Kapitel 10
Henry saß an Deck und starrte in die Segel. Diese spannten sich nur mäßig im lauen Wind und trieben das Schiff seit einer Woche langsam gen Osten. Stunde um Stunde wünschte er sich, sie würden schneller vorankommen.
Er war sofort, nachdem Erika ihm von den Geschehnissen in der Stadt berichtet hatte, nach Paramaribo gefahren. Am Hafen hatte er wochenlang nach dem Schiff Ausschau gehalten, und doch hatte ihm niemand sagen können, ob er mit dem Schiff überhaupt würde mitreisen können.
»Das müssen Sie bei der Ankunft den Kapitän fragen«, erklärte ihm der Hafenmeister.
Henry wartete ungeduldig Tag für Tag, dass dieses Schiff eintreffen würde. Als es dann eines Tagen wirklich den Fluss heraufkam und vor Paramaribo ankerte, war Henry eher an Bord als die ersten Matrosen an Land.
Der Kapitän war ein rauschbärtiger alter Holländer, sein Gesicht war von Falten zerklüftet und die Haut von der salzigen Luft gegerbt. »Wir haben keine Kabinen mehr frei, junger Mann«, offenbarte er Henry knapp.
Henry aber war fest entschlossen. Er würde Karini suchen und finden, doch dafür musste er nach Europa. Und zwar so schnell wie möglich. Also mit diesem Schiff. Er verhandelte und bot dem Kapitän Geld, schließlich sogar mehr Geld und letztendlich gar ein kleines Vermögen, bis dieser doch einlenkte und Henry eine Hängematte bei den Matrosen im Mannschaftsraum anbot. Henry war es egal, er hätte auch auf Deck geschlafen, wenn nötig.
Nach den ersten zwei Tagen auf See war er auch versucht gewesen, dorthin umzuziehen. In dem engen Mannschaftsraum tief unten im Schiff war die Luft so schlecht, dass Henry kaum atmen konnte. Zudem schien irgendwo zwischen den Frachtsäcken, die im hinteren Bereich lagerten, ein Tier, vermutlich eine Ratte, verendet zu sein – es roch nach Verwesung. Die Matrosen schien dies nicht zu beirren. Schon bald war der Gestank auch wegen der Aborteimer und dem scharfen Alkohol nicht mehr so stark. Henry ging so oft wie möglich an Deck.
Dort atmete er tief ein und starrte in die Weite des Horizonts. Aber er hatte keine Augen für die Schönheiten des Meeres. Er gesellte sich nicht zu den anderen Passagieren, wenn diese staunend die Delfine beobachteten, die das Schiff begleiteten, und er mochte auch nicht den Matrosen abends bei Kartenspiel und Schnaps beiwohnen. Es war seine erste große Reise, und er hoffte jeden Tag, die Zeit würde schneller vorübergehen.
Denn eines war ihm in den letzten Wochen klar geworden: Er konnte und wollte nicht ohne Karini sein. Wie töricht war er doch gewesen! Und er fühlte sich schuldig. Hätte er ihr doch nur schon früher gesagt, was er für sie empfand, dann wäre sie vielleicht niemals mit nach Watervreede gegangen. Dieses Mal würde er ihr seine Liebe gestehen.
Die Fahrt wurde ungemütlich und machte Henry zunehmend zu schaffen. Je näher sie Europa kamen, desto heftiger schüttelten die Winterstürme das Schiff durch. Hinzu kam die Sorge um seine Zukunft. Er war sich sicher, Karini zu finden, doch auch für ihn war es das erste Mal, dass er Surinam verließ.
Wim hatte ihm strikte Anweisungen gegeben, was er in den Niederlanden zu tun hatte. »Hier, diesen Brief gibst du sofort bei deiner Ankunft auf, er wird an mein Kontor gehen. Und auf diesem Zettel steht die Anschrift von Gesines Familie in Amsterdam, dort wirst du Karini hoffentlich finden.«
Henry war Wim sehr dankbar für diese Unterstützung. Aber je weiter er sich von Surinam entfernte, desto mehr wurde ihm gewahr, dass er nun ganz auf sich allein gestellt sein würde.