KAPITEL 42
Die Freunde beschlossen, ihr normales Leben wieder aufzunehmen; das war nach Meinung aller am besten für die Kinder und auch für sie selbst. Und so brachten Mike und Simon Ethan, Nell und Peter am nächsten Tag in ihre jeweiligen Schulen. Mike fuhr in seine Werkstatt und Simon gab Unterricht. Maggie und Alice hatten ein wenig Ruhe allein im Haus, bevor sie um elf Uhr das Blue Shoes aufmachen mussten. Zwei Tage waren seit Sylvies Flucht vergangen und einer, seitdem Pam aufgewacht war. Wenn heute etwas Entscheidendes passieren sollte, dann wussten die Ermittler, wo sie zu finden waren.
Kurz nach neun läutete es an der Tür. Alice und Maggie, die gerade in der Küche frühstückten, blickten einander an.
»Vielleicht sollten wir gar nicht erst aufmachen«, meinte Maggie.
»Wahrscheinlich ist es nur irgendein Bote.« Alice zog ihren rosafarbenen Chenille-Morgenmantel fester um ihren dicken Bauch. »Oder«, sie lächelte verschmitzt, »es ist Simons Geliebte.«
»Oder ein Irrer, der dich umbringen will.« Maggie lachte, und die beiden Frauen liefen in die Halle. Maggie war als Erste an der Tür und machte sie auf.
Vor der Tür stand Lizzie in voller kalifornischer Pracht – gebräunt in einem blassgelben Overall – und streckte ihnen die Zeitung entgegen.
»Mom!«, rief Alice.
»Mein Liebes.« Lizzie umarmte Alice, die sich glücklich an ihre Mutter schmiegte. »Unter den Umständen konnte ich doch nicht zu Hause bleiben.«
Alice wischte ihrer Mutter die Mascara-Tränenspuren von den Wangen. »Den Kindern geht es gut«, sagte sie.
»Sie sind schon wieder in der Schule. Alles ist in Ordnung.«
»Das ist ja wohl kaum möglich.« Lizzie gewann die Fassung wieder. »Wie kann denn alles in Ordnung sein?«
Maggie ergriff Lizzies roten Koffer, der oben an der Treppe stand, und trug ihn in die Eingangshalle.
»Hallo, Maggie.« Die beiden Frauen tauschten Luftküsse.
»Wie geht es Ihnen?«
»Ein bisschen durcheinander, wie üblich. Immer dieselben Probleme mit den Männern.« Maggie lächelte Lizzie strahlend an.
»Sie und Ihr Mann sind also wieder zusammen.« Lizzie trat ins Wohnzimmer und blickte sich um. »Sehr hübsch. Ein bisschen barock, aber eigentlich gefällt es mir.«
»Also, offiziell sind Simon und ich eigentlich nicht zusammen. Das Haus habe übrigens ich eingerichtet, und bis jetzt hat Simon noch nichts verändert.«
Lizzie warf ihr einen Blick über den Rand ihrer Hornbrille zu und lächelte ein wenig spöttisch. »Es ist prachtvoll, meine Liebe.«
Maggie erwiderte das Lächeln und sagte gelassen:»Ich glaube, ich mache uns Frühstück. Sie sterben bestimmt vor Hunger, Lizzie. Soll ich auch Eier und Speck braten?«
»Ja, das wäre wunderbar.« Lizzie ließ sich seufzend auf die Couch sinken.
Alice setzte sich neben ihrer Mutter aufs Sofa und umklammerte die Zeitung, die noch in ihrer blauen Plastikhülle steckte. Sie hätte sie schrecklich gerne aufgemacht, um zu erfahren, was Erin Brinkley über die Ereignisse der letzten Tage geschrieben hatte, traute sich jedoch nicht, weil sie wusste, dass ihre Angst dann wieder zunehmen würde.
»Wie war dein Flug, Mom?«
Lizzie streichelte ihr über die Wange. »Wie geht es dir, mein Liebling? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
»Mir geht es gut. Es war ein Albtraum, aber jetzt ist es ja vorbei.«
»Hoffentlich.« Lizzie gähnte. »Ob eine alte Frau hier wohl einen starken Kaffee bekommen kann?«
»Ich bringe dir sofort einen.«
Als Alice fünf Minuten später wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Lizzie sich die Schuhe ausgezogen, sich auf der Couch ausgestreckt und las die Zeitung. Die blaue Plastikhülle lag zerknüllt neben dem Lokalteil auf dem Couchtisch. Alice stellte den Kaffeebecher ab und ergriff die Zeitung. Und da stand es.
In ihrem Artikel unter der Schlagzeile Falsche Identität führt Polizei in die Irre behauptete Erin Brinkley, dass es Sylvie Devrais nie gegeben habe. Das Baby, das Judy Gersten zur Adoption freigegeben habe, sei in Paris unter dem Namen Christina Dreux aufgewachsen, aber es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie jemals in New York gewesen sei. Laut ihrer Adoptiveltern war sie ein rebellischer Teenager gewesen und hatte mit siebzehn ihr Elternhaus verlassen, war allerdings nach einem Jahr demütig wieder zurückgekehrt. Sie hatte eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht, diesen Beruf aber nie ausgeübt, und es blieb unklar, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Auch die französischen Behörden rollten zurzeit ungeklärte Fälle wieder auf, bei denen schwangere Frauen verschwunden waren.
Unter der Überschrift »Internationaler Schwarzmarkt für Babys« erläuterte Brinkley, dass das Fehlen einer zusammenhängenden Datenbank illegale Adoptionen erleichtere, weil jeder Fall mit großem Zeitaufwand einzeln untersucht werden müsse. Und sobald ein Kind über eine Grenze gebracht werde, sei es fast unmöglich, es wiederzufinden.
In einem weiteren Artikel »Miethai vor Gericht« prangerte Brinkley erneut die Praktiken von Julius Pollack und Sal Cattaneo an und beschrieb ihre schlimmsten Kündigungsmethoden. Alice lief ein Schauer über den Rücken. Was sie mit Pollack erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was andere Mieter hatten aushalten müssen: abgestellte Heizungen, zerbrochene Fensterscheiben, Ratten.
Und in dem Artikel »Eine geheime Geschichte« beschrieb Brinkley schließlich, wie Metro Properties und Garden Hill Realty zusammenhingen, wobei sie die langjährige Beziehung von Sal Cattaneo und Judy Gersten offen legte. Irgendwie hatte sie die Fotos in die Hand bekommen, die Alice in Judys Wohnung gesehen hatte. Sie schrieb auch über Angie Cattaneo und ihre kinderlose Ehe, und sie stellte die Verbindung zu Sylvie her, die als uneheliche Tochter nach vielen Jahren zurückkehrt und ihren Anteil haben will. Ihrer Meinung nach war Sylvie von den uralten Motiven Rache und Geldgier getrieben. Brinkley stellte die These auf, dass Sylvie ihre leiblichen Eltern vernichten wollte, indem sie hochschwangere Mieterinnen, denen gekündigt worden war, ermordete, ihnen die Babys wegnahm und sie auf dem Schwarzmarkt verkaufte.
Alice kam das alles viel zu kompliziert vor. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sylvie ihnen so lange etwas vorgelogen hatte. Frannie bestätigte sie in ihrer Skepsis, als sie am Abend mit ihr telefonierte. »Brinkley ist viel zu dramatisch«, erklärte Frannie. »Sie hat manchmal gute Ansätze, aber die meiste Zeit lachen wir doch über sie.«
»Kennen Sie sie, Frannie?«
»Ja, ich bin ihr einige Male begegnet. Sie ist Anfang zwanzig und versucht mit allen Mitteln, sich den Pulitzer-Preis zu erschreiben, damit sie ihr endlich einen eigenen Schreibtisch geben. Na ja, es gibt immer eine Geschichte hinter der Geschichte.«
»Erzählen Sie mir jetzt bitte alles, ja?«, bat Alice.
Als Frannie zögerte, dachte sie zunächst, dass sie noch auf dem Revier sei und nicht sprechen könne, aber als Frannie gestand, sie sei schon zu Hause, wiederholte Alice ihre Bitte.
»Gut, dann können Sie ja offen mit mir reden, Frannie. Ich war von Anfang an in den Fall verwickelt und wäre wahrscheinlich das nächste Opfer gewesen. Er ist Teil meiner Lebensgeschichte, und ich möchte jetzt alles wissen.«
»Okay. Erst einmal sind wir der Frage nachgegangen, wer ZL ist. Das führte allerdings zu nichts, weil niemand mit diesen Initialen als vermisst gemeldet war.«
»Dann gab es also keine weitere schwangere Frau, die verschwunden war?«, fragte Alice.
»Und es gab auch nichts über Christine Craddock. Soweit wir wissen, gehört sie also nicht in dieses Bild hinein. Und die Füllung in den Kissen war Standardmaterial, außer in Laurens Kissen.«
»Sie haben die Haare in dem Kissen untersucht«, warf Alice ein, die sich fragte, ob vielleicht Ivys Haare dabei gewesen waren.
»Wir haben auch Sylvies Haare darin gefunden, aber das war kein Wunder: Ihre Fingerabdrücke waren überall am Tatort.«
»Sie meinen Christina«, sagte Alice. »Ich habe nämlich die Zeitung gelesen.«
»Ja, okay. Ich sage das auch nur aus Gewohnheit«, erwiderte Frannie. »Christina Dreux war das Baby, das Judy Gersten zur Adoption freigegeben hat.«
»Dann hat Erin Brinkley also Recht?«, fragte Alice. »Ist sie wirklich zurückgekommen, um sich zu rächen?«
»Das hätte Erin Brinkley gern, weil es so eine tolle Story ergäbe.«
»Ich finde ja auch, dass es ziemlich verworren klingt«, antwortete Alice.
»Es klingt deshalb verworren, weil es nicht stimmt«, sagte Frannie. »Christina Dreux war nie hier, sondern eine Frau namens Analise Krup. Das ist eine Deutsche, die in Paris aufgewachsen ist. Ihre Mutter war Übersetzerin, und sie haben allein gelebt. Analise hat Christina auf der Krankenschwesternschule kennen gelernt, und sie haben sich angefreundet. Christina wollte gern wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind, und ihr Adoptivvater half ihr dabei. Er ist Diplomat, deshalb hat er Zugang zu allen möglichen Informationen. Ihre Eltern respektierten ihren Wunsch, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren, aber als sie es herausgefunden hatten, beschloss sie, nichts zu unternehmen.«
»Aber Analise tat etwas, nicht wahr?«, fragte Alice.
»Genau.«
»Ihre Mutter hat uns mit ihrem Therapeuten zusammengebracht«, sagte Frannie. »Er sagte, Analise sei eine klassische Psychopathin. Verstehen Sie etwas davon, Alice?«
»Nein, nicht wirklich.« Sie wusste nur aus dem Fernsehen, dass das allesamt irre Killer waren, aber das war wahrscheinlich eine viel zu vereinfachende Aussage.
»In erster Linie sind sie Verwandlungskünstler, äußerst manipulativ, aber selten gewalttätig. Sie passen sich sehr gut an.« Frannie gähnte. »Deshalb sind sie ja so gefährlich.«
Alice zog sich die rote Decke über die Knie. Sie fröstelte ein wenig.
»Also hat diese Analise sich als Christina ausgegeben, die so tat, als ob sie Sylvie sei.«
»Genau.«
»Und Analise wollte Christinas leibliche Eltern vernichten, indem sie es so aussehen ließ, als ob sie unliebsame Mieter umbrächten?« Alice schwirrte der Kopf.
»Pst!« Lizzie, die mit den Kindern auf dem Teppich saß und ihnen beim Spielen zuschaute, mahnte sie mit einem zurechtweisenden Blick, den Kindern keine Angst einzujagen.
Alice stand auf, schlang sich die rote Decke um die Schultern und ging ins Gästezimmer, um das Gespräch in Ruhe weiterführen zu können.
»Das glauben wir nicht«, sagte Frannie. »Wir wissen es nicht genau, aber wir nehmen an, dass sie ursprünglich Geld von ihnen wollte, indem sie so tat, als sei sie ihre Tochter. Aber dann hat sie ihre Pläne geändert.«
»Warum?« Alice legte sich auf das Bett im Gästezimmer.
»Wir wissen es nicht genau«, erwiderte Frannie. »Aber sie hat sie nie um Geld gebeten. Sie sammelte Informationen und hat ein ziemlich kompliziertes Netz gestrickt, um zu verbergen, was sie mit Lauren getan hat.«
»Sie meinen, sie beschloss, Lauren umzubringen, um an Ivy heranzukommen?«, fragte Alice ungläubig. »Warum?«
»Das wissen wir im Moment noch nicht genau.«
Aber Alice war auf einmal alles klar. Maggie hatte wieder einmal Recht gehabt. Das kleine Luder hatte sich verliebt, und sie wollte den Mann unbedingt haben. Aber er liebte seine Kinder und hätte sie nie verlassen.
»Frannie?«
»Sprechen Sie es aus, Alice.«
»Dann war es doch einer von uns.«
Im Hintergrund hörte Alice, wie es bei Frannie an der Tür läutete. Eine Frau sagte: »Ich mache schon auf.« Ihr wurde klar, dass sie überhaupt nichts über Frannie wusste.
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Frannie ruhig. Einen Augenblick lang war Alice von der Frage schockiert. Glaubte Frannie allen Ernstes, sie würde einen Komplizen an Laurens Ermordung decken?
»Sie machen Witze, Frannie, oder?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Aber wenn ich die Antwort auf die Frage wüsste, dann würde ich sie Ihnen geben. Ich würde es Ihnen doch sagen.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Frannie.
Alice beließ es dabei. Sie hatte keine Ahnung, was Frannie wirklich von ihr dachte. Und es spielte auch keine Rolle. Frannie war eine gute Polizistin, klug und entschlossen, und Alice respektierte sie, auch wenn sie keine neue Freundin gewonnen hatte.
In der Woche, die folgte, wurde unermüdlich nach Tim Barnet und Analise Krup gefahndet. Man ging davon aus, dass sie Ivy bei sich hatten und sich in irgendeinem fernen Land aufhielten. Aber wie war es ihnen gelungen, so spurlos zu verschwinden? Warum hatte niemand sie gesehen? Es gab einige Hinweise, aber alle verliefen im Sand. Waren sie vielleicht zu unauffällig, um bemerkt zu werden? Amerikanischer Vater, französische Mutter, ein kleiner Junge und ein Baby? Und was war mit ihrem süßen Austin, dachte Alice. Was hatten sie mit ihm gemacht?
Nach einer Zeit, in der Alice noch einmal sämtliche Qualen der Erinnerung durchlebte, verliefen die Tage ereignislos, und jede ruhige Stunde war ein Versprechen, dass die Normalität zurückkehren würde. Schließlich dachte Alice, es sei überstanden, es sei endlich vorbei. Und dann kam sie eines Nachmittags allein zu Simons Haus, kurz bevor sie Nell und Peter von der Schule abholen musste.
In dem Augenblick, als sie seine Stimme hörte, wusste sie, es war unvermeidlich.