KAPITEL 12
Nell und Peter waren außer sich vor Freude, als ihre Großmutter vor der Schule auf sie wartete. Ohne Alice auch nur eines Blickes zu würdigen, stürmten sie auf sie zu. Trotz ihrer weißen Hose fiel Lizzie auf die Knie und breitete die Arme aus, um ihre Enkel an sich zu ziehen und zu küssen. Sie schwatzten unablässig, den ganzen Weg bis zu Sweet Matilda, wo Lizzie sie zu einem »schicken Snack« eingeladen hatte. Alice hinterließ Mike eine Nachricht auf der Mailbox seines Handys, damit er wusste, wo sie waren. Es machte ihr nicht wirklich etwas aus, dass das Abliefern der Holzbretter so lange dauerte, aber er fehlte ihr doch, und sie fühlte sich ein wenig verlassen, weil er nicht bei ihr geblieben war.
Der High Tea wurde auf einer dreistöckigen Etagere serviert, mit hauchdünnen Weißbrotscheiben ohne Kruste, Petits Fours, Plätzchen, Muffins und Scones. Alice und Lizzie teilten sich eine Kanne Kamillentee. Die Kinder kuschelten sich auf der Bank an der Wand an Lizzie, während Alice ihnen auf einem Stuhl gegenübersaß. Am liebsten hätte sie sich auch bei ihrer Mutter auf den Schoß gesetzt, aber so war es auch schön. Ab und zu schickte Lizzie ihr einen Luftkuss.
»Wie lange bleibst du, Gamma?«, fragte Nell. Lizzie war für beide Kinder Gamma, seit Nells ersten Versuchen, Grandma zu sagen. Als Peter dann anfing zu sprechen, hatte er den Spitznamen automatisch übernommen.
»Nur zwei Nächte, Süße. Gamma hat Arbeit in Los Angeles.« Sie küsste Nell auf den zerzausten, rotblonden Scheitel und gab dann Peter ebenfalls einen Kuss auf seine braunen Haare, um ihre Zuneigung gleichmäßig zu verteilen.
»Wirklich, Mom?«, fragte Alice enttäuscht. »Jetzt bist du extra von so weit gekommen.«
»Das ist doch noch gar nichts«, erwiderte Lizzie. »Ich würde bis nach China reisen, um eine Mahlzeit mit meiner Familie einzunehmen.«
»Kannst du nicht ein bisschen länger bleiben? Du könntest mir bei der Haussuche helfen«, sagte Alice.
»Wie steht es denn?« Lizzie knabberte an einem Muffin, und ein paar Krümel blieben an ihrer Unterlippe hängen.
»Zwei neue Firmen und jetzt auch noch ein neues Haus«, sagte Alice. »Wenn wir unsere alten Jobs noch hätten, wäre es eine Kleinigkeit, uns das zu leisten, was wir haben möchten. Fast jedenfalls.«
»Ihr beide habt das Richtige getan, als ihr euer Leben geändert habt.« Lizzie tupfte sich den Mund ab und hinterließ eine Lippenstiftspur auf der Serviette. »Diese Tragödie mit Lauren beweist das doch. In einer Sekunde kann alles vorbei sein…« Sie schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
Alice wurde das Herz schwer, als ihre Mutter Lauren erwähnte. Warum hatte sie nur von der Haussuche angefangen? Sie konnte sowieso nicht durch die Gegend laufen und sich Häuser ansehen, mit Maklern sprechen oder Finanzierungen durchrechnen. Im Moment noch nicht. Das würde Mr. Pollack, Eigentümer, schon verstehen müssen.
»Was ist denn mit der Maklerin, mit der dich Maggies Babysitter zusammengebracht hat?«, fragte Lizzie. »Da hattest du doch so ein gutes Gefühl.«
»Ach, vergiss es, Mom.« Alice brach sich ein Stück von ihrem Scone ab, legte es aber dann wieder auf den Teller zurück. »Ich kann mich im Moment sowieso nicht darum kümmern.«
»Warum denn nicht?«
»Mom…«
»Du hast eine Familie. Mach bloß nicht wieder eine Krise daraus.« Lizzie reckte stolz ihr Kinn. »Was hast du denn geglaubt, wie lange ihr in der Wohnung bleiben könntet? Wolltest du alle vier Kinder in einem Zimmer unterbringen?«
Ja, dachte Alice, schwieg jedoch. Es war ein großes, schönes Zimmer, und Alice hatte sich zwei Etagenbetten vorgestellt; so machten es viele Leute in der Stadt. Aber sie musste zugeben, dass es nicht wie eine besonders gute Lösung klang, wenn man es so geradeheraus sagte.
»Bitte, Gamma«, bettelte Peter und kuschelte sich enger an Lizzie, »bleib doch da.«
»Das würde ich furchtbar gerne, aber es geht nicht«, erwiderte Lizzie, und mit einem Blick auf Alice fügte sie hinzu: »Ich muss eurer Mutter noch ein paar Dinge sagen, die ich ihr nicht am Telefon erklären kann. Aber dafür müssten zwei Tage reichen.«
Die Stimme, die am Telefon immer zu laut klang, passte zu Lizzie als Person. Als Teenager hatte Alice ihrer Mutter vorgeworfen, sie hielte sich für überlebensgroß.
»Falsch«, hatte Lizzie gekontert, »ich bin lebensgroß. Ich passe genau hinein. Wenn du erwachsen bist, wirst du den Unterschied begreifen.«
Mittlerweile begriff Alice den Unterschied. Er lag in der Wahl, die man traf, in der Art und Weise, wie man auf Ereignisse reagierte. Ihre Mutter war immer in die Welle hineingetaucht, bevor sie von ihr überrollt wurde.
Kurz vor fünf rief Mike endlich an und schlug vor, etwas zu essen mitzubringen. Alice erklärte, das halte sie für eine gute Idee. Seltsamerweise erwähnte Mike gar nicht, warum er so lange in der Werkstatt geblieben war und sich nicht gemeldet hatte.
»Das war eine lange Stunde«, sagte sie in dem Versuch, ihm begreiflich zu machen, wie sehr sie auf ihn gewartet hatte. Warum hatte er überhaupt unbedingt von ihr weggewollt? Warum konnte er bei der Arbeit seinen Schmerz besser bewältigen als zu Hause?
»Es war die längste Stunde meines Lebens«, erwiderte er ruhig. »Aber jetzt ist sie vorbei.«
Alice fragte sich, ob er das Holz überhaupt in die Werkstatt gebracht hatte.
»Ich wurde langsam ein bisschen nervös…«, begann sie.
»Das brauchst du mir nicht zu sagen, Alice. Ich weiß.«
Sie schwiegen beide, und schließlich meinte Alice: »Es ist schon okay. Komm nur endlich nach Hause. Wir warten alle auf dich.«
Eine halbe Stunde später saßen Alice, Mike, Lizzie und die Kinder um den Küchentisch und aßen Hummus, Auberginen-Dip, Lammspieße und frisches Pita-Brot von Papptellern. Mike wirkte ganz normal, dachte Alice. Heute war ein schmerzlicher Tag gewesen, und sie war froh, dass sie jetzt alle endlich wieder zusammen waren.
Lizzie sollte auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Mike ging mit den Kindern nach unten, um sie zu Bett zu bringen, während Alice das Sofa für ihre Mutter herrichtete. Lizzie zog sich im Badezimmer um und erschien in einem lavendelfarbenen Nachthemd mit Spaghettiträgern und einem Federsaum an den Knien. Dazu trug sie passende Pantöffelchen, die aussahen wie Puderquasten. Ihre Haut war schlaff und gebräunt, aber nicht von der Sonne am Strand; Lizzie arbeitete bis spät am Abend. Ihre Bräune stammte aus einem Sonnenstudio.
Alice schlug die Decke zurück und legte sich auf das Sofabett. Lizzie schlüpfte neben sie und strich durch Alices kurze rotblonde Haare. Die weiche Haut ihrer Mutter war für Alice immer noch das Höchste.
»Ich habe nie begriffen, von wem du die roten Haare geerbt hast«, sagte Lizzie. »Von Rich und mir auf jeden Fall nicht.«
»Weißt du noch, wie du mir immer weisgemacht hast, meine Sommersprossen seien Feenstaub?«
Lizzie lachte leise. »O ja, klar, daran erinnere ich mich noch gut.«
»Ich habe dir geglaubt.«
»Na ja, mein Schatz, das wolltest du damals eben gerne hören.« Lizzie fuhr mit der Fingerspitze die Konturen von Alices Gesicht nach: Stirn, Nase, Wangenknochen, Kinn. Als Alice noch klein war, hatte sie sie damit nachts immer beruhigt.
»Ich habe die Schlaftablette genommen, die meine Ärztin mir gegeben hat«, sagte Alice, »aber ich habe noch nicht das Gefühl, dass sie wirkt.«
»Warte nur ab, sie wird schon wirken.«
»Danke, dass du gekommen bist, Mom.«
»Hmm.«
Unten ebbte der Kinderlärm langsam ab. Peter wurde immer als Erster zu Bett gebracht, da er der Jüngste war, dann kam Nell an die Reihe. Jetzt lag Mike wahrscheinlich bei Nell im Bett und erzählte ihr eine Geschichte.
»Erzähl mir eine Geschichte, Mom.«
»Kannst du dich an deinen Vater erinnern?«
»Ein bisschen, nicht sehr gut. Ich war ja erst acht, als er uns verlassen hat. Findest du, ich müsste mich besser an ihn erinnern können?«
»Er war ein Scheißkerl, ein echter Verlierer, aber als er uns wegen dieser Nutte verlassen hat, hat er mir das Herz gebrochen«, sagte Lizzie. »Im wahrsten Sinne des Wortes gebrochen.«
»Ich dachte, sie sei Meeresbiologin gewesen. Hat sie nicht bei Daddy im Labor gearbeitet?«
»Sie war eine Nutte. Das ist mir lieber so. Weißt du noch, was ich getan habe, als er ging?«
»Ich weiß noch, dass du ganz ruhig warst. Es hat mir irgendwie Angst gemacht.«
»Mir auch.« Lizzies Fingerspitzen lagen auf Alices Stirn. »Als Erstes bin ich einkaufen gegangen, für uns beide. Und dann habe ich unser ganzes altes Zeug verkauft. Auch das Haus. Und wir sind nach Kalifornien gezogen.«
»An die neuen Kleider kann ich mich noch erinnern – das hat mir Spaß gemacht. Aber ich war unheimlich wütend, weil du meine alten Sachen verkauft hast. Ich hätte sie gerne noch eine Weile behalten.«
»Das ist mir erst später aufgegangen. Tut mir Leid. Jeder Mensch macht Fehler.«
Alice stützte den Kopf in die Hand und betrachtete ihre Mutter. Lizzie lag auf dem Rücken und hatte Alice das ganze Kissen überlassen.
»Das Schlimme ist«, sagte Lizzie leise, »dass er sich danach nie mehr um uns gekümmert hat. Ich habe jede Menge Lärm gemacht, als wir umgezogen sind, aber ihm war es einfach egal.«
Jetzt war es an Alice, mit ihren Fingerspitzen das Gesicht der Mutter zu streicheln. Ohne Make-up war es voller feiner Fältchen, aber Alice fand sie wunderschön.
»Und noch etwas.« Lizzie blickte Alice an. »Ich habe ihn vielleicht auf gewisse Weise sogar noch geliebt, aber für mich war er gestorben. Ich habe ihn in Long Island zurückgelassen und mein Herz vor ihm verschlossen.«
Alice hatte sich immer gefragt, wie ihr Vater sie beide einfach so hatte verlassen können. Als Ehefrau fand sie die Vorstellung schmerzlich, und als Mutter einer Tochter, die fast genauso alt war wie sie selbst damals, fand sie sein Verhalten schockierend.
»Alice«, fuhr Lizzie fort, »als dieser Scheißkerl, der Lauren ermordet hat, sie uns genommen hat, da hat er auch dich genommen. Gib ihm nicht so viel Macht über dich. Tu es nicht!« Alice traten die Tränen in die Augen. »Ich komme gegen meine Gefühle nicht an, Mom.«
»Ich bin hier, um dir das Gegenteil klar zu machen. Natürlich kommst du dagegen an. Du musst dich gegen den Schmerz wappnen, dir einen Panzer zulegen, genau wie ich damals. Du hast Kinder, und du kannst es dir nicht leisten, zusammenzubrechen.« Auch Lizzie rollte eine Träne über die Wange, aber sie achtete nicht darauf.
»Bei dir klingt es so einfach, Mom.«
»Dass es einfach ist, habe ich nie behauptet, oder?«
Alice schlief neben Lizzie ein und lag die ganze Nacht neben ihrer Mutter. Zwölf Stunden fester, tiefer Schlaf.
Aber als sie aufwachte, ließ die erholsame Wirkung sofort wieder nach. Um ein Uhr war Laurens Beerdigung. Alice hielt die Augen fest geschlossen und bemühte sich, die Angst zu unterdrücken. Sie hätte den Rat ihrer Mutter gern angenommen, wusste aber nicht wie. Nach einer Weile kamen Nell und Peter nach oben und krabbelten kichernd und lachend zu ihr ins Bett. Sie würde Lizzies Lektion wohl oder übel lernen müssen. Wenn sie es zuließ, würde Laurens Mörder viele Leben zerstören. Aber wie sollte sie ihn aus ihrer Seele verbannen?