KAPITEL 17

Garden Hill Realty lag an der Court Street neben der monolithischen Old St. Paul’s Church, wo man samstags Bingo spielen, sonntags beten, unter der Woche abends zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gehen und an Donnerstagnachmittagen im Sommer Bio-Produkte kaufen konnte. Auf einem Kupferstich der Brooklyn Bridge stand Ihr Weg zu einem Brownstone in Brooklyn. Maklerlizenz: Judith Gersten. Die abgebildeten Häuser kosteten zwei Millionen Dollar oder mehr. Sie konnten unmöglich etwas in ihrer Preisklasse haben, dachte Alice, aber dieses Mal würde sie sich vom Markt nicht entmutigen lassen. Irgendetwas würde es für sie schon geben, und wenn es wieder zur Miete wäre.

Alice blickte auf die Uhr. Es war zehn nach zehn: Pam kam zu spät. Sie musterte die Passanten auf der Court Street, um Pam Court zu entdecken, aber die Frau kam natürlich aus der anderen Richtung.

»Hallo!«, rief sie mit glockenheller Stimme. »Entschuldigen Sie die Verspätung!«

Pam Short war eine große, üppige Frau – sie war mindestens fünfzig Pfund schwerer als Alice –, und ihr pink und orangefarbener Kaftan erinnerte Alice an die Sachen, die ihre Mutter Ende der Sechziger getragen hatte, als sie ihrer damals sehr kleinen Tochter äußerst cool vorgekommen war. Pams schulterlange braune Haare hatten einen hellroten Schimmer, der kürzlich in Mode gekommen war, und ihr pinkfarbener Lippenstift passte zu der Farbe auf dem Kaftan. Zum Schluss fielen Alice die Schuhe der Frau auf: Ihre Füße quollen aus den gleichen roten, mit Strasssteinen besetzten Leder-Flipflops, die an Sylvies schlanken Füßen so hinreißend ausgesehen hatten.

Pam holte ein großes Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die lange Metallbox an der Mauer auf, in der sich der Kettenzug für das Gitter vor der Ladenfront befand. Nachdem sie ein paarmal kräftig daran gezogen hatte, öffnete sich das Gitter. Drinnen fuhr Pam mit der Hand über eine Reihe von Schaltern, und alle Lampen im Laden gingen gleichzeitig an, sodass der Raum aufgeschlagen wie ein Pop-up-Buch vor ihnen lag. Die Wände waren in einem blassen Pink gestrichen, und die Stuckdecke war cremefarben. Zwei Deckenventilatoren drehten sich langsam. An den Wänden hingen angestrahlte Fotos von Alt-Brooklyn mit seinen Weiden, Farmen und Hütten und von Neu-Brooklyn mit seinen prachtvollen Villen und Gärten. Ein mit Orientteppichen ausgelegter Gang trennte zwei Reihen mit je vier Schreibtischen, alle sehr ordentlich und aufgeräumt, abgesehen von dem einen am hinteren Ende der rechten Seite, auf dem jede Menge Schnickschnack stand. Dahinter hingen drei gerahmte gestickte Sprüche, die Alice aus der Entfernung nicht lesen konnte.

Pam setzte sich an den ersten Schreibtisch auf der rechten Seite, von dem aus man den besten Blick auf die Straße hatte. Alice nahm auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch Platz. Pam faltete ihre molligen Hände auf einem weißen Aktenordner und blickte Alice an.

»Bevor wir anfangen, möchte ich Ihnen sagen, wie Leid es mir wegen Ihrer Freundin tut. Sylvie hat mir davon erzählt, und ich habe es auch in der Zeitung gelesen. Sie sind wahrscheinlich am Boden zerstört, und das in Ihrem Zustand. Ich fühle wirklich mit Ihnen.«

»Danke«, erwiderte Alice. »Das ist nett von Ihnen. Meine Mom meinte, ich solle mich aufraffen, deshalb hat sie diesen Termin gemacht, aber…«

»Wir können gerne einen neuen Termin machen«, unterbrach Pam sie. »Es braucht nicht heute zu sein.«

»Doch, es muss sofort sein. Meine Mutter hat Recht. Unser neuer Vermieter hat uns schon die Kündigung geschickt. Er will uns auf jeden Fall heraushaben.«

Pam fuhr ihren Computer hoch und begann, den weißen Aktenordner durchzublättern. »Ihre Mutter sagte, Sie suchen nach einem Haus, mit mindestens zwei Schlafzimmern, aber wir wären blöd, wenn wir nicht von vorneherein nach einem mit drei Schlafzimmern suchen würden. Das doppelte Einkommen wirkt sich auf die Hypothek aus, und sie meinte, Sie könnten sich im Achthunderttausend-Dollar-Bereich umschauen, aber ich denke, Sie sollten höher anfangen. Das müssen Sie in diesem Markt einfach, aber machen Sie sich keine Sorgen, wir rechnen alles aus, und dann sehen Sie schon, was ich meine.«

Während Pam redete, markierte sie Seiten des Aktenordners mit pinkfarbenen Post-it-Zetteln. Sie trug vier Ringe an jeder Hand, unter anderem auch einen Ehering, der unter einer roten Plastikkugel beinahe verschwand.

»Sollen wir auch nach Mietobjekten schauen? Dann hätten Sie mehr Zeit, um nach dem perfekten Haus zu suchen.«

Das perfekte Haus. Gab es so etwas überhaupt? Alice sah sich selbst, umgeben von Stapeln von Umzugskisten, die Lungen voller Staub, mit schmerzenden Muskeln von dem ständigen Hin und Herräumen. Zwei fordernde Kinder und bald zwei schreiende Babys. »Ich bin doch keine Zigeunerin«, hatte Lauren erst vor drei Wochen im Autumn Café zu Alice gesagt und die eine Hälfte von Alices Bagel entgegengenommen. Sie sah förmlich vor sich, wie Lauren hineinbiss, und spürte den kühlen, sahnigen Geschmack des Cream Cheese auf der Zunge.

»In Amerika gibt es Rechte«, hatte Lauren gesagt. »Oder etwa nicht?«

»Nein«, erwiderte Alice Pam. »Wir wollen nur kaufen. Ich möchte nicht zweimal umziehen.«

Pam nickte. Alice war sich beinahe sicher, dass sie ein Lächeln unterdrückte, weil sich ein Grübchen in ihrer Wange bildete. Sie blätterte durch ihre Aktenmappe und betrachtete die Seiten, an die sie Post-its geklebt hatte.

»Es sieht ganz so aus, als gäbe es ein paar Möglichkeiten im Moment«, sagte Alice.

Pam hielt inne und blickte Alice an. »Meine Liebe, es gibt immer Möglichkeiten. Mein Job ist es, Dinge geschehen zu lassen, und ich habe noch nie einen Kunden enttäuscht, der wirklich kaufen wollte.«

Rasch vereinbarte Pam Besichtigungstermine für Alice: zwei Häuser für den nächsten Morgen, eins später am Nachmittag und eins am Tag danach.

Am nächsten Tag setzte Alice die Kinder an der Schule ab und wanderte langsam zu der Adresse, die Pam ihr am First Place zwischen Court und Clinton Street angegeben hatte. Weil sie viel zu früh für den Neun-Uhr-Termin war, machte sie einen Umweg über die Carroll bis zur Henry Street, wobei sie den langen Schatten der Häuser auf der Nordseite genoss. Jede Hausfassade erzählte von der Geschichte und den Leidenschaften der Menschen, die darin gewohnt hatten. Die meisten Häuser in dieser Gegend waren um 1800 gebaut worden, als Babys noch zu Hause geboren wurden, Besitz in der Familie blieb und Großeltern in denselben Betten starben, in denen sie schon als Kinder geschlafen hatten. An der Henry Street bog sie auf den First Place ein und kam an hohen, breiten Häusern vorbei, deren Vorgärten, von Eisengittern umgeben, vor Rosen überquollen.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie ihren Schritt beschleunigen. Rasch ging sie zur Ecke Clinton Street, wo sie auf dem Bürgersteig wartete, bis sie die Straße überqueren konnte. In diesem Moment bemerkte sie den großen grauhaarigen Mann, den Limousinen-Fahrer, den sie an dem Morgen am Kanal gesehen hatte. Er saß auf einem Poller auf der anderen Straßenseite und schien sie zu beobachten. Er nickte ihr zu, aber dieses Mal erwiderte sie den Gruß nicht. Er war seltsam, und sie mochte ihn nicht. Manchmal konnte dieses urbane Dorf wirklich zu klein sein. Hoffentlich wohnte der Mann nicht in diesem Häuserblock.

Pam hatte ihr gesagt, dass der Eigentümer des Hauses, das sie besichtigen wollte, siebenhunderttausend Dollar verlangte. Das war für diese Gegend das reinste Schnäppchen. »Im Herzen von Carroll Gardens«, hatte Pam ihr aus dem Exposé vorgelesen. Vier Etagen, eine dreistöckige Wohnung für den Eigentümer, eine Mietwohnung. Das Haus war zwar ungewöhnlich schmal und nicht besonders groß, aber laut Exposé besaß es viel Potenzial. Und es konnte sofort bezogen werden. Alice hatte auf dem Weg hierhin in allen möglichen Phantasien geschwelgt, aber als sie das Haus erblickte, sank ihr das Herz.

Viel Potenzial, begriff sie angesichts dieses schmalen Ziegelbaus, bedeutete Kernsanierung erforderlich. Pam wartete bereits auf sie vor dem Haus und kritzelte etwas in ihr Notizbuch. Als sie Alice erblickte, kam sie auf sie zu.

»Es tut mir Leid«, sagte sie mit solchem Nachdruck, dass Alice keine Sekunde daran zweifelte, dass sie es ehrlich meinte.

»Es ist neu hereingekommen, und ich habe es noch nie zuvor gesehen. Das glaubt man doch nicht, oder? Ich könnte es Ihnen noch nicht einmal zeigen, wenn Sie es unbedingt sehen wollten. Es hat keine Fußböden! Kommen Sie, wir trinken einen Kaffee vor dem nächsten Termin.«

Sie gingen um die Ecke ins La Traviata Café, stellten sich an die Theke und orderten Cappuccino für Pam und einen Orangensaft für Alice. An der Wand hingen Fotos von Frank Sinatra neben einem lebensgroßen Plakat von Placido Domingo. Es war ein ulkiges, ein wenig chaotisches Lokal, und ein starker, würziger Duft nach Kaffee lag in der Luft. Als Pams Cappuccino kam, war es Alice bereits wieder übel, und sie bedauerte, dass sie Orangensaft bestellt hatte. Die Säure würde ihrem unruhigen Magen nicht gut tun.

Sie nahmen ihre Getränke und setzten sich an einen Tisch vor der Tür. Pam blies Krater in ihren Milchschaum und schüttete ein ganzes Paket Zucker hinein.

»Dieses Haus da«, sagte Alice, die über das Haus und den Limousinen-Fahrer nachdachte, als ob über dem Ort irgendwie eine dunkle Wolke schwebte.

»Vergessen Sie es.« Pam trank einen Schluck Kaffee.

»Jedes Haus ist ein Blind Date. Entweder es passt oder es passt nicht. Die meisten passen nicht, und dann sucht man weiter.«

»Ich werde es mir merken.«

»Haben Sie vorher noch nie gesucht?«

»Wir wohnen seit fünfzehn Jahren im selben Haus. Bevor wir uns beide selbständig machten, hätten wir mit Leichtigkeit etwas kaufen können. Wir hätten es eigentlich tun müssen. Aber wir hatten ja eine schöne Wohnung, warum sollten wir also?«

Pam verzog das Gesicht. »Sie würden nicht glauben, wie oft ich das schon gehört habe. Damals, als noch niemand diese Gegend kannte, hätten Sie zuschlagen müssen. Aber jetzt?« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber machen Sie sich nichts draus. Sie haben Ersparnisse, und Ihr Laden ist ein Erfolg, das spüre ich in den Zehenspitzen.« Pam brach in Lachen aus und streckte einen Fuß unter dem Tisch hervor. Alice erkannte ihre Schuhe sofort: rehbraune Schuhe mit Keilabsatz und runder Kappe.

»Ach, Sie haben die gekauft?« Es war eins der neuen Modelle, ziemlich teuer mit dreihundert Dollar. »Warum habe ich Sie denn noch nie im Laden gesehen?«

»Ich gehe immer erst spät am Tag, nach der Arbeit.«

Maggies Schicht. Die perfekte Mischung: Maggies Charme, eifrige Füße und eine offene Brieftasche.

Pam blickte auf ihre Uhr.

»Müssen wir los?«, fragte Alice.

»Wir haben noch ein bisschen Zeit.« Pam schob ihre leere Tasse über den Tisch und lehnte sich zurück. »Sie könnten mir etwas über Ihren neuen Hauseigentümer erzählen.«

Ein Stadtbus hielt an, ließ zwei Frauen einsteigen und fädelte sich in einer Dieselwolke wieder in den Verkehr ein. »Er ist ein Albtraum«, begann Alice. »Und gerade jetzt, zwischen der Geburt der Zwillinge und Laurens…«

Ihr wurde schwindlig, als sie daran dachte, wie sie Laurens Leiche aus dem Kanal gezogen hatten. »Ich habe morgens schon Schwierigkeiten, aus dem Bett zu kommen. Aber wir können mit diesem Mann nicht unter einem Dach wohnen bleiben. Lauren kämpfte gegen die Kündigung. Sie war eine Kämpferin. Aber ich bin das nicht.« Und dann flossen die Worte einfach so aus ihr heraus. Sie erzählte Pam alles über Lauren und ihre Freundschaft, beschrieb Laurens Verschwinden und die Entdeckung der Leiche in allen Einzelheiten und erwähnte auch Ivy. Sie erzählte Pam sogar, wie Ivy vielleicht aussah: klein, hellbraune Haare, Laurens hellblaue Augen. Dann hielt sie verlegen inne. Offensichtlich brauchte sie keine Maklerin, sondern eine Therapeutin. Pam Short wäre eine exzellente Therapeutin gewesen, dachte sie gerade, als Pam ihre Gedanken unterbrach.

»Wo wohnte sie denn?«

Alice nannte ihr Laurens Adresse. »Ihr Mann wohnt jetzt dort alleine mit seinem Sohn.«

Pam kniff die Augen zusammen. »Sagten Sie, sie wohnen im zweiten Stock Apartment 2 B? Drei Schlafzimmer, viele Extras, tolle Küche und Terrasse zum Garten?«

»Woher wissen Sie das?«

»Wir haben die Wohnung gerade hereinbekommen. Sie kann ab ersten Oktober bezogen werden. Wahrscheinlich hat er den Kampf aufgegeben.«

Alice war schockiert. Tim zog um? Wohin sollten er und Austin denn gehen? Würden sie in der Gegend wohnen bleiben? Warum hatte er ihnen nichts von seinen Plänen erzählt?

»Na ja, Sie werden keine Probleme haben, die Wohnung zu vermieten«, murmelte Alice. »Sie ist mietpreisgebunden.«

»Ach was! Die Wohnung gehört zu den teuersten auf dem Markt. Wenn ich mich recht entsinne, verlangen sie 3200 Dollar dafür.«

»Aber Lauren und Tim haben nur elfhundert bezahlt«, erwiderte Alice. »Ich weiß genau, dass sie mietpreisgebunden ist. So viel teurer kann sie doch dann nicht werden, oder?«

»Nur, wenn die Miete sich den zweitausend nähert oder umfangreiche Renovierungsarbeiten stattgefunden haben.« Pam schüttelte den Kopf. »Ich hasse es, wenn die Vermieter uns anlügen. Für was halten sie uns, für Idioten?«

»Aber Sie müssen doch nicht von sich aus wissen, ob eine Wohnung mietpreisgebunden ist oder nicht, oder?«

»Doch, wenn sie registriert ist, dann muss ich es wissen. Scheiße. Entschuldigung – zu Hause darf ich nicht fluchen. Ray kann das nicht leiden.« Pam trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Aber das soll im Moment nicht unsere Sorge sein, oder? Ich sehe nach, wenn ich wieder im Büro bin. Sind Sie bereit weiterzumachen?«

Auf dem Weg zum nächsten Haus überlegte Alice, wie viel mehr ihre Wohnung wert war, wenn schon Laurens Wohnung so teuer sein konnte. Da ihre Wohnung sich in einem Zweifamilienhaus befand, unterlag sie keiner Mietkontrolle. Anscheinend bezahlten sie nur ein Drittel des Marktwertes, und anscheinend wollte Julius Pollack die Wohnung gar nicht für sich selbst, sondern um sein Einkommen aufzubessern. Ganz klar, das war doch immer der Grund. Sie waren ihm völlig egal, ihm ging es nur um Geld.

Das nächste Haus war besser als das erste, aber trotzdem ziemlich deprimierend. Niedergeschlagen trottete sie neben Pam her, die ihr aufmunternd versicherte: »Es ist ein ständiges Auf und Ab. Das nächste Haus ist viel besser, das verspreche ich Ihnen. Geben Sie Ihren prachtvollen Schuhen ein Küsschen von mir. Bis später dann!«

»Ja, mache ich«, erwiderte Alice. Es war bereits nach elf, eigentlich zu spät, um Blue Shoes noch aufzumachen. Aber Alice hatte sowieso noch etwas anderes vor. Sie wollte bei Tims Wohnung vorbeigehen, um herauszufinden, was los war.