Kapitel 1
Amsterdam, den 15. Oktober 1878
Liebe Juliette,
vielen Dank für Deine Zeilen. Ich beglückwünsche Dich zur Geburt Deiner Tochter und verstehe, dass Dir eine Reise nach Europa nicht möglich ist.
Da es bezüglich des Erbes allerdings einige Dinge zu besprechen gibt, habe ich beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und selbst einmal die Kolonie zu bereisen. Ich werde in der letzten Woche des Februars in Surinam eintreffen.
Ich freue mich auf ein Wiedersehen.
Es grüßt Dich
Dein Cousin Wim
Wim wartete einen Moment, bis die Tinte auf dem Papier getrocknet war, dann faltete er den Brief sorgsam zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. In zwei Tagen würde ein Schiff auslaufen und den Brief mit in die Kolonie nehmen. In ungefähr fünf Wochen dann, so Gott wollte, würde Juliette die Nachricht erhalten, und nur wenige Wochen später würde er selbst ein Schiff besteigen.
Ihm war etwas mulmig zumute. Er hatte diese Reise recht kurzentschlossen gebucht, nachdem er die Fahrpläne der Schiffe studiert hatte – eigentlich, um zu erfahren, wann er den Antwortbrief aufgeben konnte. Aber an der Hafenmeisterei hatte ihn dann die Sehnsucht gepackt, einfach an Bord eines dieser Schiffe zu gehen und davonzufahren. Das Gefühl war so stark gewesen, dass er einen Moment nach Atem hatte ringen müssen.
Der Tod seines Vaters hatte alles verändert. Nicht, dass er über dessen Ableben sonderlich bestürzt war, in den letzten zehn Jahren hatte er sich mit seinem Vater mehr gestritten als harmonische Momente erlebt. Dabei ging es meist um Wims berufliche Zukunft. Sein Vater sah in ihm den künftigen Leiter des Handelskontors, Wims größter Wunsch aber war es schon immer gewesen, als Korrespondent zu arbeiten. Was er letztendlich hin und wieder auch tat, er schrieb gelegentlich für ein Amsterdamer Handelsblatt – aber nur, weil sein Vater es ihm gestattete. Wim liebte diese Tätigkeit und hatte die Hoffnung nie aufgegeben, sich, was seine berufliche Laufbahn anging, gegen den Willen seines Vaters auflehnen zu können und irgendwann hauptberuflich als Korrespondent tätig zu sein. Aber als letzten Hieb gegen seinen Sohn hatte Wilhelm Vandenberg ihm schließlich die Geschäfte des Kontors übertragen, obwohl ihm immer bewusst gewesen war, dass Wim nicht in seine Fußstapfen treten wollte. Jeder andere hätte sich vermutlich glücklich geschätzt, dieses gut laufende Handelsgeschäft übernehmen zu dürfen, für Wim aber war es eine Bürde, an der er schwer trug. Sein Vater hatte gewusst, dass Wim sich trotz allem beugen würde, zumal nicht nur er finanziell von dem Kontor abhängig war, sondern auch der Rest der Familie: seine Mutter Margret und seine beiden älteren Schwestern samt deren Männer und Kinder. Wilhelm hatte es verstanden, seine Familie von sich abhängig zu halten. Sein Tod, der plötzlich, aber bei seinem Lebenswandel nicht gänzlich unerwartet gekommen war, hatte die Familie erschüttert. Nicht aus Kummer, sondern einzig aus Sorge um das Geld. Wer sollte von jetzt an das Familienvermögen verwalten und mehren? Für diese Aufgabe kam einzig Wim infrage. Die Männer seiner Schwestern waren blassgesichtige große Jungen und beide nicht im Handel tätig. Wim erinnerte sich noch gut daran, dass beide damals mit Freude den Bund der Ehe mit seinen Schwestern eingegangen waren, aber nur, weil Wilhelm ihnen eine finanziell gesicherte Zukunft versprochen hatte. Keiner von ihnen war dem Charme der jeweiligen Frauen erlegen. Ohne diesen kleinen Anstoß hätte sein Vater seine wenig liebreizenden Töchter wohl kaum verheiraten können. Martha war das perfekte Pendant zu Wims Mutter: klein, hager, mit stoisch hochmütigem Gesicht und herrischem Wesen. Dorothea hingegen war sehr füllig, melancholisch und zerfloss die meiste Zeit in Depressionen.
Wim seufzte und strich mit der Hand über das dunkle Holz des Schreibtisches. Ein altes, seltenes Holz, das irgendwann einmal als stolzer Baum gefällt worden war, um dann hier in diesem dunklen Büro im Amsterdamer Kontor des Wilhelm Vandenberg zu enden. Wie so vieles, was Wilhelm Vandenberg einfach nach seinem Gutdünken gefällt und eingefordert hatte. Auch Wim hatte zur Genüge erfahren müssen, dass sein Vater nur eine Meinung kannte, und das war seine eigene.
Bei allen Handlungen seines Vaters steckte stets ein Plan dahinter. Wim hätte ahnen müssen, dass sein Vater ihm das Verfassen der Artikel nicht ohne Hintergedanken gestattete, war aber dennoch überrascht gewesen, als Wilhelm schließlich seine Verbindungen spielen ließ.
Der Verleger, Karel van Honthorst, war eine angesehene Persönlichkeit der Amsterdamer Gesellschaft – und er hatte eine Tochter, Gesine. Bevor Wim sich versah, hatte sein Vater hinterrücks die Fäden gesponnen und in Wims Namen bei van Honthorst um Gesines Hand angehalten. Wim kochte noch heute vor Wut, wenn er daran dachte. Er hatte sich fürchterlich mit seinem Vater gestritten, aber der war auf Wims Widerstand vorbereitet: Wollte Wim seine Arbeit als Korrespondent behalten und auch den Verleger nicht vor den Kopf stoßen, was zur Folge gehabt hätte, dass Wim in den Niederlanden im journalistischen Bereich nie wieder eine anständige Anstellung bekommen hätte, musste er die Pläne seines Vaters wohl oder übel erfüllen und Gesine heiraten. Für Wilhelm ging es allein um die damit etablierte Beziehung zwischen dem Handelskontor Vandenberg und dem Verlagshaus van Honthorst.
Dass Wilhelm Vandenberg damit weitaus mehr zerbrochen hatte als Wims augenscheinliche Aufmüpfigkeit, das wusste niemand außer Wim. Die Heirat mit Gesine war für ihn gleichbedeutend mit einem schier unermesslichen Verlust, musste er doch in diesem Moment den Menschen zurücklassen, der ihm in seinem Leben wichtiger gewesen war als alles andere: Hendrik. Wim kannte Hendrik schon aus Studienzeiten, und es war durchaus mehr als Freundschaft gewesen, was die beiden verbunden hatte. Wim hatte der Sinn nie recht nach jungen Damen gestanden, was ihm selbst lange Zeit Sorge und Unbill bereitet hatte. Erst als Hendrik ihn mitnahm in die Gesellschaft, die sich nachts traf, wo man debattierte, diskutierte, aber auch Beziehungen der ungewöhnlichen Art pflegte, wurde ihm klar, dass er sich wegen seiner Neigung nicht länger Sorgen machen musste. Trotzdem war es ein Geheimnis, das er wahren musste; nicht auszudenken, wenn sein Vater davon erfahren hätte.
Wim war sich allerdings bis zuletzt nie ganz sicher gewesen, ob dieser nicht doch etwas geahnt hatte. Wilhelm Vandenberg hatte seinen Sohn mit siebzehn Jahren in ein Freudenhaus geschleppt, um ihn in den Umgang mit Frauen einzuführen. Das war nicht unüblich, allerdings hatte Wim sich sehr geniert. Nicht vor den Damen, sondern weil sein Vater dort ganz offensichtlich Stammgast war. Madame Isabella … die Frau hatte Wim zwar mit viel Feingefühl eingewiesen, die Freude an Frauen wollte sich bei Wim trotzdem nie einstellen.
Jetzt schmunzelte er bei dem Gedanken an diese Nacht. Eigentlich sollte er seinem Vater und vor allem Madame Isabella dankbar sein, seine ehelichen Pflichten gegenüber Gesine hätten sonst wohl in einer Katastrophe geendet.
Hendrik war Wim über die Jahre stets ein guter Freund gewesen und letztendlich auch sein Liebhaber geworden. Seines Vaters Weisung zur Heirat mit Gesine hatte diese wertvolle Beziehung zerbrechen lassen. Wim hatte darüber viele Wochen hitzig mit Hendrik gestritten. Hendrik hatte nicht verstanden, warum Wim sich seinem Vater nicht widersetzte.
»Ich werde alles, aber auch wirklich alles verlieren«, hatte Wim um Verständnis gebeten.
»Du bist ein Angsthase!«, hatte Hendrik ihm ins Gesicht geschmettert. »Du wirst nie aus dem Schatten deines Vaters heraustreten können.«
Wim ahnte, dass er recht hatte, und war innerlich fast daran zugrunde gegangen. Dieser elende Zwiespalt! Aber er wusste, dass seine Liebe zu Hendrik nie mehr als eine heimliche Passion sein würde.
Und wohin hatte ihn das geführt? Jetzt saß er hier im ehemaligen Büro seines Vaters und hatte nicht einmal das Erbe des Kontors ablehnen können. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, seine Schwestern und seine Mutter einer finanziell ungesicherten Zukunft auszuliefern, auch wenn er ihnen gegenüber wenig Liebe empfand. Wim ging gänzlich ohne Enthusiasmus an diese Arbeit, aber er musste – ob er wollte, stand gar nicht zur Debatte. Ihm war klar, dass er in eine Sackgasse geraten war, an deren Ende eine hohe Mauer seinen weiteren Lebensweg versperrte. Seine journalistische Tätigkeit war von seinem Schwiegervater abhängig, er hatte eine junge hübsche Frau an seiner Seite, die aber im Grunde für alle nur Mittel zum Zweck gewesen war und die er auch nicht liebte, geschweige denn begehrte, und deren schwieriger Charakter sich erst nach der Hochzeit offenbart hatte. Und, was am schlimmsten wog, er hatte seinen Liebsten verloren.
Wim stützte den Kopf in seine Hände und fuhr sich dann durch das blonde Haar. Was hatte er nur getan? Er eignete sich weder zum Handelsmann noch zum Ehemann. Sein Vater hatte seinen Plan an ihm verwirklicht, und Wim hatte nicht den Mut gehabt, ihn zu durchkreuzen und eigene Wege zu gehen. Am Ende hatte Hendrik recht behalten: Er war ein Angsthase.
Am Hafen hatte ihn dann die Sehnsucht fortzulaufen einfach überwältigt. Und so hatte er sich nicht nur nach der Möglichkeit, einen Brief nach Surinam zu schicken, erkundigt, sondern wie in Trance gleich auch auf einem weiteren Schiff eine Passage für sich selbst gebucht. Er musste fort von hier, musste sich über einige Dinge klar werden, und vielleicht würde er auf dieser Reise auch zu sich selbst finden. Das konnte er nicht hier in der bedrängenden Enge Amsterdams, wo ihn zudem jeder kannte. Jetzt musste er nur noch seiner Frau Gesine seine Pläne darlegen.
»Du willst wohin? Aber nein, das geht doch nicht … was ist denn mit mir?« Gesine hob anschuldigend die Arme, verdrehte die Augen und sackte in ihrem Stuhl zusammen.
Wim hatte es geahnt. Er warf seine Serviette wütend auf den Teller, während das Hausmädchen Gesine bereits zu Hilfe eilte. Als hätte er nicht schon genug Probleme mit dieser Ehe, trieb Gesines Hang zu Ohnmachtsanfällen Wim fast in den Wahnsinn. Kaum kam ihr etwas ungelegen oder gefiel ihr nicht, kaum erregte etwas ihren Ärger oder ihre Wut, entschwand ihr Bewusstsein.
Leider zeigte sich diese Neigung insbesondere bei gesellschaftlichen Anlässen, wodurch sie jedes Mal sofort in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. Denn sobald sie die Augen wieder aufschlug, schaute sie mit einem engelsgleichen Unschuldsblick in die Runde, woraufhin sich von diesem Zeitpunkt an alle um sie bemühten. Besorgte junge Männer eilten herbei, reichten ihr ein Glas Wasser und boten ihre weißen Taschentücher dar, damit sie sich die Stirn tupfen konnte, die Frauen umringten sie und gaben Ratschläge, wie mit solchen Unpässlichkeiten umzugehen sei, und auch Wim wurde jedes Mal umfangreich bemitleidet, weil seine Frau von so zarter Konstitution war. Dabei war Wim sich insgeheim sicher, dass Gesine keineswegs so zart besaitet war, wie sie zur Schau stellte. Zu Hause war sie eine kratzbürstige Katze, zumindest kam ihm dieses Bild recht häufig in den Sinn. Alles und jeder im Haus musste sich ihrem Willen beugen, und auch Wim bot ihr nur selten die Stirn. Gesine war von Haus aus verwöhnt, verhätschelt, und wenn sie ihren Willen nicht bekam …
Darum machte Wim sich in diesem Moment auch keine Sorgen um Gesine. Das Hausmädchen fächerte ihr Luft zu, und in wenigen Sekunden würde sie die Augen aufschlagen, in der Hoffnung, Wim würde seine Ankündigung zurücknehmen. Das aber hatte er keinesfalls vor. Diesmal würde er an seinem Plan festhalten.
»Aber Wim, das ist eine hervorragende Idee. Gesine hat mir eben berichtet, dass ihr eine umfangreiche Reise in die Kolonien plant. Man sollte sich als Handelsführender wirklich selbst ansehen, woher die Güter kommen. Es wird dem Kontor sehr zuträglich sein, dass du dich selbst um diese Belange kümmerst.«
Wim war überrascht, am Abend im Salon auf seinen Schwiegervater zu treffen.
»Und du kannst nebenbei auch etwas für mich tun: Ich erwarte von dir eine umfangreiche Berichterstattung aus der Kolonie, wir können darüber zum Beispiel eine mehrteilige Serie machen. Man kümmert sich in den letzten Jahren doch eher wenig um die Länder, aus denen die meisten Waren kommen, und es ist an der Zeit, das Thema wieder etwas aufzufrischen.«
Karel van Honthorst prostete Wim zu und wandte sich dann wieder an seine Tochter. »Mein Kind, hast du dir das auch gut überlegt? Dieses Land ist weit weg und … ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es dort um die Lebensumstände bestellt ist. Ich hoffe, mein Kind«, er tätschelte Gesine zärtlich den Oberarm, »dass du dort auch den angemessenen Komfort findest.« Und mit einem bestimmenden Blick zu Wim fügte er hinzu: »Du wirst dafür Sorge tragen, dass meine Tochter einen angenehmen Aufenthalt hat.«
Wim traute seinen Ohren nicht. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, kam ihm Gesine zuvor.
»Ach Vater, mach dir keine Sorgen, Wims Cousine erwartet uns dort. Sie hat eine große Plantage und wird sich sicher um uns kümmern. Ach, ich freue mich so! Exotische Bälle, ein Treffen mit dem Gouverneur … das alles wird sehr aufregend.«
Wim starrte seine Frau an. Diese erwiderte seinen Blick mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck. Und ihr Blick gab ihr recht: Hier, in Gegenwart ihres Vaters, konnte Wim nicht sagen, dass er eigentlich geplant hatte, ohne Gesine zu reisen. Wütend ballte er die Fäuste, zwang sich aber zu einem Lächeln. »Ja, es wird eine schöne Reise werden.«