Kapitel 28
Am 22. Juni warteten Julie und Jean am Hafen von Paramaribo sehnsüchtig auf das Schiff, das bereits vor der Flussmündung des Surinam lag und noch an diesem Tag in den Fluss und somit auch in den Hafen einlaufen sollte. Unruhig lief Julie unter den Palmen an der Hafenkante entlang. Jean hatte sich auf eine Bank gesetzt und harrte so auf seine Art aus.
Als sich beim Fort Zeelandia endlich der Mast am Himmel auf Paramaribo zuschob, fiel Julie ein Stein vom Herzen. »Sie kommen!«
Julie ging mit Jean zu den Anlegestegen, von wo aus die kleinen Zeltboote starteten, um Passagiere und Seeleute von den Schiffen zu holen. Heute bewegten sich nur wenige Boote in Richtung des Frachtschiffes, und dennoch hatte Julie das Gefühl, Stunden seien vergangen, bis das Schiff Anker geworfen hatte und die kleinen Zeltboote an die Backbordseite des großen Schiffes stießen, dort warteten, dann die Fracht und die Passagiere aufnahmen und wieder ablegten.
Julie beschirmte ihre Augen mit der Hand und fokussierte ihren Blick auf der Suche nach Henry. Plötzlich sah sie in einem der Boote einen dunklen Haarschopf, der, wie sie meinte, zu einer Frau gehörte. »Oh Jean, da ist Karini! Karini ist mit dabei!« Sie zupfte vor Freude an seinem Ärmel. Sie sah noch drei weitere Gestalten an Bord, konnte aber keine Details erkennen.
Ihre Freude verflog schnell, als das Zeltboot am Anleger festmachte. Henry saß zwischen zwei Matrosen, und Julie schrie erschreckt auf, als sie sah, dass seine Hände gefesselt waren. Die beiden Männer zogen ihn jetzt auf die Füße und schoben ihn wie einen Schwerverbrecher zwischen sich auf den Holzsteg. Julie nahm Jeans Hand. Sie war wie gelähmt vor Schreck, ihren Sohn so auf dem Pier stehen zu sehen. Hinter ihm entstieg Karini dem Boot. Das Mädchen sah müde und erschöpft aus und … Julie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, war das nicht ein Babybauch?!
Julie ließ Jeans Hand los und rannte den beiden entgegen. »Henry, Karini!«, rief sie und winkte. Sie hätte die ganze Welt umarmen können, so glücklich war sie, beide hier in Surinam zu sehen. Als sie ihren Sohn jedoch umarmen wollte, hielt der eine Matrose sie zurück.
»Mevrouw, wir haben den Auftrag, den Gefangenen sofort zu Gericht zu bringen.«
Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch, auch wenn sie meinte, in seinem Blick so etwas wie Bedauern erkannt zu haben. Julie spürte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Dennoch wandte sie den Blick nicht ab.
»Mutter!« Henrys Stimme war voller Liebe und Wärme und er strahlte sie an. »Alles ist gut, mach dir keine Sorgen um mich.« Julie war ihm dankbar für seine tröstenden Worte, auch wenn sie sich gewünscht hätte, diejenige zu sein, die tröstete. Mit einem Kopfnicken fügte Henry hinzu: »Kümmere dich um Karini.«
Julie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Ja, das werde ich tun. Mach dir keine Sorgen. Jean wird dich begleiten, ich komme dann nach.« Henry nickte ihr kurz zu und dann musste Julie mit ansehen, wie ihr Sohn von den beiden Matrosen zu einer Droschke gebracht wurde. Jean verwehrten die Matrosen allerdings die Fahrt im Wagen, sodass er sich eine eigene Kutsche heranwinkte.
Julie fluchte leise, dann wurde sie gewahr, dass Karini neben ihr stand. Sie schloss das Mädchen in die Arme. »Oh, Karini, ich bin so froh, dass ihr wohlbehalten wieder da seid!«
»Misi Juliette, ich freue mich auch, wieder hier zu sein! Die letzten Wochen waren nur sehr aufregend und …«
»Komm, das kannst du mir zu Hause erzählen. Lass uns zum Stadthaus fahren.« Julie sah, dass das Mädchen erschöpft war.
Karini folgte ihr langsam zu den Droschken.
Im Wagen bemerkte Julie, dass Karini sie immer wieder von der Seite ansah. »Karini, möchtest du mir etwas sagen?«
»Ja, Misi, aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Henry und ich … wir haben … wir mussten … wir haben geheiratet.«
Julie war ehrlich verblüfft. Sie wusste zwar, dass Henry Karini aus Liebe nachgereist war, aber dass sie jetzt gleich als ganze Familie zurückkehrten, das kam ein bisschen überraschend. Aber sie freute sich darüber.
»Das sind ja Neuigkeiten. Ich freue mich für euch! Ach, ich bin so unendlich froh, dass ihr wieder da seid. Über alles andere reden wir später.« Sie blickte kurz nachdenklich auf Karinis zartes Bäuchlein und nahm das Mädchen liebevoll in den Arm. »Alles wird gut.«
Im Stadthaus angekommen empfingen Erika, Wim, Thijs und Sarina Karini fröhlich. Alle waren überrascht von ihrer Schwangerschaft, aber jeder hatte so viel Anstand, das Mädchen nicht darauf anzusprechen. Nur der Blick von Liv, die kalte Getränke für alle herbeibrachte, blieb einen Augenblick zu lange an Karini hängen. Julie war überrascht, als Karini beschämt den Blick senkte. Das Mädchen schien sich nicht so recht über ihren Zustand zu freuen. Dann aber zog es Julie auch schon zu Henry. Sie winkte kurz in die Runde und machte sich gleich wieder auf den Weg. Doch gerade, als sie das Haus verlassen wollte, trat Jean durch die Tür.
Er nahm sie in den Arm. »Julie, es ist alles in Ordnung. Henry ist dort gut untergebracht und muss jetzt nur noch zwei oder drei Tage warten, bis wir alle wieder zur Anhörung gerufen werden. Ich denke, dann werden sich die Umstände aufklären, und man wird ihn freilassen.«
Julie kannte Jean gut genug, um die Zweifel in seiner Stimme auszumachen. Es war beruhigend zu wissen, dass es Henry gut ging und nun endlich etwas geschah – aber mit welchem Ende, das stand in den Sternen.
Jean schien ihre Zweifel zu spüren und drückte sie liebevoll an sich. »Das stehen wir jetzt auch noch durch, Julie. Und bald ist das alles vorbei.«