KAPITEL 41
Wie spät ist es?« Pam blickte an sich herunter. Selbst unter der weißen Bettdecke war zu erkennen, dass sie mindestens zwanzig Pfund abgenommen hatte. »Wo bin ich?«
»Du meinst, welcher Tag heute ist?«, korrigierte sie Ray.
»Nein, Raymond«, warf Esther ein, »sie meint, welche Woche wir haben.«
»Na, wie ich sehe, kommt ihr immer noch prächtig miteinander aus.« Pam zwinkerte Alice zu, die gerade hinter Frannie und Giometti ins Krankenzimmer getreten war. Sie hatte sie überredet, sie mitzunehmen, weil sie hoffte, dass Pam sich bei ihrem Anblick an die Zeit vor dem Überfall erinnerte.
»Na, ich muss ja länger weg gewesen sein«, sagte Pam und legte die Hand auf Alices Bauch. »Hassen Sie es eigentlich, wenn die Leute das machen? Sie sehen so aus, als ob Sie zugelegt hätten. Hatten wir zwei nicht eine Verabredung?«
»Wir haben uns das Haus angesehen«, erwiderte Alice. Sie wusste nicht so recht, wo sie beginnen sollte. Das Haus interessierte sie im Augenblick eigentlich am wenigsten.
»Seltsam«, sagte Pam erschöpft, obwohl ihrer Stimme die Lebensfreude bereits wieder anzumerken war. »Mom behauptet, ich hätte lange geschlafen, aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich nicht besonders ausgeruht.« Sie sank in die Kissen zurück.
»Hört mal, Leute, ich muss euch was sagen. Alice, Ihnen wird es nicht gefallen. Setzen Sie sich.«
Ray schob Alice sofort einen Stuhl ans Bett und drückte sie sanft darauf.
»Für euch zwei Bullen könnte es auch interessant sein«, fuhr Pam augenzwinkernd fort.
Frannie lächelte. Alice fiel auf, dass Frannies Ponyfransen in den letzten zwei Wochen lang geworden waren und ihr fast in die Augen fielen. Sie musste dringend zum Friseur, und außerdem brauchte sie vermutlich Schlaf und etwas Ordentliches zu essen. Wenn sie alles überstanden hatten, dachte Alice, dann würde sie Frannie zum Abendessen in ihr neues Haus einladen, um zu versuchen, sie als Freundin zu gewinnen.
»Legen Sie los«, ermunterte Frannie Pam. Giometti zückte bereits Füller und Notizblock.
»Es könnte sie zu sehr anstrengen, wenn sie zu viel redet«, wandte Esther ein. »Wir dürfen nicht vergessen, was sie durchgemacht hat.«
»Wenn sie müde wird, hören wir sofort auf«, erwiderte Frannie. »Aber es könnte wirklich wichtig sein.«
»Hast du gehört, Mom? Es ist wichtig. Also lass mich reden.« Pam räusperte sich und wollte gerade beginnen, als Ray sie unterbrach.
»Soll ich fotografieren?«, fragte er, »um das Gespräch zu dokumentieren? Ich habe meine Kamera dabei.«
»Funktioniert sie denn auch?«, fragte Pam.
»Liebling, ich habe dich mit jedem Besucher, jedem Arzt und jeder Krankenschwester fotografiert. Ich habe schon ein ganzes Album voll!«
»Hoffentlich nicht das blöde rotschwarze, oder?«
»Nein. Ich habe extra ein neues gekauft, das wird dir gefallen.«
Pam und Ray tauschten einen innigen Blick.
»Ist schon okay«, warf Giometti ein und zeigte auf seinen Notizblock. »Das hier reicht.«
Achselzuckend lehnte Ray sich an die Wand am Kopfende von Pams Bett und legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie sagte:
»Unsere süße kleine Sylvie ist kein Engel.«
Sie berichtete, was am Morgen ihres angeblichen Selbstmordversuchs geschehen war.
»Ich habe versucht herauszufinden, wer der Partner Ihres Vermieters ist«, sagte sie zu Alice. »Zuerst fragte ich im Büro herum, aber niemand wusste etwas. Judy war an dem Tag nicht da, und da sie die Chefin ist, reichen ihre Akten natürlich am weitesten zurück, deshalb dachte ich, ich schaue mal bei ihr im Computer nach. Ich stocherte also so herum und geriet zufällig in das Netzwerk, das mit ihrem Computer zu Hause verbunden ist.«
»Zufällig absichtlich, oder?«, warf Esther ein. »So wie ich es dir beigebracht habe.«
Pam grinste. »Judy arbeitet viel zu Hause.«
»Arbeitet.« Ray verdrehte die Augen. »Trinkt würde es wohl eher treffen. Pam leitet dieses Büro seit Jahren.«
»Na ja«, fuhr Pam fort, »ich schaute mich also ein bisschen um und entdeckte ein paar interessante Dinge. Auf Judys Dateien zu Hause gab es eine ganze Menge über Metro, das sage ich euch, eine ganze Menge. Es stellte sich heraus, dass sie nicht nur Geschäfte mit den Typen macht, sondern auch eine starke persönliche Beziehung zu der Firma hat.«
Natürlich war ihnen mittlerweile allen klar, dass Judy Sal Cattaneos Geliebte war, aber sie ließen Pam weitererzählen, um ihr nicht die Überraschung zu verderben.
»Der Partner ist niemand anderer als Sal Cattaneo«, fuhr Pam fort, »und meine altjüngferliche Chefin Judy scheint auch nicht gerade ein Engel zu sein.« Pam schwieg, um die dramatische Wirkung ihrer Worte zu erhöhen.
»Ich fand heraus, dass Judy und Sal ein Paar sind, und zwar schon seit vielen, vielen Jahren.«
Letzteres war Alice dann doch neu, aber Frannie wirkte nicht besonders überrascht, als sie sich erkundigte: »Wie lange denn schon?«
»Seit mindestens dreißig Jahren, seit Sal verheiratet ist. Es hat sogar schon angefangen, bevor er heiratete. Judy hat alles aufgeschrieben und im Computer gespeichert. Es liest sich wie ein herzzerreißender Liebesroman. Ich konnte gar nicht aufhören.«
»Warum auch?«, warf Esther ein. »Sie hat es doch extra da hineingeschrieben, damit es jeder lesen kann.«
»Das befand sich in einer ihrer persönlichen Dateien auf ihrem Computer zu Hause, Esther.« Ray presste die Lippen zusammen, offensichtlich war er mit den Ermittlungsmethoden seiner Frau und seiner Schwiegermutter nicht einverstanden.
»Jedenfalls war Sal verlobt mit seiner Sandkastenliebe, Angie, ließ sich aber mit Judy ein, als sie in die Nachbarschaft zog. Zu dieser Zeit waren Leute, die von woanders hierher zogen, noch richtige Außenseiter.«
»Heute immer noch«, warf Alice ein.
»O nein, meine Liebe, damals war es viel, viel schlimmer. Judy Gersten war eine unabhängige Frau. Sie war Jüdin, und sie kam aus Michigan. Sie war eine Ausländerin!«
»Beeil dich«, drängte Esther. »Komm endlich zum interessanten Teil.«
»Kennst du die Geschichte schon?«, fragte Ray.
»Nein, ich höre sie zum ersten Mal, genau wie du.«
»Woher weißt du denn dann, dass es noch einen interessanten Teil gibt?«
»Weil ich weiß, wie man eine Geschichte richtig aufbaut. Und meine Pammie weiß das auch.«
»Wollt ihr zwei mich jetzt endlich weiterreden lassen?« Pam blickte ihren Mann und ihre Mutter liebevoll an.
»Ja, mach weiter«, erwiderte Esther.
»Sal ist also mit Angie verlobt, und dann kommt Judy Gersten daher, die auf der Court Street eine Immobilienagentur eröffnet. Eine Außenseiterin. Mittlerweile hat Sal angefangen, Immobilien in der Nachbarschaft zu kaufen. Er mag Judy, deshalb gibt er ihr ein paar Geschäfte ab. Dann gibt er alle Geschäfte an sie ab. Als er sich mit Julius Pollack zusammentut und sie gemeinsam Mietshäuser kaufen, bekommt Judy einen großen Anteil an ihren Geschäften. Und die drei werden gemeinsam reich. Und Judy und Sal? Sie lieben sich.«
»Aber der Typ heiratet Angie trotzdem, oder?«, fragte Ray.
»Darauf kannst du wetten«, erwiderte Judy mit Nachdruck.
»Angie erklärt ihm, sie sei schwanger.«
»Aber ich dachte, Sal und seine Frau hätten keine Kinder?«, sagte Alice.
»Haben sie auch nicht.«
»Dann hat sie eine Fehlgeburt erlitten«, vermutete Esther.
»Nein«, sagte Pam.
»Sag es uns doch einfach«, drängte Ray. »Was ist denn passiert?«
»Angie hat zwar behauptet, sie sei schwanger, war es aber gar nicht.«
»Wieso denn das?«, fragte Ray.
Pam kostete den Moment aus und blickte triumphierend von einem zum anderen. »In Wahrheit war Judy schwanger.«
Schweigend verdauten alle diese Information. Alice fiel auf, dass nur Frannie ungerührt wirkte. Sie hatte Judy Gersten auf dem Revier vernommen, und vermutlich hatte sie ihr die Wahrheit entlockt.
»Es war neunzehnhundertdreiundsiebzig«, fuhr Pam fort.
»Abtreibung war gerade legalisiert worden. Aber Judy liebte Sal…«
»Judy Gersten bekam das Baby? Und Sal heiratete Angie trotzdem?«, sprudelte Alice hervor.
»Weil er glaubte, Angie sei schwanger, und sie war ihm als Frau nun mal bestimmt. Damals war es eben so. Noch bevor er überhaupt die Chance hatte herauszufinden, dass Angie gar nicht schwanger war, stand er schon vor dem Traualtar… sagen wir mal, Angies Vater ließ ihm keine andere Wahl.«
»Warte mal«, warf Ray ein. »Ist ihr Vater nicht Anthony Scoletto?«
»Genau.« Pam holte tief Luft. »Der Familie Scoletto schlägt man besser nichts ab. Und Sal liebte Angie wahrscheinlich auch. Sie kannten einander seit ihrer Kindheit, also heirateten sie. Aber sie hat nie Kinder bekommen. Judy aber bekam ihr Kind.«
»Und wo ist es?«, fragte Ray. »Es müsste ja mittlerweile erwachsen sein.«
»Dreißig«, sagte Alice. Ihre einfache Frage an Pam – wer Julius Pollacks Partner war – hatte dazu geführt, dass jemand Pam umbringen und es als Selbstmord hinstellen wollte. »Hat Judy das Kind aufgezogen?«
»Sie hat im letzten Augenblick einen Rückzieher gemacht. Damals gab es nur sehr wenige allein erziehende Mütter. Es gab noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür. Man nannte die Babys, die in außerehelichen Beziehungen gezeugt wurden, immer noch Bastarde.«
Alice schlug die Hände vors Gesicht.
»Sie gab es zur Adoption frei. Es war ein kleines Mädchen, das von einer französischen Familie adoptiert wurde – der Vater war Diplomat. Sie kehrten nach Frankreich zurück, als Judys Tochter noch ein Säugling war.«
Über Frannies Gesicht lief ein leichtes Zucken. Diesen Teil hatte Judy offensichtlich nicht zugegeben. Warum hatte sie gerade das verbergen wollen?
»Judy versuchte, das Baby zu finden, es gelang ihr aber nicht«, fuhr Pam fort. »Das tat ihr weh, und ich glaube, in dieser Zeit fing sie an zu trinken. Sie ist im Übrigen immer noch mit Sal zusammen, und sie machen auch noch gemeinsame Geschäfte – aber er ist auch immer noch mit Angie verheiratet.«
»Das muss man sich mal vorstellen!« Esther schüttelte den Kopf.
»Lassen Sie mich raten.« Alice blickte Pam an. »Judy hat ihre Tochter nie gefunden. Aber ihre Tochter fand sie.«
»Bingo«, erwiderte Pam.
Pams größter Fehler war nicht gewesen, dass sie die geheime Geschichte von Judy Gersten und Sal Cattaneo entdeckt hatte, sondern dass sie das am Ende des Arbeitstages Sylvie gegenüber erwähnte. »Das war vielleicht ein Tag«, hatte sie zu Sylvie gesagt, als sie am Abend vor dem Überfall das Büro zusammen abschlossen. »Bitte, erzähl mir nicht auch noch, dass du adoptiert bist.« Sylvie hat sie so fassungslos angeschaut, dass Pam das Thema nicht weiterverfolgte, und natürlich erzählte sie der Aushilfe auch nicht, was sie über ihre Chefin herausgefunden hatte.
Am nächsten Morgen erschien Sylvie unangekündigt bei Pam zu Hause, kurz vor ihrem Termin mit Alice am Third Place.
»Judy hat mir gesagt, ich solle mitkommen«, erklärte sie mit ihrem süßen Lächeln.
Sie trank noch einen Kaffee mit Pam. Pam hatte eigentlich vorgehabt, zu Fuß zum Third Place zu gehen, aber Sylvie gab vor, sich beim Sport am Fuß verletzt zu haben, deshalb beschlossen sie, mit dem Auto zu fahren. Gemeinsam gingen sie in die Garage und setzten sich ins Auto.
»Und auf einmal schaute Sylvie mich mit einem Furcht erregenden Gesichtsausdruck an und drückte mir den Lauf einer Pistole an den Hals«, sagte Pam.
Das war das Letzte, an das sie sich erinnerte.
Danach blieben sie nicht mehr lange im Krankenhaus. Pam war völlig erschöpft, und die Ermittler hatten alles, was sie brauchten. Alice küsste Pam zum Abschied auf die Stirn und versprach ihr, sie bald wieder zu besuchen. Sie roch nach Krankenhaus, und Alice fehlte der Duft nach Babypuder.
»Wenn Sie das nächste Mal kommen, fotografiere ich Sie für das Album«, sagte Ray.
»Okay.« Alice schüttelte ihm die Hand und umarmte Esther.
»Passen Sie gut auf sie auf.«
»Auf jeden Fall.« Esther lächelte und enthüllte dabei gelbliche, schiefe Zähne, die so aussahen, als seien es alle noch ihre eigenen. »Abgesehen von Ray ist sie alles, was ich habe.«
Frannie und Giometti bestanden darauf, Alice an Simons Haus abzusetzen. »Gehen Sie nirgendwohin«, sagte Frannie, als Alice ausstieg.
Alice zögerte. »Ist das ein Befehl?« Sie lächelte, als ob sie einen Witz machte, aber alle wussten, dass das nicht der Fall war.
»Eigentlich nicht.« Frannie beugte sich aus dem Fenster. Man sah ihr an, wie erschöpft sie war. »Aber es könnte sein, dass wir Sie brauchen, Alice. Die Spurensicherung hat die Fingerabdrücke am Tatort analysiert. Wir haben nur die von Sylvie gefunden, abgesehen von einem Dutzend Fahrern von Mr. Frosty, die wir alle einzeln verhört haben.«
»Und von Julius Pollack oder Sal Cattaneo haben Sie nichts gefunden?«
»Nein. Auch nicht von Judy Gersten, falls Sie sich das gefragt haben sollten.«
»Dann hat Sylvie die Tat also allein begangen?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf, aber obwohl sie es nicht aussprach, hörte Alice sie förmlich sagen: Keine Vermutungen.