Kapitel 12
Wim stand am Fenster und blickte hinaus. Seine Fingerspitzen strichen vorsichtig über die zarte Gaze, die auf den Rahmen gespannt war, während er über seine ersten vierundzwanzig Stunden auf surinamischem Boden nachdachte.
Das Klima in diesem Land war so heiß. Gestern war er viel zu aufgeregt gewesen, um die Hitze wirklich wahrzunehmen, aber jetzt hatte er bereits die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet und trotzdem nicht das Gefühl, dass es Erleichterung brachte.
Gesine schien die Hitze körperlich noch mehr zuzusetzen. Sie hatte sich gleich nach dem Frühstück mit Kopfschmerzen entschuldigt. Wim war nicht entgangen, dass sie die Aufmerksamkeit, mit der das junge schwarze Mädchen um sie herumlief, zu genießen schien. Mehrmals hatte Wim aus dem Nebenzimmer leise Gespräche belauscht, im Stile von: »Ja Misi, etwas kaltes Wasser zum Waschen bringe ich noch, möchte die Misi auch noch etwas zu trinken?« Wim schmunzelte. Das gefiel Gesine sicherlich. Und er war froh, ihre Leiden jetzt nicht ertragen zu müssen.
Dabei war sie bei Weitem nicht die Einzige, die litt. Wims Gedanken wanderten zum vorangegangenen Abend. Dass Gesine mit der Erwähnung von Pieter Brick starke Aufregung ausgelöst hatte, war seiner Frau selbst wohl bis jetzt nicht bewusst geworden.
»Etwas tollpatschig, diese Mohren«, hatte sie mit einem Blick auf das am Boden liegende Tablett der schwarzen Haushälterin pikiert gesagt. Wim aber hatte die Spannung sofort gespürt. Die Blicke, die Juliette, ihr Mann und der Junge sich zugeworfen hatten, konnten nur eines bedeuten: Hier lag etwas im Argen.
Nach dem Abendessen hatte Jean Wim zu einem Umtrunk unter Männern in sein Büro gebeten. Wim wusste, was das bedeutete, Juliettes Mann war ganz offensichtlich ein Mann der Tat. Er hatte zwei Gläser Dram eingeschenkt und Wim eines gereicht.
»Wim, erlaube mir die Frage: Was hat dich wirklich nach Surinam geführt?«, hatte er nicht lange um den heißen Brei herumgeredet. »Versteh mich bitte nicht falsch, aber Julie regt das Thema Erbe immer sehr auf, sie ist seit deinem Brief sehr aufgewühlt.«
Sofort hatte sich Wims Gewissen gemeldet. Vielleicht war er zu egoistisch gewesen? Er war schließlich vor seinem eigenen Leben davongelaufen und stolperte, nein drängte dabei nun einfach in Juliettes Leben hinein. Aber er hatte das Erbe nur vorgeschoben, weil er nicht den Mut gehabt hatte, den wahren Grund für seine Reise zu offenbaren. Weder jemandem in den Niederlanden, noch Juliette in Surinam.
Juliettes Mann war ihm durchaus sympathisch. Er machte einen aufrichtigen Eindruck, und wie er sich um Juliette sorgte, rührte Wim zutiefst. Er selbst hätte seine Ehefrau lieber am anderen Ende der Welt gewusst. Natürlich hatte Gesine nicht wissen können, dass Pieter Brick in diesem Haus bekannt war, aber vieles wäre eben leichter, wenn Gesine einfach manchmal den Mund halten würde oder besser noch, gar nicht erst mitgefahren wäre.
Wim hatte also versucht, Jeans Sorgen zu beschwichtigen. Nichts lag ihm ferner, als dieser Familie Unbill zu bereiten. Wim bemühte sich, versöhnlich zu lächeln. »Jean, es war nicht meine Absicht, Juliette Kummer zu machen. Und es tut mir leid, dass meine Frau heute Nachmittag eine solche Aufregung ausgelöst hat. Aber wir konnten ja nicht ahnen...«
»Schon gut.« Jean winkte ab. »Du solltest nur wissen, dass Pieter Brick unserer Familie schon sehr viel Leid zugefügt hat. Sein plötzliches Wiederauftauchen hat … Julie etwas verstört.« Es war offensichtlich, dass Jean das Thema nicht vertiefen wollte.
Wim zögerte kurz. Pieter Brick war ihm vom ersten Moment an unsympathisch gewesen, und Jeans Bemerkung ließ darauf schließen, dass ihn sein Gefühl nicht täuschte. »Darf ich … darf ich fragen, in welchem Verhältnis ihr zu Brick steht?«, fragte er schließlich.
Jean gab einen leisen Seufzer von sich und zuckte die Achseln. »Er ist genau genommen Julies Schwiegersohn und … Martins Vater.«
»Oh.« Wim war ehrlich überrascht. Vor allem, weil Pieter Brick mindestens zehn Jahre älter war als Juliette.
»Mit wem … ich meine …?«
Jean bedachte ihn mit einem langen Blick. »Ist schon gut, du kannst das nicht wissen. Julies erster Mann Karl hatte eine Tochter, die damals kaum jünger war als Julie selbst. Julie hat von ihr auch erst nach der Hochzeit erfahren.«
Wim spürte, dass er zornig wurde. »Dieser Leevken, ich wusste damals schon, dass …«
Jean hob die Hand, und Wim hielt inne.
»Wim, es gibt in diesem Zusammenhang einiges, das du nicht weißt. Ich möchte dir den dringenden Rat geben, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Julie … spricht nicht gerne über ihre ersten Jahre hier in Surinam. Sie hat viel erdulden müssen und diese Dinge eigentlich überwunden. Dass du jetzt in einer Erbsache zu uns kommst, hat alte Wunden bei ihr aufgerissen.«
Wim war entsetzt. Ihn überkam das Gefühl, versagt zu haben. Er hätte Juliette damals beschützen müssen. Hätte er diese unselige Heirat doch nur verhindert! Jeans Worte ließen keinen Zweifel daran, dass Karl Leevken nicht der Mensch war, für den er sich bei Wims Vater ausgegeben hatte, ganz so, wie Wim selbst es vermutet hatte. Seine Cousine hatte offensichtlich gelitten, umso mehr berührte es ihn jetzt, dass sie anscheinend wirklich Angst vor ihm gehabt hatte.
»Oh bitte, Juliette sollte sich deswegen doch keine Sorgen machen, im Gegenteil!«
Jean bedachte ihn mit einem langen Blick, sagte aber nichts. Also fuhr Wim fort: »Es geht im Grunde um Folgendes: Leevken hat damals aus Juliettes Erbteil, den sie mit in die Ehe brachte, einen großen Betrag wieder in das Handelskontor meines Vaters investiert.« Wim lachte kurz leidlich auf. »Das war vermutlich der Brauthandel. Man kann diesem Leevken ja einiges nachsagen … aber das Geld hat er sinnvoll investiert. Heute ist daraus ein kompletter Betriebszweig des Kontors geworden. Und da die ganze Familie Gewinn daraus zieht, halte ich es nur für fair, dass Juliette auch wieder einige Anteile bekommt. Schließlich war es doch das Vermächtnis ihrer Eltern an sie.« Wim war froh, dass Jean das Thema angesprochen hatte und beobachtete ihn jetzt, wie er nachdenklich in sein Glas starrte und es dann mit einem Zug leerte.
»Das wäre natürlich sehr großzügig von dir, Wim. Ich weiß nur nicht …«
»Für Juliette besteht absolut kein Risiko.« Wim hob als Zeichen der Ehrwürdigkeit die Arme. »Ich würde ihr einige Anteile übertragen, und es ginge alleinig um eine Gewinnbeteiligung. Sollten die Anteile zu einem Verlustgeschäft werden, hat sie keinerlei Verpflichtungen, das übernimmt alles das Handelshaus Vandenberg.«
Wieder schwieg Jean einen Moment, und Wim wartete nervös auf die Antwort. Schließlich lehnte Jean sich nach vorne und stützte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Also gut, wenn du erlaubst, würde ich das gerne in Ruhe mit Julie besprechen.«
Wim fiel ein Stein vom Herzen, Jean schien seinem Vorschlag zumindest nicht vollkommen ablehnend gegenüberzustehen. Er lächelte und hob sein Glas. »Gerne. Ich bin ja noch eine Weile hier«, sagte er augenzwinkernd.
Jean lächelte. »Und wo wir gerade über das Geschäftliche sprechen: Könntest du mich vielleicht mit Thijs Marwijk bekannt machen? Diese Geschichte mit der Zuckermühle ist nicht uninteressant für Rozenburg.«
Wim reichte ihm die Hand. »Aber gerne, er wird sich freuen, dich kennenzulernen, da bin ich mir sicher.« Und das entsprach vollkommen der Wahrheit.