Kapitel 16
Wenn das so weiterging, würde sie bald sterben, da war Inika sich bereits vier Monate nach der Hochzeit sicher. Unter ihrem Sari war sie grün und blau von den groben Attacken Baramadirs, und zwischen den Beinen schmerzte es mehr denn je. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Albtraum endete, aber dafür hätte jemand sie anhören müssen. Und wem sollte sie ihr Leid anvertrauen? Einmal hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und ihrer Mutter alles erzählen wollen, diese hatte aber sofort abgewinkt.
»Das gibt sich bald, du wirst dich an die Ehe gewöhnen. Wie wir alle«, hatte sie gesagt, auch wenn ihr Blick durchaus das Mitgefühl in ihrem Herzen verriet.
Inika war bitter enttäuscht von ihrer Mutter. Tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht, dass ihr Vater ihrer Mutter diese Dinge antat, und damit hatte ihre Mutter leicht reden, aber dass sie ihr nicht einmal zuhörte, versetzte Inika einen Stich. Sie ging ihr seither aus dem Weg. Kurz hatte sie gehofft, Misi Juliette könnte vielleicht etwas tun. Schließlich hatte sie auf der Hochzeit laut bekundet, dass sie mit Inikas Verheiratung nicht einverstanden war. Aber die Misi trug schwer an ihrer Schwangerschaft, und man sah sie nur selten außerhalb des Plantagenhauses, geschweige denn im Dorf der Arbeiter. Die Misi wurde von Übelkeit geplagt und war oft tagelang zu schwach, um das Bett zu verlassen. Masra Jean hatte aus Sorge mehrmals nach der schwarzen Heilerin schicken lassen. Von ihrer Mutter wusste Inika, dass diese absolute Ruhe für die Misi angeordnet hatte. Jeder im Haus hielt sich strikt daran, der Misi diese Ruhe zu verschaffen. Inika würde da keine Ausnahme machen.
Fortlaufen wäre eine Lösung, dachte sie jetzt immer öfter. Aber wohin? Misi Erika würde sie zurückschicken und allein im Regenwald würde sie nur wenige Tage überleben.
In ihrer Not hoffte Inika sogar, Karini und die jungen Masras würden bald zurückkehren. In ihrer Gesellschaft hatte sie sich wohlgefühlt. Vielleicht hätte sie dann wenigstens jemanden, mit dem sie reden konnte, auch wenn Karini ihr ganz sicher nicht helfen konnte. Aber die weilte in der Stadt. Was also sollte sie tun? Inika sah keinen Ausweg.
Eine Möglichkeit ergab sich ganz plötzlich Anfang Juni. Zwei Missionare und zwei Schwestern der Herrnhuter Gemeine legten eines Abends mit einem großen Zeltboot und mehreren Ruderern an und machten auf Rozenburg Rast.
Masra Jean begrüßte die Reisenden auf der vorderen Veranda, nicht ohne sich für die Abwesenheit der Misi zu entschuldigen. »Meine Frau ist in anderen Umständen und fühlt sich nicht wohl.«
Inika, die seit Karinis Abwesenheit gelegentlich im Haushalt half, bekam den Auftrag, Getränke für die Gäste zu bringen.
Als sie das Tablett auf den Tisch stellte und aus der Karaffe Wasser mit Orangensaft eingoss, konnte sie nicht umhin, das Gespräch am Tisch zu belauschen.
»Wir werden morgen mit der ersten Flut vor Sonnenaufgang wieder aufbrechen. Haben Sie Dank, Mijnheer Riard, dass wir bei Ihnen übernachten dürfen.«
Mit der ersten Flut vor Sonnenaufgang hallten die Worte in Inikas Kopf wider. Vielleicht war das ihre Chance! Vor Aufregung bekam sie eine Gänsehaut. Ihr wurde heiß und kalt, und sie musste sich zusammenreißen, das Zittern ihrer Hand unter Kontrolle zu halten.
Sie brachte die Karaffe wieder in den Küchenbereich und begab sich auf Anweisung von Kiri zum Gästehaus, um die Zimmer herzurichten. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Plantage Rozenburg betrat Inika wieder die schönen Räume. Schmerzlich erinnerten sie die sauberen Zimmer und die weißen, weichen Betten an die kurze, schöne Zeit, die sie bei Misi Erika gehabt hatte. Dieses Leben schien eine Ewigkeit entfernt zu sein. Und jetzt? Jetzt bestand ihr Leben aus dem vollkommenen Gegenteil. Inika strich verbittert über die Laken. Wenn sie hier fertig war, würde sie zurückmüssen in Baramadirs Hütte. Er war sicherlich wütend, weil sie bei seiner Rückkehr aus den Feldern nicht auf ihn wartete. Dass sie auf Geheiß von Masra Jean im Haus geholfen hatte, zählte für ihn nicht als Argument. Inika schauderte bei dem Gedanken an das, was ihr heute noch widerfahren würde. Und morgen. Und übermorgen. Und an allen anderen Tagen, die sie hier auf der Plantage verbrachte. Nachdenklich verrichtete sie ihre Tätigkeiten, strich wiederholt die Laken glatt, stellte Schüsseln und Waschkannen parat. Nein, das wollte sie nicht mehr. Nie wieder wollte sie einen Fuß in Baramadirs Hütte setzen, nie wieder diese Gewalt erfahren, die Demütigung. Und es gab nur eine Lösung: Sie musste fort. Vielleicht gelang es ihr ja, irgendwo ein anderes Leben zu führen, auf einer der Plantagen im Hinterland, oder vielleicht doch bei Misi Erika, aber auch wenn sie die Flucht nicht schaffen und vielleicht gar sterben würde, war das allemal besser, als jede Nacht unter dem schwitzenden und stinkenden Körper dieses Mannes zu liegen. Alles in ihr wehrte sich gegen den Gedanken, noch einen Tag länger auf Rozenburg zu bleiben.
Und jetzt, da sie die Betten für die Gäste bereitete, nahm ein Plan in ihrem Kopf Gestalt an. Die Gäste kamen ihr wie gerufen. Die Herrnhuter waren christliche Missionare, sie würden ihr nichts tun. Wenn Inika es nur bis auf das Schiff und weit fort von der Plantage schaffen würde …
Sie eilte sich, ihre Arbeit fertigzustellen, und entschuldigte sich bei Kiri unter dem Vorwand, ihr sei nicht gut. Vorsichtig schlich sie in den Garten und versteckte sich hinter einigen Büschen, bis ihre Mutter und Kiri nicht mehr auf der hinteren Veranda zu sehen waren. Dann lief sie um das Plantagenhaus herum. Erleichtert stellte sie fest, dass auch die vordere Veranda inzwischen leer war, vermutlich hatte sich Masra Jean mit den Gästen in den Salon zurückgezogen. Misi Juliette hatte ihr Schlafzimmer den ganzen Tag nicht verlassen, und die Ruderer des Bootes waren schon vor Stunden in Richtung Arbeiterdorf gegangen.
Inika huschte im Schutz der langen Schatten der Büsche und Palmen am Rand des Gartens zum Flussufer. Dort lag sicher vertäut das Zeltboot der Herrnhuter. Vorne im Bug war allerlei Gepäck verstaut, das nun mit Planen abgedeckt war. Inika hatte keine Ahnung, wohin die Reise der Missionare führte, da sie aber auf die Flut warteten, schloss sie, dass es auf jeden Fall in Richtung Landesinnere und nicht in Richtung Stadt ging.
Inika rutschte mit nackten Füßen vorsichtig die Uferböschung zum Anleger hinab. Sie lauschte hinaus in die Dunkelheit und blickte sich wachsam um. Als kein menschlicher Laut zu hören war, hob sie vorsichtig eine der Planen am Bug des Bootes an. Ihr Blick fiel auf einige Holzkisten und auf die Lücken zwischen ihnen. Ob sie …?
Inika maß den Zwischenraum mit den Augen ab. Ja, es könnte gehen. Sie würde es versuchen, aber jetzt war es noch zu früh. Die Herrnhuter würden erst kurz vor Sonnenaufgang weiterreisen und bis dahin würde Baramadir Alarm schlagen. Schweren Herzens fasste sie den Entschluss, bis zur späten Nacht zu warten und noch ein letztes Mal in die Hütte zurückzukehren. Das war die Bedingung dafür, den Plan in die Tat umsetzen zu können.
Noch nie war ihr eine Nacht so unendlich lang vorgekommen. Baramadir lag schon einige Stunden in seiner Hängematte und schnarchte, als Inika sich schließlich aufgeregt von ihrem schmutzigen Deckenlager erhob. Vorsichtig tappte sie im Dunkeln aus der Hütte. Sie nahm nichts mit. Sie hatte ja auch nichts.
Den Weg zum Ufer bewältigte sie problemlos. Sie hoffte inständig, dass keiner der Ruderer für die Nacht als Wache abgestellt worden war, und atmete erleichtert aus, als sie das Boot verlassen im Mondschein liegen sah. Inika huschte über den Anleger. Vorsichtig kletterte sie ins Boot und versuchte, sich mittig zwischen die Kisten zu zwängen. Es war eng, aber es gelang ihr schließlich, das Gepäck etwas beiseitezuschieben. Neben den Kisten lagen einige Säcke mit Getreide oder Reis. Inika zog und zerrte an ihnen, sie waren schwer, aber schließlich schaffte sie es, einen Sack so vor die Lücke zu ziehen, in die sie sich gequetscht hatte, dass man sie nicht sofort entdecken würde, selbst wenn die Plane etwas angehoben wurde. Sie zitterte am ganzen Körper vor Anstrengung und lauschte aufmerksam in die Stille.
Die Zeit, bis die Flut eintraf, kam ihr noch einmal unendlich lang vor. Ihr Körper schmerzte bereits von der eingeengten Stellung. Dann aber ging alles ganz schnell. Stimmen erklangen, Ruder klapperten, das Boot schwankte, die Fahrt ging los. Inika fiel ein Stein vom Herzen. Wie sehr hatte sie befürchtet, ihr Verschwinden würde bemerkt werden, bevor die Herrnhuter aufbrachen! Nun hoffte sie, dass möglichst viel Zeit verging, bis Baramadir aus seiner Hängematte stieg.
Schon bald jedoch wich Inikas Glücksgefühl der quälenden Gewissheit, einen Fehler gemacht zu haben. Inika hatte nicht bedacht, etwas zu trinken oder zu essen mitzunehmen. Unter der Plane war es heiß und stickig, und schon bald war ihre Kehle trocken. Inika wurde von starkem Durst gequält. Sie setzte ihre Hoffnungen auf den ersten Halt. Am Abend des ersten Tages machte das Boot endlich wieder am Anleger einer Plantage fest. Diesmal allerdings blieben die Ruderer in der Nähe. Inika hörte ihre Stimmen und ihr Schnarchen, traute sich aber trotz des quälenden Durstes nicht, ihr Versteck zu verlassen. Am nächsten Tag, so sprach sie sich selber Mut zu, würde sie mehr Glück haben. Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil, in dieser Nacht schliefen anscheinend sogar alle Passagiere im Boot, anstatt an Land zu gehen. Inika hatte das Gefühl, zu vertrocknen, und ihr Magen knurrte so laut, dass sie meinte, jeder auf dem Boot müsse es hören. Der Tag wurde noch heißer. Und am Morgen danach öffnete Inika noch einmal kurz die Augen, um auf die dunkle Plane zu blicken, dann schwanden ihr die Sinne.