Kapitel 9
Inika machte sich große Sorgen um Misi Juliette. Sie hatte so leblos in den Armen des Masra gelegen, das konnte nichts Gutes bedeuten. Unschlüssig stand sie auf dem Weg, der das Dorf durchzog, und wusste nicht, ob sie zum Haus gehen oder lieber im Dorf warten sollte. Ihre Mutter war Liv und Kiri zu Hilfe geeilt, Karini war bei den Pferden. Inika hätte sich auch gerne nützlich gemacht, wusste aber nicht, was sie tun sollte.
Als sie aus Richtung der hinteren Hütten laute Männerstimmen hörte, wurde sie neugierig. Die Männer hatten vorhin das riesige Tier genau in diese Richtung getragen. War das wohl derselbe Jaguar gewesen, dem sie nur knapp entkommen war? Ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken.
Als sie nun um die Ecke bog, sah Inika, dass die Männer das Tier am Balken zwischen zwei Hütten aufgehängt hatten. Jetzt standen sie in einer großen Traube um den Kadaver herum und diskutierten lauthals. Inika verstand nicht genau, worum es ging, aber es hatte wohl mit der Aufteilung der Trophäen zu tun. Die ehemaligen Sklaven trugen gerne Anhänger aus den Krallen dieser Tiere. Angeblich schützten sie vor Geistern und Flüchen, machten gesund und stark.
Die Inder standen etwas abseits und beäugten das Treiben der Schwarzen. Sie hatten kein Interesse an den Überresten des Jaguars. Für Hindus hatten andere Dinge gewichtige Bedeutung, wenn es um Glück oder Unglück ging.
Inika erspähte ihren Vater zwischen den Männern. Er redete leise, aber sichtlich aufgeregt auf einen anderen Mann ein. Inika musste daran denken, wie sehr sich die Beziehung zu ihrem Vater doch verändert hatte, seit sie in Surinam waren. Er war viel ernster als früher. Er versorgte sie und ihre Mutter, aber die vertrauten und liebevollen Momente waren selten geworden. Nicht nur zwischen ihm und ihr, auch gegenüber ihrer Mutter verhielt er sich anders. Inika hatte die beiden des Öfteren beim Streiten erwischt. Dies hatte ihr Sorgen bereitet, sie hatte es aber auf die angespannte Situation im Dorf geschoben. Denn unter seinen Landsleuten hatte ihr Vater sich im vergangenen Jahr nicht nur Freunde gemacht. Inika wusste nicht genau, warum manche ihm gegenüber so abweisend und manchmal sogar aggressiv waren. Ihre Mutter hatte ihr nur erklärt, dass einige der Inder es nicht gut fanden, dass Kadir sich gegenüber Masra Jean so hervortat. Inika fand das ungerecht. Ihr Vater hatte immerhin in den ersten Monaten häufig übersetzt und somit auch dazu beigetragen, dass sie alle schnell auf der Plantage heimisch werden konnten.
Neugierig betrachtete sie ihren Vater. Sie wusste, dass er gerne diskutierte, so aufgewühlt wie jetzt hatte sie ihn allerdings selten gesehen. Worum es wohl ging? Inka schlich näher und trat von der Seite einer Hütte an die Gruppe heran. Die Männer standen mit dem Rücken zu ihr. Sie hörte ganz deutlich die Stimme ihres Vaters.
»Ich sage dir doch, Baramadir, es ist alles geregelt.«
Inika kannte Baramadir nur zu gut. Er war einer der auffälligsten Arbeiter, hochgewachsen und kräftig und für einen Inder eher grobschlächtig. Man erkannte ihn immer an seinem blauen Turban. Er war nicht sonderlich beliebt im Dorf, und auch Inika fühlte sich in seiner Gegenwart immer unwohl. Inika fragte sich, was ihr Vater wohl mit ihm zu schaffen hatte.
»Ich hoffe es. Dein Wort zählt, und du hast zugesagt, dass alles ohne Probleme ablaufen wird.«
»Der Masra wird seine Zustimmung geben, mach dir keine Sorgen. Die Misi hat nichts zu sagen. Sie können uns unsere Traditionen nicht verbieten.«
Baramadir lachte. Es klang bedrohlich. »Ich verlasse mich auf dich. Im neuen Jahr will ich das Mädchen zu meiner Frau nehmen. Vergiss nicht, Kadir, das wird dir und deiner Frau das Leben leichter machen. Und um deine Tochter kümmere ich mich dann schon.«
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Um dann in rasender Geschwindigkeit um Inika herumzuwirbeln. Sie stützte sich mit der Hand an der Hüttenwand ab, um nicht zu fallen. Das konnte doch unmöglich wahr sein? Wie konnten ihre Eltern das tun? Und warum hatten sie ihr von den Plänen noch nichts erzählt? In ihrem Hals stieg ein heißes Brennen empor, sie drehte sich um und hastete davon. Tränen rannen über ihre Wangen, während ihre Füße wie besessen über den Boden trappelten.
Inika rannte über den Wirtschaftshof, am Plantagenhaus vorbei in den vorderen Garten. Dort versteckte sie sich im Schatten des großen Mangobaumes am Ufer des Flusses. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Stamm und umschlang ihre Knie mit den Armen. Trotz der tropischen Hitze war ihr unsäglich kalt. Sie zitterte regelrecht und versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Immer wieder schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge.
Baramadir. Er war dreißig Jahre älter als sie, wenn nicht sogar mehr. Er war groß, grob und benahm sich schlecht. Wie kamen ihre Eltern nur darauf, dass sie ihn heiraten sollte? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Baramadir war bekannt dafür, trotz aller Widrigkeiten immer viel Geld zu haben. Keiner wusste genau, wie es ihm gelang, immer ein bisschen mehr Geld zu verdienen als die anderen Inder, aber man munkelte so einiges.
Doch Inika war es egal, ob Baramadir Geld hatte oder nicht. Sie hatte bis jetzt nicht einmal selbst ans Heiraten gedacht, wieso kam dann ihren Eltern diese Idee? Ging es ihnen so schlecht, dass sie ihre Tochter als Pfand abgeben mussten? Es war die einzige Erklärung. Gleich drückte Inika das schlechte Gewissen. Dann wäre es ihre Pflicht, ihren Eltern zu helfen. Aber doch nicht so! Zutiefst traurig ließ sie ihren Tränen freien Lauf.