KAPITEL 22
Was ist passiert? Wo ist sie?«
»Alice, meine Liebe.« Judy senkte die Stimme. »Pam mochte Sie sehr, das hat sie mir erzählt.«
Mochte?
»Ich habe heute Ihre Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gehört. Ich kümmere mich um das Haus am Third Place.«
»Bitte, sagen Sie mir, was passiert ist.«
Judy stieß einen tiefen Seufzer aus. Alice sah sie vor sich, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, ganz hinten rechts in der Ecke, dem Schreibtisch mit dem Schnickschnack.
»Ein Nachbar hat sie heute Morgen in ihrem Auto gefunden, mit laufendem Motor. Der Mann hat das Benzin durch das Garagentor gerochen.«
Alice sah das schwarz gestrichene Tor von Pams Garage vor sich. »Aber das ist unmöglich«, sagte sie. »Das würde Pam nie tun…«
Alice dachte an Pam, mit ihrem Lächeln, ihrem lauten, unbeherrschten Lachen, ihrem Duft nach Babypuder. Die Frau hatte noch so vieles vor. Sie hätte Alice nie heute früh zu dem Haus geschickt, wenn sie gewusst hätte…
Es sei denn, es wäre ein Abschiedsgeschenk gewesen, weil sie gewusst hatte, dass Alice das Haus gefallen würde.
Alice hatte keine Erfahrung mit Selbstmord, und wenn sie es recht bedachte, kannte sie auch Pam nicht wirklich.
»Wir stehen alle unter Schock«, sagte Judy leise. »Pam liegt im Long Island College Hospital, wenn Sie Blumen oder eine Karte schicken möchten.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Alice. »Lebt sie noch?«
»Ja. Es geht ihr sehr schlecht, aber wir hoffen.«
Alice notierte sich das Krankenhaus auf ihrem Küchenkalender, wobei ihr auffiel, dass schon wieder Donnerstag war. Noch ein Donnerstag.
Ihr wurde plötzlich übel. Sie verabschiedete sich rasch und legte auf. Peter spielte auf dem Teppich mit seinem kleinen Feuerwehrauto und fuhr damit durch ein Labyrinth, das er sich aus Schachteln und Holzklötzchen gebaut hatte. Froh darüber, dass er so in sein Spiel vertieft war, lief Alice an ihm vorbei ins Badezimmer und erbrach sich über der Kloschüssel.
Am Abend rief sie dreimal im Krankenhaus an, aber man sagte ihr lediglich, Pam läge auf der Intensivstation und dürfe außer Familienangehörigen keinen Besuch empfangen. Zumindest erfuhr Alice so, dass sie noch am Leben war.
Schließlich beschloss sie, sich zu beruhigen, indem sie wie eine gute Nachbarin handelte. Sie würde Pams Ehemann, Ray, einen Hühnereintopf bringen; der Mann musste ja schließlich etwas essen. Sie holte ein Hühnchen aus der Tiefkühltruhe und legte es in den Kühlschrank, damit es bis zum nächsten Tag auftaute. Dann stellte sie alle Zutaten auf die Küchentheke und ging in den Garten, um einen Zweig frischen Rosmarin zu holen.
Sie hörte die Kinder unten, die gerade aus dem Badezimmer kamen und sich für die Nacht fertig machten. Mike war an der Reihe, sie ins Bett zu bringen, und Alice hatte Küchendienst gehabt. Zwischendurch kam Mike in die Küche.
»Gibt es etwas Neues?«, fragte er.
»Nichts.«
Er sah Alice zu, wie sie ihre Vorbereitungen beendete, die letzte Dose Tomaten aus dem Schrank nahm, Karotten und Kartoffeln aus dem Kühlschrank holte.
»Kochst du etwa jetzt noch?«
»Nein, aber ich dachte, ich fange gleich morgen früh an, wenn die Kinder aus dem Haus sind.« Sie nahm zwei Zwiebeln aus dem Schubfach im Kühlschrank.
Mike hockte sich vor den Eckschrank, holte den großen, schweren Suppentopf heraus, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, und stellte ihn auf den Herd. Dann trat er zu Alice und nahm sie in den Arm.
»Alles wird gut«, flüsterte er. »Es muss ja. Okay?«
Wollte er sie beruhigen? Oder bat er sie, ihn zu beruhigen?
»Okay«, erwiderte sie leise. »Und wenn nicht, dann nehmen wir einfach die Kinder und gehen, ja? Irgendwohin. Wir gehen einfach.«
Er nickte. Lange würden sie diesen Kampf nicht führen.
»Ich bringe die Kinder ins Bett«, sagte Mike.
»Ich komme mit«, erwiderte sie und schaltete das Licht aus. Pams Brownstone sah so prächtig und friedlich aus wie beim ersten Mal, als Alice es gesehen hatte. Das Garagentor war fest verschlossen. Der Anblick der gelben, duftenden Rosen im Vorgarten tat Alice im Herzen weh. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Pam versucht haben sollte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie waren doch erst vor zwei Tagen noch zusammen gewesen, und da hatte Pam so gewirkt, als ginge es ihr bestens.
Alice läutete an der Tür und wartete mit Jason auf der Treppe. Sie hatte ihn gebeten, ihr zu helfen, den schweren Suppentopf zu tragen, hatte dabei allerdings nicht erwähnt, dass Mike darauf bestand, dass sie keinen Schritt mehr allein ging, ehe der Limousinenfahrer nicht gefasst war.
Eine sehr alte Frau öffnete die Tür und blinzelte sie hinter dicken Brillengläsern, die ihre Augen unnatürlich vergrößerten, fragend an. Sie war so dünn, dass ihre Venen dick und bläulich durch die Haut schimmerten. Die Haare hatte sie wie in den fünfziger Jahren zu einer Bienenkorbfrisur hochgesteckt, und sie hatte dick blauen Lidschatten aufgetragen. Am besten aber war das psychedelische Marimekko-Kleid, das sie trug.
»Sie sind bestimmt Pams Mutter«, sagte Alice.
»Kenne ich Sie?«
»Ich bin Alice, eine Kundin von Pam, und das ist Jason.«
»Esther. Der Topf sieht schwer aus. Geben Sie her.«
Energisch nahm Esther Jason den Suppentopf aus der Hand und trug ihn in die Küche. Alice folgte ihr. Sie verstand jetzt, von wem Pam die Entschlossenheit geerbt hatte. Größe und Umfang allerdings nicht. Jason blieb in der Diele stehen und wartete auf Alice.
»Kennen Sie Pammies Mann, Ray?« Esther stellte Alice’ Eintopf zu einer kleinen Ansammlung anderer Töpfe und Schüsseln auf der Küchentheke. Ein winziger Mann mit rasiertem Schädel, der weite olivgrüne Shorts und ein schwarzes T-Shirt trug, saß auf einem Hocker an der mit Marmor belegten Kücheninsel.
Ihm gegenüber saßen Frannie und Giometti.
Es war ein Schock, die beiden Detectives in Pams Küche zu sehen. Was hatten sie hier zu suchen? Verblüfft blieb Alice auf der Schwelle stehen.
Als Ray sich zu ihr umdrehte, sagte sie: »Ich heiße Alice. Pam hat mir bei der Suche nach einem Haus geholfen. Ich war in der letzten Zeit häufig mit ihr zusammen, und ich war schockiert, als ich erfahren habe…«
»O ja, sie hat Sie erwähnt!« Rays Gesicht hellte sich auf, und er erklärte den beiden Polizisten: »Pam war ganz wild darauf, für diese Dame ein Haus zu finden. Sie hat niemals aufgegeben. Sehen Sie? Genau das meinte ich. Es ergibt einfach keinen Sinn, dass sie sich selber etwas angetan haben soll.«
Dann wandte er sich wieder an Alice, die immer noch unschlüssig in der Tür stand. »Das ist einfach nicht Pams Art«, sagte er. »Sie würde nie Selbstmord begehen.«
»Meinen Sie, jemand wollte sie ermorden?«, fragte Alice und verstand im gleichen Augenblick, warum Frannie und Giometti da waren. Sie waren von der Mordkommission, sie untersuchten keine Selbstmorde. Offensichtlich hatte jemand versucht, Pam umzubringen.
»Wie geht es Pam?«, fragte Alice.
»Sie liegt im Koma. Mein Baby liegt im Koma.« Er begann zu weinen.
Esther trat zu ihm und legte ihm ihren dünnen Arm um die Schultern. »Schscht, wir bekommen unser Baby schon wieder zurück. Du wirst sehen.«
Giometti trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf die Küchentheke. Frannie saß ganz still da und machte ein ernstes Gesicht. Ihr Blick ruhte auf Alice, und Alice kam sich auf einmal vor wie ein Eindringling. Sie kannte Pam kaum. Sie sollte jetzt lieber wieder gehen.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sagte: »Ich würde Pam gerne besuchen, wenn sie wieder Besuch empfangen kann.«
»Sagen Sie mir Ihre Telefonnummer«, erwiderte Esther. »Ich habe ein hervorragendes Gedächtnis.«
Alice nannte ihr die Nummer, und Esther lauschte aufmerksam. Dann nickte sie und begann, die Töpfe und Schüsseln in den Kühlschrank zu räumen.
»Alles Gute«, sagte Alice zu Ray.
Ihm liefen immer noch die Tränen über die Wangen, aber er stand auf und nahm ein mit Alufolie bedecktes Tablett von der Küchentheke.
»Das sind Brownies«, sagte er. »Esther achtet auf ihre Figur, und ich darf so etwas wegen meines Herzens nicht essen. Pam hat erwähnt, dass Sie Kinder haben. Wir hätten auch gerne welche gehabt, aber es hat leider nicht geklappt. Hier.« Er reichte Alice das Tablett. »Wenn ich die Brownies esse, bringt sie mich um. Mit Sicherheit!«
»Danke! Nell und Peter werden sich freuen.« Alice küsste Ray auf die Wange und wandte sich zum Gehen.
»Gehen Sie gleich nach Hause«, sagte Frannie. Verwundert drehte Alice sich um und blickte die junge Frau an.
»Aber ich muss den Laden aufmachen.«
Frannie beugte sich vor. »Lassen Sie sich von dem jungen Mann da draußen nach Hause bringen. Er kann den Laden allein aufmachen.«
»Warum?«, fragte Alice.
Frannie antwortete nicht, aber ihr angespannter Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.