Kapitel 6
Oh, … halt mich!«
Karini ergriff die Hand von Misi Gesine. Das Boot schwankte, auch weil Masra Jean sich sehr kraftvoll abgestoßen hatte, um auf den Anleger zu gelangen. Er schien froh, dass die Fahrt nun endlich vorüber war.
Genau wie Misi Gesine. Karini half ihr aus dem Boot. Auf dem Anlegesteg verharrte sie einen Augenblick schwankend und Karini fürchtete, sie würde jetzt doch noch ohnmächtig werden. Dann richtete sie sich jedoch auf und schaute mit pikiertem Blick umher.
»Das ist also eure Plantage?« Ihr Gesicht war blass, ihre sonst so korrekt frisierten Haare klebten in verschwitzten Locken an ihrer Stirn, und ihr Kleid war zerknittert. Dennoch versuchte sie, wie immer, Haltung zu bewahren.
Misi Juliette kletterte behände aus dem Zeltboot und strich kurz über ihr Kleid. »Ja, das ist Rozenburg. Herzlich willkommen!«
Misi Gesine drehte sich um, beschirmte mit der Hand ihre Augen und schaute den Fluss hinab. »Und wann kommt mein Gepäck?«
Misi Juliette zuckte die Schultern. »Das kann noch dauern, vielleicht kommt es auch erst morgen.« Sie machte sich auf den Weg Richtung Ufer. »Kommst du, im Haus wartet sicherlich eine Erfrischung auf uns.«
»Morgen?« Karini hörte das Entsetzen in Misi Gesines Stimme, die keine Anstalten machte, den Anleger zu verlassen, sondern immer noch in die Richtung starrte, aus der sie gekommen waren. »Aber was soll ich denn dann anziehen?«
»Wenn dein Gepäck heute nicht mehr kommt, werde ich dir ein Kleid leihen.« Misi Juliette klang jetzt ungeduldig. Misi Gesine warf ihr einen skeptischen Blick zu, sie schien sich über dieses Angebot nicht zu freuen.
»Wie können diese Ruderer denn nur so unpünktlich sein?«
»Gesine«, Misi Juliette stand bereits am Ufer und stemmte nun die Arme in die Hüften, »das ist ein Fluss und keine Straße. Wenn die Flut schwach wird und das Boot sehr schwer ist«, ihr Blick hatte etwas Vorwurfsvolles, »kann es auch einmal länger dauern. Also, willst du da stehen bleiben und dich von den Moskitos stechen lassen, während du auf deine Koffer wartest, oder kommst du mit zum Haus?« Misi Juliette marschierte los, ohne auf eine Antwort zu warten.
Misi Gesine raffte ihren Rock und folgte ihr mit trotziger Miene. Karini nahm Misi Gesines Handgepäck und versuchte gar nicht erst, das Lächeln zu unterdrücken.
Karini war glücklich, als sie abends in ihrer Hängematte in der Hütte ihrer Eltern lag. Zu ihrer Überraschung war auch ihr Vater Dany gerade auf der Plantage und sie hatte sich sehr gefreut, ihn zu treffen. Nach einer überschwänglichen Begrüßung hatten sie noch lange zusammengesessen. Es war doch schön, nach Hause zu kommen! Nachdenklich ließ sie ihre Hand zu dem Jaguarzahn wandern, der jetzt an einer Kette an ihrem Hals hing. Ihr Vater hatte ihn ihr eben geschenkt. »Er wird dich beschützen«, hatte er feierlich gesagt und liebevoll gelächelt.
»Du kannst mich natürlich jederzeit besuchen kommen«, hatte er hinzugefügt und ihr zärtlich über die Wange gestrichen. Karini vermisste ihn sehr, wusste aber, dass sie in den nächsten Wochen nicht die Zeit dazu finden würde. Sie würde mit Misi Gesine genug zu tun haben.
Karini lauschte auf den ruhigen Atem ihres Vaters. Auch die Geräusche der Nacht, das Zirpen der Insekten und das Rascheln des Windes in den Bäumen rings um das Dorf drangen leise zu ihr hin. Das Feuer im Kochbereich der Hütte knisterte noch, und der Rauch, der langsam durch die Hütte waberte, um die Stechmücken fernzuhalten, hüllte sie ein.
Ihre Gedanken wanderten zu Masra Henry und Masra Martin. Misi Juliette hatte Masra Martin sehr ungern in Paramaribo zurückgelassen, gerade weil sein Vater verkündet hatte, ihn des Öfteren sehen zu wollen. Sie hatte sogar angeboten, Paul Rust noch einmal als Hauslehrer auf die Plantage zu holen, aber Jean hatte abgewunken. Masra Martin hatte sich sichtlich über die Entscheidung gefreut und nur genervt mit den Augen gerollt, als Misi Juliette ihn mehrfach gebeten hatte, auf sich achtzugeben. Ob sie wirklich Angst hatte, dass sein Vater ihm etwas antun würde?
Karini hatte eine positive Veränderung an Masra Martin ausgemacht. Er war nicht mehr ganz so mürrisch wie in den Monaten, bevor sein Vater eingetroffen war, und er war auch zu ihr wieder viel netter. Sogar ein bisschen mehr als nur nett, sie hatte oft darüber nachgedacht.
Dass zwischen ihnen etwas mehr war als nur die seit Kindertagen bestehenden Bande, spürte sie schon länger. Allerdings hatte sie dies auch bei Masra Henry gefühlt, auch er behandelte sie jetzt anders und sah sie mit anderen Blicken an. Das bereitete ihr Sorge. Sie hatte beide Jungen immer gemocht, sie waren wie Brüder für sie gewesen. Dass sich jetzt in Gegenwart beider in ihrem Bauch ein Flattern einstellte, beunruhigte sie, obwohl das Gefühl an sich eigentlich schön war.
Sie waren keine Kinder mehr. Manchmal, wenn niemand in der Nähe war, betrachtete Karini sich heimlich im Spiegel. Sie war nochmals gewachsen, ihr Busen und ihre Hüften hatten sich gerundet. Ihr Haar war etwas glatter geworden und glänzte in einem tiefen Schwarz. Ihr Gesicht hatten reife erwachsene Züge bekommen, aber es wurde auch immer deutlicher, dass sie nicht rein schwarzer Abstammung war. Als Kind hatte sie noch die charakteristisch flache Nase gehabt, diese hatte sich inzwischen gehoben und verschmälert. Auch war sie nicht mehr pausbäckig, die Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht vielmehr eine schmalere Form.
Karini seufzte und drehte sich in der Hängematte nochmals um. Besser, sie schlief jetzt. Morgen würde vermutlich Misi Gesines Gepäck ankommen, und alles auszupacken, das würde Stunden dauern.
Karini wurde mitten in der Nacht von lauten Schreien aus dem Schlaf gerissen. Im ersten Moment wusste sie nicht recht, wo sie war. Dann spürte sie das Geflecht der Hängematte auf ihrer Haut.
Im nächsten Augenblick wusste sie auch, wer die Schreie ausstieß: Misi Gesine! Karini sprang sofort aus der Hängematte und eilte aus der Hütte in Richtung des Lärmes. Es war stockfinster, aber sie kannte sich gut aus in diesem Dorf, auch im Dunkeln.
Zwischen zwei Hütten stand Misi Gesine in Misi Juliettes weißem Morgenmantel wie eine geisterhafte Erscheinung und schrie aus Leibeskräften. Um sie herum leuchteten weiße Augenpaare auf. Die Bewohner der umliegenden Hütten waren ebenfalls herausgekommen, Misi Gesine aber schlug um sich und wehrte vehement alle Personen ab, die ihr eigentlich helfen wollten.
»Misi Gesine! Misi Gesine, ich bin es, Karini.« Karini schob sich durch die Menge vor.
»Geht weg … geht weg …« Misi Gesine drehte sich hysterisch im Kreis.
Karini musste sie regelrecht anschreien, um zu ihr durchzudringen. »Misi Gesine!«
»Oh … oh … gut, dass du da bist … diese Augen … und man sieht sie gar nicht … Hilfe! Sie wollten mich anfassen!«
»Nein, sie wollen Ihnen helfen«, sagte Karini bestimmt und versuchte, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken. Sie hörte selbst, wie barsch ihre Stimme klang, und fügte etwas sanfter hinzu: »Was machen Sie denn hier?« Die Misi aber antwortete nicht und blickte wild um sich. Karini zögerte kurz, dann griff sie nach dem Arm der Misi, um sie irgendwie zu beruhigen. Sie wusste, dass das unerhört war, und hoffte, dass Misi Gesine nicht böse sein würde, aber … sie benahm sich gerade wie eine Verrückte.
Die anderen Schwarzen lachten und machten leise Scherze auf taki-taki.
Karini zischte sie an, sie sollten verschwinden. Ein Mann klopfte ihr auf die Schulter und sagte: »Karini, kis ’yu blo, reg dich nicht auf«, dann verschwanden die amüsierten Dorfbewohner schnell wieder in ihren Hütten.
»Misi Gesine, kommen Sie, ich bringe Sie zurück zum Gästehaus. Was wollten Sie denn hier?«
»Geister, hier ist alles voller Geister …« Misi Gesine klammerte sich an Karinis Arm und ließ sich von ihr zurück in das Gästehaus führen.
Karini entzündete im Flur eine kleine Öllampe. Im Licht der kleinen Lampe entspannte sich Misi Gesines Gesicht etwas, vor ihrer Zimmertür aber blieb sie stocksteif stehen.
»Nein, da gehe ich nicht mehr hinein.«
Karini war überrascht. »Ist etwas nicht in Ordnung mit Ihrem Zimmer, Misi Gesine?«
»Nein … doch … da … da saß etwas an der Wand«, flüsterte sie, »ein Untier.«
Karini gelang es nur mit Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich werde nachsehen.«
Sie schlüpfte durch die Zimmertür und leuchtete einmal den Raum ab. Gleich neben dem Fenster, in der Zimmerecke, fand sie, was sie gesucht hatte. Eine große schwarze Spinne drückte sich in die Ecke, als hätte sie selbst Angst. Mit den Spinnen und den Weißen ist es ein bisschen wie mit den Schwarzen und den Weißen, dachte sie bei sich. Die Weißen haben Angst vor ihnen, obwohl sie, weder die Spinnen noch die Schwarzen, ihnen etwas tun. Karini wusste, dass diese Spinnen in Surinam willkommene Haustiere waren, fingen und fraßen sie doch allerlei Ungeziefer, allen voran die großen Kakerlaken, die es hier zuhauf gab. Sie hatte selbst gesehen, dass die schwarzen Haushälterinnen in der Stadt, bei Abwesenheit der Herrschaften, die Spinnen zu diesem Zweck sogar absichtlich in den Räumen aussetzten. Kleine Jungen verkauften die Tiere aus geflochtenen Körbchen auf der Straße. Aber wehe, ein Weißer bekam eine dieser achtbeinigen Haushaltshilfen zu Gesicht, da war das Geschrei immer groß. Karini kicherte. »Na, dann komm mal her, du Untier«, sagte sie leise. Vorsichtig nahm sie die Spinne in die Hand und trat in den Flur. Die Hand, in der sie die Spinne gerade noch halten konnte, versteckte sie hinter dem Rücken. Es war eindeutig besser, wenn die Misi das Tier jetzt nicht sah.
»Alles in Ordnung, Misi Gesine, das Tier ist nun fort.«
Misi Gesine lugte vorsichtig im Schein des Öllämpchens in den Raum. »Bist du sicher?«
»Ja, Misi.«
»Würdest du vielleicht«, die Misi zögerte, die Worte schienen ihr nicht leichtzufallen, »ich fühle mich nicht ganz wohl so allein hier in diesem Haus. Könntest du heute Nacht hierbleiben?«
»Ja, Misi Gesine, gerne, ich gehe nur schnell und schließe die Tür. Bitte nehmen Sie die Lampe mit, ich komme gleich.«
Karini übergab Misi Gesine die Lampe und lief schnell zur Eingangstür des Gästehauses. Sie setzte die Spinne auf den Boden und das Insekt sputete sich unter einen Busch in Sicherheit.
Karini lief zurück zu Misi Gesines Zimmer, holte sich eine Decke aus dem Schrank und legte sich auf den angenehm kühlen Holzboden, von dem ein leichter Orangenduft ausströmte.
»Alles in Ordnung, Misi Gesine. Sie können jetzt beruhigt schlafen, ich bin da.«