Kapitel 10

Julie? … Julie?«

Irgendwo aus weiter Ferne hörte Julie eine Stimme, die nach ihr rief. Aber es war so dunkel. Sie wollte schlafen, und zudem war ein dumpfer Druck in ihrem Kopf.

»Julie, mach die Augen auf!«

Julie erkannte die Stimme, es war Jean. Warum weckte er sie? Julie versuchte die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei. Je mehr sie sich anstrengte, desto größer wurde der Schmerz in ihrem Kopf. Sie wollte ihre Hand zur Stirn führen, doch auch ihr Arm schmerzte und gehorchte ihr nicht recht. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie keineswegs geschlafen haben konnte. Mit einem Ruck zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Das Licht stach schmerzhaft, und sie versuchte, den Kopf abzuwenden, doch auch das tat weh. Was war nur los?

»Julie! Dem Himmel sei Dank! Du bist wach.«

Julie sah, wie sich eine Gestalt über sie beugte und ihr liebevoll über das Haar strich. »Was ist passiert?«, flüsterte sie. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und sie meinte, Sand zwischen ihren Zähnen zu spüren. »Wasser … kann ich einen Schluck Wasser haben?«

»Natürlich.« Jean schob vorsichtig seinen Arm hinter ihre Schulter, richtete sie etwas auf und hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen. Gierig trank sie ein paar Schlucke. Als sie die Lippen vom Glas löste, ließ Jean sie sanft zurück in die Kissen gleiten. Jede Faser ihres Körpers schmerzte. Wie war das möglich? Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, und sah sich um. Sie lag in ihrem Bett, daneben saß Jean mit besorgtem Blick, immer noch das Glas Wasser in der Hand. Hinter ihm erkannte sie die Gestalt von Aniga mit einem Lächeln auf den Lippen. Ja, sie sah irgendwie erleichtert aus.

»Julie, ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Jean stellte das Glas beiseite und nahm ihre Hand in seine. »Weißt du, was passiert ist?«

Julie versuchte, sich zu erinnern. Sie war … sie war in die Felder geritten, um irgendetwas mit Jean zu besprechen. Sie hatte ihn nicht gefunden. Am Ende eines Weges hatte Fina gescheut und … sie hatte noch ein Fauchen gehört! Schlagartig war sie hellwach. »Fina? Was ist mit Fina?«

Jean lachte auf. »Dem Pferd geht es gut, sie hat nur ein paar Kratzer, das wird verheilen. Du hast unsagbares Glück gehabt. Der Jaguar hätte dich auch … aber deine Stute hat ihm den Rest gegeben.«

»Ein Jaguar? Und du meinst, sie hat ihn abgewehrt?«

»Ja, er lag ein Stück von dir entfernt, mit zertrümmerten Knochen. Er wäre vermutlich sowieso verendet, aber wir haben ihn zur Sicherheit erschossen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn …« Er schluckte hörbar, und seine Stimme versagte. Er wandte den Kopf ab und räusperte sich.

Julie wurde bewusst, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte, und sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Es war ja gut gegangen, bis auf die Schmerzen, vor allem im Kopf. Vorsichtig bewegte sie die Beine und die Arme, alles schmerzte und gehorchte ihr nur zögerlich, aber es schien nichts gebrochen.

Sie stöhnte leise. Jean war sofort wieder an ihrer Seite. Sie sah Tränen in seinen Augen glitzern. Liebevoll drückte er ihre Hand immer und immer wieder zaghaft.

»Aniga hat dich untersucht, du hast ein paar Prellungen, aber es ist nichts gebrochen. Nur eine große Beule am Kopf, da wirst du ein paar Tage Schmerzen haben.« Er hielt kurz inne. »Du hast Glück gehabt«, fuhr er leise fort, »wir haben Glück gehabt … und … Julie? Warum … warum hast du denn nichts gesagt?«

Nichts gesagt? Julie verstand nicht, was Jean meinte. Sie war doch losgeritten, um ihm etwas zu sagen, wegen … sosehr sie auch versuchte, sich zu erinnern, ihr fiel der Grund nicht ein.

»Ich … ich wollte doch zu dir reiten und … und etwas mit dir besprechen … ach, ich weiß auch nicht.«

Julie sah, dass er jetzt schmunzelte, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz, der nicht von den Tränen herrührte. Er drückte ihre Hand jetzt ganz fest. »Aniga sagt … sie hat gesagt, dass du in deinem Zustand gar nicht aufs Pferd hättest steigen sollen.«

»In meinem Zustand?« Julie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

Da trat Aniga an ihr Bett. Das schwarze runzelige Gesicht der alten Frau strahlte förmlich. »Misi muss sich jetzt schonen, war großer Schreck für Misi und hätte auch für Baby schlimm ausgehen können. Misi sollte nicht mehr steigen auf das Pferd.«

»Baby?« Julie setzte sich ruckartig im Bett auf. Ihr Kopf reagierte mit einem unfassbaren Dröhnen.

Aniga legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und drückte sie wieder sanft zurück in die Kissen. »Ja, Baby … Misi schwanger.«

»Aber ich … ich dachte …« Julie war sprachlos und spürte, wie Tränen ihre Wangen herabliefen. Sie war schwanger! Dabei hatte sie nicht damit gerechnet, überhaupt noch einmal ein Kind auszutragen. Sie hatte ihr Unwohlsein der letzten Wochen auf Fieber oder eine schlimme Krankheit geschoben. Sie hatte sich Sorgen um ihre Zukunft und um die ihrer Familie gemacht. Aber nie hatte sie daran gedacht … sie war doch schon so alt! Mit Ende dreißig bekam man doch keine Kinder mehr. Außerdem … Sie und Jean hatten nach ihrer Hochzeit versucht, noch ein Kind zu bekommen, aber es hatte nicht klappen wollen. Julie war anfangs sehr traurig gewesen, hatte es dann jedoch auf das Fieber geschoben, das bei vielen Frauen in Surinam als Ursache für unerfüllten Kinderwunsch galt. Und dann hatten sie sich um andere Dinge kümmern müssen, die Plantage, Henry und Martin … dass sie gerade jetzt noch einmal … Sie konnte es kaum fassen.

»Ich freu mich so«, flüsterte Jean ihr zu und strahlte über das ganze Gesicht.

Julie drückte seine Hand und betrachtete ihn zärtlich. Sie wusste, dass es an ihm genagt hatte, nichts von ihrer Schwangerschaft mit Henry gewusst zu haben und seinen Sohn erst kennengelernt zu haben, als dieser schon fast ein Jahr alt gewesen war. Julie sah in Jeans strahlendes Gesicht und horchte in sich hinein. Nein, sie empfand keine grenzenlose Freude, eher eine vorsichtige Skepsis. Jetzt noch einmal ein Kind? Die Plantage war immer noch nicht aus den gröbsten Problemen heraus, und manchmal dachte sie daran, was wäre, wenn sie Rozenburg nicht erhalten konnten. Wie würden sie dann ihren Lebensunterhalt bestreiten? Würde Jean als Buchhalter arbeiten? Müssten sie dann in der Stadt leben? Wenn sie jetzt schwanger war, würde sie sich nicht mit vollem Einsatz auf der Plantage einbringen können. Auch später nicht, ein Baby forderte schließlich viel Aufmerksamkeit. So recht konnte Julie sich noch nicht freuen. In Anbetracht von Jeans glückseligem Gesichtsausdruck rang sie sich jetzt aber ein Lächeln ab. Irgendwie würden sie auch das schaffen.

Die Blume von Surinam
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