tür. Karini wollte sich vom Boden hochstemmen, als Martin ihr die Hand zu Hilfe reichte. Erstaunt griff sie zu. Es war das zweite Mal, dass sie ihn heute berührte, und auch jetzt durchfuhr sie ein Kribbeln. Er zog sie hoch und stand plötzlich ganz dicht vor ihr.

»Danke«, flüsterte er und ließ den Blick aus seinen dunkelbraunen Augen einen kurzen Moment auf ihr ruhen. Karinis Herz machte einen ungelenken Hüpfer.

Die Blume von Surinam
00000000000_cover.html
b978-3-8387-2451-5_000016.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000042.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000110.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000122.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000132.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000141.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000249.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000268.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000373.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000574.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000669.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000832.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000971.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001143.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001271.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001443.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001486.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001669.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001785.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001948.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001998.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002017.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002178.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002227.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002342.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002506.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002646.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002768.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002873.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003037.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003096.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003188.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003295.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003420.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003498.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003543.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003730.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003813.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004014.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004118.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004239.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004338.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004427.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004454.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004697.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004898.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004917.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005068.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005131.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005351.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005497.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005601.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005799.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005861.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006105.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006209.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006428.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006516.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006618.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006792.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006894.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006956.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007089.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007323.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007514.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007647.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007820.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007839.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008015.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008164.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008221.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008301.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008376.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008547.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008772.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008934.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009161.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009243.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009377.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009489.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009558.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009731.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009935.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010024.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010222.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010332.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010431.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010503.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010606.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010710.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010776.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010840.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010873.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010930.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010977.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011179.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011205.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011254.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011306.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011424.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011502.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011552.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011607.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011791.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011849.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011934.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012208.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012309.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012394.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012413.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012518.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012582.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012881.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012938.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012986.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013044.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013140.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013219.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013265.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013309.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013362.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013432.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013568.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013789.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013823.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013905.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014024.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014087.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014259.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014371.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014486.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014561.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015148.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015218.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015299.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015336.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015584.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015647.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015667.xhtml