KAPITEL 21

Sind Sie sicher, Alice?« Frannies Stimme klang blechern, die Handy-Verbindung war nicht besonders gut.

»Frannie? Sind Sie noch dran?«

»Wer ist Frannie, Mommy?« Nell war in die Küche gekommen und suchte etwas im Kühlschrank.

Alice winkte ab und flüsterte: »Ich bin am Telefon. Was brauchst du denn?«

»Apfelsaft, bitte.«

Sie goss Nell einen Becher Apfelsaft ein und zog sich ins Badezimmer zurück, um ungestört telefonieren zu können; die Kinder sollten nicht hören, dass sie verfolgt wurde.

Alice setzte sich auf die Toilette und lauschte dem Verkehrsrauschen am anderen Ende der Leitung. Wo war sie? Schließlich ertönte ihre Stimme wieder.

»Hallo?«

»Ich bin noch dran, Frannie. Wo sind Sie? Im Auto?«

»Paul sitzt am Steuer. Wir fahren gerade in einen Tunnel. Wenn die Verbindung wieder abbricht, rufe ich Sie zurück.«

Wenn sie gerade in einen Tunnel fuhren, dann waren sie wahrscheinlich auf dem Weg nach New Jersey. Was wollten sie da?

»Alice«, sagte Frannie, »sagen Sie mir genau, was Sie gesehen haben.«

»Zuerst habe ich den Mann vor einer Woche bemerkt, an der Carroll Street Bridge. Dann hab ich ihn wieder auf der Clinton Street gesehen. Und ich glaube mittlerweile, dass er derselbe Mann war, den ich auch vor dem Parkplatz, auf dem unser Auto steht, gesehen habe. So, wie er heute weggerannt ist, bin ich mir ganz sicher, dass er mich verfolgt hat. Er ist unheimlich, Frannie. Er riecht nach schmutziger Wäsche.«

»So nahe ist er Ihnen gekommen?«

»Heute Morgen, zum ersten Mal«, sagte Alice. »Ich dachte, ich kriege einen Herzinfarkt, als ich mich umdrehte und er hinter mir stand.«

»Beschreiben Sie ihn.«

Alice beschrieb ihn, so gut sie konnte. Dichte, stahlgraue Haare. Ein blaues und ein grünes Auge. Groß und massig, roch nach Tabak, schlecht gekleidet.

»Also«, sagte Frannie, »wir können ja mal sehen, ob wir ihn in unserer Kartei finden. Es gibt nicht allzu viele Leute mit zwei verschiedenen Augenfarben. Wir schauen jetzt erst mal, wer er ist.«

»Danke.«

»Versuchen Sie, möglichst nicht allein aus dem Haus zu gehen, und meiden Sie unbelebte Straßen. Okay? Wenn er tatsächlich ein Spanner ist, kriegen wir ihn schon.«

»Frannie?«, sagte Alice. »Und wenn er nun die andere Hälfte von Metro Properties ist? Wenn er Lauren umgebracht hat und jetzt hinter mir her ist?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Alice, in dem, was Sie gerade gesagt haben, stecken so viele Vermutungen und Annahmen, dass ich nicht einmal wüsste, wo ich überhaupt anfangen soll.«

»Ja, verstehe. Aber wenn…?«

»Glauben Sie, dass Sie in Gefahr sind?«

»Ich weiß nicht. Er versucht nie, mit mir zu reden.«

»Ich sage Ihnen, was wir tun werden.« Die Leitung wurde wieder schlechter, und Frannie redete schneller.

»Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, rufen Sie uns sofort an.

Sie erzählen uns alles. Alles. Den Rest erledigen wir.« Dann verschwand ihre Stimme erneut im Tunnel.

Am nächsten Morgen brachte Mike die Kinder zur Schule und kam dann wieder nach Hause, um Alice zu ihrer Verabredung um zehn Uhr mit Pam zu bringen. Sie fand ihn am Küchentisch, in sauberer, aber zerrissener Arbeitskleidung, wie er ausdruckslos auf die Tageszeitung starrte.

»Mike?« Er zuckte zusammen. »Alles okay?«

»Ja, klar.« Er schob die Zeitung weg und erhob sich. »Bist du fertig?«

»Du hast die Zeitung gar nicht gelesen, oder?«

»Ich kann mich nicht konzentrieren«, erwiderte Mike. »Ich habe nicht viel geschlafen letzte Nacht.«

»Das sieht dir gar nicht ähnlich.« Sie schlossen die Wohnungstür ab und gingen gemeinsam durch die dämmerige Eingangshalle. »Wir können doch jetzt nicht beide nachts wach liegen. Das wird nie was.«

Er lächelte ein wenig, lachte jedoch nicht. Als er die Haustür hinter ihnen abschloss, steckte Alice das verblasste Schildchen seines waldgrünen T-Shirts zurück in den Ausschnitt. Sie wollte gerade die Treppe hintergehen, als er ihr Handgelenk ergriff.

»Von jetzt an lässt du dich von Pam abholen, wenn ich nicht mitkommen kann, um Häuser zu besichtigen, okay?«

»Ja«, erwiderte Alice. Es lag ein kühler Hauch in der Luft, ein erstes Anzeichen dafür, dass der Herbst nahte.

»Und Maggie oder Jason kommen dich zur Arbeit abholen.«

»Mike, ich brauche keinen Babysitter! Frannie hat nur gesagt, ich soll auf belebten Straßen bleiben, und das tue ich auch.«

»Ich begreife das nicht!« Er ging ein bisschen zu schnell für Alice, die Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. »Warum darf ich mir keine Sorgen machen? Das ist doch nicht nur dein Privileg!«

»Mike, geh langsamer.«

Er hatte immer schon mit Schnelligkeit auf alles reagiert, was ihm Angst einjagte, und sie wünschte tatsächlich, er würde das Sorgenmachen ihr überlassen – sie konnte das wesentlich besser.

Er lief noch schneller.

»Mike, ich habe dir doch nur erzählt, was ich gesehen und gehört habe. Die Fakten. Du bist doch derjenige, der mir ständig predigt, ich solle nichts schönreden.« Sie wünschte, sie hätte ihn nicht an jeder Nuance und jedem Detail ihrer Gedanken und Ängste teilhaben lassen, sondern lieber ihrem Instinkt vertraut und nichts gesagt.

Sie hakte sich bei ihm ein, damit er nicht so rannte.

»Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der auch ohne Schlaf genug Energie hat.«

Nach und nach wurde er ruhiger, und sie schlenderten eingehakt die Court Street entlang. Die Gegend hier erinnerte mehr an das alte Carroll Gardens als das prächtigere, edlere Viertel näher an der Atlantic Avenue. Hier gab es noch unauffällige Ladenfronten, ganz normale Friseurläden, unabhängige Videoläden und Imbissbuden, in denen man für fünf Dollar einen Hamburger bekam.

»Es ist nett hier«, stellte Alice fest. »So ruhig.«

Mike summte zustimmend; die Gegend hatte auch auf ihn eine positive Wirkung.

Sie waren zu früh an dem Haus am Third Place. Es war ein hübscher, ruhiger Häuserblock mit einfachen Brownstones und prachtvollen Vorgärten, die Carroll Gardens die zweite Hälfte seines Namens beschert hatten. Die Adresse, die Pam aufgeschrieben hatte, war ein Eckhaus mit großem Garten. Riesige Büsche mit alten roten Rosen wuchsen am Zaun.

»Riech mal«, sagte Mike und schnupperte an den Blüten.

Der Duft war betörend. »Hier kann man sich richtig auf den Frühling freuen«, sagte Alice und stellte sich vor, wie sie im Haus hinter einem der glänzenden Fenster stand.

Sie standen vor dem dreistöckigen Haus und diskutierten das wenige, das sie von außen erkennen konnten. Es war offensichtlich erst kürzlich renoviert worden. Die Fenster sahen neu aus, mit blaugrau gestrichenen Holzrahmen. Die Fassade des Hauses war schokoladenbraun. Die Vordertreppe war breit und solide mit einem verschlungenen, schwarz gestrichenen Eisengeländer, das sich zu einem Vordach über der Haustür aus glänzender Eiche wölbte. Das ganze, gut gepflegte Haus strahlte Frieden aus.

»Von allen Häusern, die ich bisher gesehen habe, gefällt es mir am besten«, sagte Alice.

»Von außen sieht es gut aus.« Mike grinste sie spitzbübisch an. »Aber das bedeutet, dass es von innen eine Ruine sein muss, oder? Poetische Gerechtigkeit sozusagen.«

»Ich hoffe nicht.«

»Wir sollten es vermutlich so oder so nehmen«, sagte er.

»Ganz gleich, wie es aussieht. Nur endlich umziehen!«

»Du klingst wie Maggie.«

Seine Augen glitzerten, und sie wusste, was jetzt kam. Mike konnte unglaublich gut Stimmen und Situationen nachmachen.

»In der Tat, es war ein annus horribilis, in der Tat.« Er legte Alice eine Hand auf den Hintern und zog sie an sich. Lachend umarmten sie sich.

Eine halbe Stunde später war Pam immer noch nicht da. Alice versuchte, sie telefonisch zu erreichen, aber sowohl im Büro als auch zu Hause sprang nur der Anrufbeantworter an. Sie hinterließ an beiden Orten Nachrichten. Dann ging sie entschlossen die Treppe hinauf und läutete an der Haustür. Sie konnte das leise Echo der Glocke im Inneren des Hauses hören, aber niemand öffnete ihnen.

Als Alice am Nachmittag mit den Kindern zu Hause war, griff sie sofort zum Telefon und rief in Pams Büro an. Sie hatte es schon den ganzen Tag vom Blue Shoes aus probiert, hatte aber nie jemanden erreicht. Auch jetzt erwartete sie halb, dass wieder der Anrufbeantworter anspringen würde, stattdessen meldete sich jemand. »Garden Hill Realty. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte gerne Pam Short sprechen.«

»Einen Moment, bitte.«

Eine andere Frauenstimme, tiefer und ein wenig heiser, kam an den Apparat: »Judy Gersten.«

Alice erinnerte sich an den Namen aus dem Schaufenster des Ladens: Maklerlizenz: Judith Gersten.

»Ich vertrete Pam heute. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Alice Halpern. Pam hat mir Häuser gezeigt. Wir hatten heute Morgen um zehn einen Besichtigungstermin, und sie ist nicht gekommen. Ich war überrascht…«

»Ja, Alice. Pam erwähnte, dass sie Ihnen das Haus am Third Place zeigen wollte. Ich konnte Ihre Telefonnummer nicht finden. Ich wollte Sie eigentlich schon den ganzen Tag über anrufen.«

»Ist Pam krank?«

Judy schwieg. Dann sagte sie: »Sie hatte einen Unfall.«

»Geht es ihr gut?«

Wieder eine Pause, dieses Mal ein bisschen länger, und in diesem Moment wusste Alice, dass etwas Schreckliches passiert war.