Kapitel 24

Karini wusste nicht mehr, wie viele Männer sie in den letzten Wochen die Stiege hinaufbegleitet hatten. Sie zählte am Abend nur das Geld, legte die Münzen sorgsam zu den anderen in ihr Versteck in dem kleinen Herbergszimmer bei Tante Dela und fiel todmüde ins Bett. Dann schlief sie bis weit nach Mittag, trank Tante Delas starken Kaffee und lauschte dabei den Erzählungen der anderen Mädchen, bevor sie sich mit Beke, Johanne und Karla wieder auf den Weg zu Onkel Alvers Gastwirtschaft machte. Es gab sogar Momente, in denen sie sich bei Tante Dela und den anderen Mädchen ein bisschen zu Hause fühlte. Das beißende Heimweh, das sie manchmal überfiel, wenn sie allein in ihrem Zimmer aufwachte, versuchte sie zu unterdrücken. Sie konnte nicht zurück nach Surinam, zumindest solange sie nicht das Geld für die Überfahrt gespart hatte. Sie hatte sogar einmal am Tisch laut überlegt, sich eine Anstellung als Dienstmädchen zu suchen, woraufhin Beke gelacht hatte. »Du bist lustig! Schau dich doch mal an: Du siehst aus, als wärest du einmal durch den Kamin gerutscht, du trägst nie Schuhe und … bist jetzt auch noch eine Hure. Glaubst du, irgendeine feine weiße Familie stellt dich an? So?«

Karini war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte mehrfach überlegt, wo sie noch mehr verdienen und damit schneller die für die Reise erforderliche Summe zusammenbekommen konnte. Außerdem sehnte sie sich, das musste sie sich eingestehen, nach einer Arbeit, bei der sie mehr Respekt vor sich selber haben konnte. Blanken dienen, das konnte sie, und schlechter würde sie dort sicher nicht verdienen, also war ihr diese Möglichkeit stets erstrebenswert erschienen. Jetzt aber musste sie Beke schweren Herzens recht geben. Ihr Traum zerplatzte wie eine reife Mango, die auf dem Boden aufschlug. Sie würde in diesem Land keine anständige Anstellung finden. Da war das, was sie jetzt gerade tat, doch das Ertragreichste, auch wenn sie sich tief in ihrem Inneren dafür schämte. Was würde ihre Mutter wohl sagen, wenn sie wüsste, dass sie ihren Körper verkaufte? Oder gar ihr Vater! Der ja aber in Wirklichkeit gar nicht ihr Vater war … Karini schüttelte den Gedanken ab. Sie würden es nie erfahren. Über diesen Teil ihrer Zeit in Amsterdam würde sie Stillschweigen bewahren, wenn sie zurückkam nach Surinam.

Karini schlurfte wie jeden Tag müde und übernächtigt nach zu wenigen Stunden Schlaf in Tante Delas Küche, setzte sich wortlos an den Tisch und nahm ihre Tasse Kaffee in Empfang. Kurz warf sie einen Blick zu dem kleinen Fenster, das auf den dunklen Hinterhof hinausführte. Dicke, weiße Flocken tanzten vom Himmel herab, wie die Samen des Seidenwollbaums, wie ihr Lehrer und auch Masra Henry immer gesagt hatten. Masra Henry! Karinis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ob er sie wenigstens vermisste? Das flaue Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich. Karini schob den Gedanken an Masra Henry beiseite, doch es war zu spät. Hastig sprang sie auf und rannte durch den Flur zum Abort, um sich dort laut würgend zu übergeben.

Johanne, die gerade aus ihrem Zimmer kam, hatte sie offensichtlich gehört. »Alles in Ordnung? Ist dir nicht gut?«, rief sie durch die geschlossene Tür.

Karini konnte nicht antworten.

Als sie später auf wackeligen Beinen wieder in die Küche kam, blickte sie in die besorgten Gesichter von Johanne, Beke, Karla und Tante Dela. »Kindchen, du hast doch wohl nicht etwa getrunken gestern Nacht! Du weißt, dass ihr das nicht dürft.«

»Nein, ich habe nichts getrunken.« Karini hielt sich den Handrücken vor den Mund. Der Geruch des Kaffees und irgendein anderer Geruch, nach saurer Milch oder gebratenen Eiern, ließ ihren Magen erneut rebellieren. Karini zwang sich, tief durchzuatmen. »Vielleicht hab ich etwas Falsches gegessen«, sagte sie schließlich und ließ sich matt auf ihren Stuhl fallen. Die Mädchen wandten sich wieder ihrem dampfenden Kaffee zu. Karini hingegen schob ihren Becher von sich fort.

Tante Dela schien ihr Leiden ernsthaft zu beunruhigen. »Kindchen, du hast es aber mit den Männern immer so gemacht, wie Jette es dir erklärt hat, oder? Ich meine mit … du weißt schon.«

Karini wusste, wovon Tante Dela sprach. Jette hatte ihr mehrmals und nachdrücklich die Benutzung der kleinen Sicherheit erklärt. Diese bestand aus einem Stück Baumwollstoff, das in Ölen und einer Paste aus Weihrauch getränkt wurde, um Schwangerschaften zu verhindern. Die Frauen führten es ein, bevor sie mit den Männern das Bett teilten.

Karini musste nicht lange überlegen. »Ja, ich habe es immer genau so gemacht, wie Jette gesagt hat.«

»Du hast auch jedes Mal einen frischen genommen?« Beke sah sie eindringlich an.

Karini war unsicher, zuckte dann aber die Achseln. »Ich glaube, ja.«

»Du glaubst?« Johanne stellte mit einem Knall ihren Kaffeebecher auf den Tisch. Karini zuckte zusammen.

»Karini, weißt du, was das bedeutet?«

Karini wusste es nicht.

Karla half ihr auf die Sprünge. »Mädchen … du hast dir ein Ei ins Nest gelegt! Du hast nicht aufgepasst … du bist schwanger!«

Karini traute ihren Ohren nicht. »Schwanger?« Nein, das war doch unmöglich! Sie hatte doch … sauer stieg ihr der Inhalt ihres Magens im Hals empor. Sie sprang auf und rannte wieder zum Abort. Würgend kauerte sie sich vor den Eimer. Nein! Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

Die hübsche weiße Pracht, die vor Wochen noch vom Himmel gefallen war, hatte sich binnen weniger Tage in einen grauen Matsch verwandelt. Nur auf den Dächern waren noch kleine weiße Mützchen zu sehen, die aber auch nach und nach abrutschten und mit einem leisen Platschen zu Boden fielen, wo sie sich mit dem restlichen grauen Schnee und dem immerwährenden Nieselregen vermischten.

Karini stapfte hinter den anderen Mädchen her. Sie lief immer noch barfuß; lieber fror sie sich die Füße ab, anstatt in diesen unbequemen Holzschuhen zu laufen. Beke, Karla und Johanne liefen im Alltag mit diesen klobigen Dingern behände herum. Nur abends, bei Onkel Alvers, tauschten sie die Holzschuhe gegen weiche seidene Schühchen, die für den Gebrauch im Freien aber keineswegs taugten.

Karini war wütend. Am besten, sie erfror gleich mit. Oder sie sprang in eine der übel riechenden Grachten und ertrank, oder sie stürzte sich vor eine Droschke. Wie hatte sie nur so dumm sein können! So vielen Männern beizuliegen, das musste doch irgendwann Folgen haben. Jetzt hatte sie zwar ein prall gefülltes Geldsäckchen, aber auch sie selbst würde in einigen Monaten … sie mochte nicht daran denken. So brauchte sie gar nicht erst nach Surinam zurückzukehren. Wie sollte sie das jemals erklären? Das Geld, das hätte sie noch schönzureden gewusst. Da wäre ihr etwas eingefallen. Aber ein Baby?

»Karini, nun komm.« Beke winkte ihr ungeduldig zu. Karini aber hatte wenig Lust, sich zu eilen. Tante Dela hatte Onkel Alvers sichtlich betroffen und mit einer eindeutigen Geste erklärt, dass bei Karini jetzt Schluss sei mit dem Sonderverdienst. Onkel Alvers hatte diese Neuigkeit gar nicht gefallen. »Aber tanzen kann sie doch noch, oder?«, hatte er hervorgestoßen.

»Ja, tanzen kann sie erst einmal noch. Aber sorg dafür, dass keiner mehr das Mädchen anfasst.«

»Dann muss sie eben ein paarmal öfter tanzen pro Nacht.« Onkel Alvers hatte grimmig mit den Achseln gezuckt und war verschwunden. Also tanzte Karini wieder Nacht für Nacht.

Nach einer Woche nahm Karini ihren Mut zusammen und fragte Tante Dela, was jetzt wohl aus ihr werden würde. »Ich kann doch bald nicht mehr tanzen, eine Schwangere wollen die Männer auf der Bühne doch nicht sehen.« Es gelang ihr nicht, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

Tante Dela nahm sie tröstend in den Arm. »Nein, Mädchen, es dauert zwar noch etwas, bis man es sieht, aber dann geht das nicht mehr. Hast du denn nichts gespart? Ich meine … wenn du Geld hast, kannst du ja erst mal hierbleiben, je nachdem, um welche Summe es sich handelt, sogar bis das Baby da ist. Wir bringen es dann zu den Beginen in den Begijnhof, dort wird man sich kümmern und du kannst wieder …«

Karini war entsetzt. »Ich soll das Kind fortgeben?«

»Ja, Kindchen, was denkst du denn? Willst du es etwa behalten und mit durchfüttern? Dann kannst du deine Arbeit bei Onkel Alvers vergessen.«

Karini war geschockt. So weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Ihr wurde bewusst, dass sie sich in eine Sackgasse begeben hatte. Ihr Geld würde für eine Überfahrt noch nicht reichen, sie würde es ausgeben müssen, um zu überleben, wenn sie nichts mehr dazuverdiente … es schien ein aussichtsloser Kreislauf zu werden. Aber das Kind fortgeben? So, wie die Huren die Kinder bei Misi Erika abgegeben hatten? Nein, das kam nicht infrage. Das Kind konnte schließlich nichts dafür, dass sie so dumm gewesen war …

Karini fasste einen Entschluss. Solange sie noch konnte, würde sie bei Onkel Alvers tanzen. Wenn es dann nicht mehr ging, würde sie bei Tante Dela bleiben, bis das Kind auf der Welt war, auch wenn sie dafür den größten Teil ihres Geldes opfern musste. Und dann … dann würde sie mit dem Kind fortgehen. Irgendwo in diesem Land musste es doch eine Möglichkeit geben unterzukommen, ohne das Kind fortgeben zu müssen.

Die Blume von Surinam
00000000000_cover.html
b978-3-8387-2451-5_000016.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000042.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000110.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000122.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000132.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000141.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000249.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000268.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000373.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000574.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000669.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000832.xhtml
b978-3-8387-2451-5_000971.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001143.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001271.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001443.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001486.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001669.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001785.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001948.xhtml
b978-3-8387-2451-5_001998.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002017.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002178.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002227.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002342.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002506.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002646.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002768.xhtml
b978-3-8387-2451-5_002873.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003037.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003096.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003188.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003295.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003420.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003498.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003543.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003730.xhtml
b978-3-8387-2451-5_003813.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004014.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004118.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004239.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004338.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004427.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004454.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004697.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004898.xhtml
b978-3-8387-2451-5_004917.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005068.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005131.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005351.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005497.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005601.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005799.xhtml
b978-3-8387-2451-5_005861.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006105.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006209.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006428.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006516.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006618.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006792.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006894.xhtml
b978-3-8387-2451-5_006956.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007089.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007323.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007514.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007647.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007820.xhtml
b978-3-8387-2451-5_007839.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008015.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008164.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008221.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008301.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008376.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008547.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008772.xhtml
b978-3-8387-2451-5_008934.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009161.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009243.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009377.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009489.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009558.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009731.xhtml
b978-3-8387-2451-5_009935.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010024.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010222.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010332.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010431.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010503.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010606.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010710.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010776.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010840.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010873.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010930.xhtml
b978-3-8387-2451-5_010977.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011179.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011205.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011254.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011306.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011424.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011502.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011552.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011607.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011791.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011849.xhtml
b978-3-8387-2451-5_011934.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012208.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012309.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012394.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012413.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012518.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012582.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012881.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012938.xhtml
b978-3-8387-2451-5_012986.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013044.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013140.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013219.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013265.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013309.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013362.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013432.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013568.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013675.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013789.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013823.xhtml
b978-3-8387-2451-5_013905.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014024.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014087.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014203.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014259.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014371.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014486.xhtml
b978-3-8387-2451-5_014561.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015148.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015218.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015299.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015336.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015584.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015647.xhtml
b978-3-8387-2451-5_015667.xhtml