KAPITEL 3

Am anderen Ende der Leitung hörte Alice Autos hupen, Schritte und Stimmengewirr.

»Ich bin am Flughafen«, sagte Tim. »Hast du was von ihr gehört?«

»Nein«, erwiderte Alice. »Auf welchem Flughafen bist du? New York oder Chicago?«

»Am LaGuardia.« Er klang ein wenig atemlos, weil er offenbar rasche Schritte machte, während er in sein Handy sprach. »In zwanzig Minuten bin ich in Brooklyn. Ist Austin bei dir?«

»Ja, mach dir keine Sorgen. Tim, Maggie hat alle Krankenhäuser angerufen.«

»Meine Sekretärin auch.«

»Und?«

»Lauren ist nirgendwo eingeliefert worden«, sagte er.

»War schon jemand in der Wohnung?«

»Maggie ist gerade auf dem Weg dorthin. Sie müsste sich eigentlich jeden Moment melden.«

»Okay. Alice, ich steige jetzt ins Taxi. Bis gleich.«

Er beendete das Gespräch, bevor sie ihn fragen konnte, ob er direkt zu ihr kam oder erst noch zu Hause vorbeifuhr. Es war alles so seltsam. Was tat ein Mann, wenn seine Frau verschwand? Wohin sollte er dann gehen?

Ein paar Minuten später traf Maggie ein und sprudelte hervor, noch bevor sie durch die Haustür getreten war: »Sie ist weder irgendwo im Krankenhaus, noch hat sie ihren Arzt angerufen. Vom Pilates-Kurs hat noch keiner zurückgerufen. In der Wohnung ist niemand.«

Alice schloss die Haustür und folgte Maggie durch die Eingangshalle in die Wohnung. Sie gingen direkt durch in die Küche, damit sie ein Auge auf die Kinder haben konnten. Die beiden Jungen schoben ihre schwer beladenen Spielzeugkipper durch den Sand, während Nell auf dem Rand des Sandkastens saß und Sand über das Lieblingsspielzeugauto ihres Bruders häufte. Aber er hatte es schon bemerkt und riss es an sich.

»Lauren ist so ordentlich«, sagte Maggie. »Sie hat schon alles ausgepackt, und dabei sind sie doch erst vor fünf Tagen aus dem Urlaub gekommen.«

Alice lehnte sich gegen die Theke. Normalerweise hätte sie jetzt eine spöttische Bemerkung darüber gemacht, wie lange Maggie immer für das Auspacken brauchte, wenn sie von einer Reise zurückkam, aber heute schwieg sie.

»Was jetzt?«, fragte sie stattdessen.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Maggie. »Hast du Tim erreicht? Was hat er gesagt?«

»Er weiß auch nichts. Aber zumindest ist er wieder da. Er ist gerade am LaGuardia ins Taxi gestiegen.«

Sie trugen die Tabletts mit den Grillzutaten in den Garten und stellten gerade den Grill auf, als Mike nach Hause kam. In einer Wolke von Sägemehl, die ihn nach jedem Arbeitstag zu umgeben schien, kam er die Treppe zur Terrasse herunter. Seine zerrissenen Jeans und das schmutzige T-Shirt wirkten wie eine neue Moderichtung. Alice witzelte manchmal, dass er mehr Geld verdienen könnte, wenn er seine Klamotten an die Modeindustrie verkaufte, als wenn er weiterhin Möbel für reiche Ästheten entwarf und baute. Allerdings lag ihnen beiden nicht wirklich etwas an Geld. Als sie sich damals mit achtzehn auf dem College kennen und lieben gelernt hatten, hatten sie einander geschworen, ihre idealistischen Träume niemals aufzugeben. Wenn wir in zwanzig Jahren noch zusammen sind, dann hören wir mit dem auf, was wir gerade tun, und fangen noch einmal ganz von vorne an, hatten sie sich eines Nachts gelobt. Der Alltag als Erwachsene hatte sie diese löbliche Absicht allerdings bald vergessen lassen. Neunzehn Jahre später war Mike Creative Director einer großen Werbeagentur in Manhattan, arbeitete jeden Tag bis tief in die Nacht, verdiente viel Geld und sah seine Kinder kaum. Peter war noch ein Baby, als Alice sich bereits darauf vorbereitete, in ihren Job als Cutterin zurückzukehren, und da fiel ihr das Versprechen wieder ein. Innerhalb eines Monats beschloss sie, auszusteigen und zu Hause bei den Kindern zu bleiben. Später konnte sie immer noch etwas anderes aufbauen, dachte sie sich. Bei Mike dauerte es etwas länger, bis der Funken zündete, aber dann stand auch er ganz und gar dahinter. Drei Jahre, so kalkulierten sie, konnten sie es sich leisten, ihre hoch dotierten Jobs gegen ein glückliches, intaktes Familienleben einzutauschen und sich neue berufliche Laufbahnen aufzubauen. Und so entstand zuerst Blue Shoes und kurz darauf The Brooklyn Furniture Company, die Mike mit einer Teilzeitkraft in einem ehemaligen Lagerhaus in Red Hook einrichtete. Mittlerweile hatte er bemerkenswerten Erfolg damit.

»Daddy ist da!« Nell und Peter rannten auf Mike zu.

Er zwinkerte Alice zu, als er an ihr vorbeilief, um hinter den Kindern herzujagen. Schließlich hatte er sie alle vier eingefangen und kitzelte sie, bis sie lachend auf dem Rasen zusammenbrachen. Dann erst trat er zu Alice und Maggie an den Grill.

Er nahm Alice in den Arm, küsste sie und nahm ihr zugleich die Grillzange aus der Hand.

»Ich übernehmen Grill.« Er klopfte sich mit der Hand auf die Brust. »Ich Mann. Ich braten Fleisch.«

»Willst du nicht erst einmal duschen?«, fragte Alice ihn.

Rasch schnüffelte er an seinen Achselhöhlen, was ihm ein schockiertes Auflachen von Maggie eintrug.

»Oh, bitte, geh sofort unter die Dusche«, sagte Maggie.

»So schlimm ist es gar nicht.« Mike blickte Maggie mit gespieltem Ernst an. »Riech mal.« Er hob den Arm und trat auf sie zu.

»Nein!« Maggie wich zurück.

»Kommt Simon auch?«, fragte er sie.

»Also, ich habe ihn nicht eingeladen«, antwortete Maggie. An Alice gewandt fügte sie hinzu: »Du?«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, das ist deine Sache, Mags.« Alice vermisste Simon, wenn er bei ihren Treffen nicht dabei war, aber natürlich hatte nur Maggie das Recht, ihn einzuladen, was sie dieses Mal offensichtlich nicht getan hatte.

»Kein Simon?« Mike runzelte die Stirn. »Keine Dusche! Ohne Mann kein Fleisch!«

»Gib her!« Alice nahm ihm die Grillzange aus der Hand. »Geh schnell duschen, ja? Du kannst den Grill übernehmen, wenn du fertig bist.«

»Wo Tim?«

»Hör jetzt auf«, sagte Alice. »Es wird langsam blöd.«

Mike beugte sich vor und flüsterte Alice ins Ohr, damit ihn die Kinder nicht hören konnten: »Ernsthaft, hast du immer noch nichts von Lauren gehört?«

Er roch wie frisch geschlagenes Holz. »Nein«, erwiderte sie leise. »Tim ist auf dem Weg nach Brooklyn.«

Mike schwieg einen Moment lang und klimperte mit den Münzen in seiner Hosentasche. »Es wird schon alles in Ordnung sein, oder?«

»Ja, bestimmt.« Maggie schnitt ein weiches Hamburger-Brötchen auf.

»Und wo ist das Schreiben, das du heute bekommen hast?« Ein Schatten glitt über sein Gesicht, und Alice war klar, dass er sich ebenfalls Sorgen machte.

»Oben, in meiner Handtasche.«

Zwanzig Minuten später kam Mike die Treppe herunter. In einer sauberen Jeans und einem weißen T-Shirt sah er mindestens fünf Jahre jünger aus als neununddreißig. Mit einem kalten Bier in der Hand setzte er sich auf den Rand des Sandkastens und brachte die Kinder mit seinen Witzen und Fragen zum Kichern.

»Das kann er gut«, sagte Maggie.

»Ja.« Alice drehte einen brutzelnden Burger um. Sie wusste genau, was Maggie meinte. »Das ist einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt habe. Er macht mir immer wieder klar, dass ich mich nicht so ernst nehmen sollte.«

»Und sexy ist er auch.« Maggie zog die Augenbrauen hoch. Alice drehte sich um und betrachtete ihren Mann. Ja, wahrscheinlich war er sexy, aber daran hatte sie in der letzten Zeit wegen der Schwangerschaft und ihrer schwierigen Wohnsituation nicht allzu häufig gedacht.

Sie schwiegen einen Augenblick, und Alice spürte dankbar, wie die Hitze jetzt am frühen Abend langsam nachließ. »Wo ist sie?«, sagte sie schließlich. »Warum hat sie nicht angerufen? Und wann kommt Tim endlich?«

»Es ist bestimmt alles in Ordnung«, erwiderte Maggie. »Ich gebe ja zu, dass es seltsam ist, dass sie nicht angerufen hat. Aber sie ist jetzt fast im neunten Monat, und sie hat wahrscheinlich heute das Baby bekommen. Ich bin mir ganz sicher. Sie wird sich jetzt bestimmt gleich melden, meinst du nicht auch?«

»Ja, das glaube ich auch, Mags«, sagte Alice.

Sie legte die rot-weiße Wachstuchdecke auf den langen Picknicktisch, die sie vor Jahren einmal bei Manny’s Variety erstanden hatte, dem Laden, der durch Blue Shoes ersetzt worden war. Maggie zählte so viel Pappteller ab, dass es auch für Lauren und Tim reichen würde. Während sie den Tisch deckten, ging Mike mit den Kindern ins Haus, damit sie sich die Hände wuschen. Alice stellte das kleine Tablett mit Hot Dogs ab und wandte sich erneut zu Maggie.

»Was sollen wir denn Austin sagen?«

»Die Wahrheit«, erwiderte Maggie. »Wir sagen, dass Lauren jetzt sicher gleich anruft, weil sie heute wahrscheinlich das Baby bekommen hat. Und Daddy ist bei ihr.«

»Hmm.« Alice nickte. »Okay.«

Aber Austin fragte gar nicht. Er war von klein auf so daran gewöhnt, mit den anderen Familien zusammen zu sein, dass ein Nachmittag bei den Halperns ohne seine Eltern nichts Besonderes für ihn war.

Schließlich, kurz nach acht, klingelte Alices Handy. Sie sah sofort auf dem Display, dass der Anruf von Tim kam.

»Ich stehe vor der Tür. Ich habe an der Haustür geläutet, aber ihr habt mich wahrscheinlich nicht gehört.«

»Ich komme sofort.« Sie sprang auf.

»Soll ich gehen?« Mike erhob sich von der Bank, aber sie winkte ab.

»Ist schon okay«, sagte sie ruhig, obwohl sie sich keineswegs so fühlte. Mit klopfendem Herzen lief sie zur Haustür. Durch das halbmondförmige Fenster oben in der Tür sah sie Tims scharfes Profil.

Als sie aufmachte, trat Tim ein und sagte erst einmal gar nichts. Mittelgroß und schlank stand er da, in einem seiner schönen Büro-Anzüge. Seine dichten blonden Haare wellten sich leicht – normalerweise trug er sie kürzer. Als er sich schließlich Alice zuwandte, sah sie, dass sein Gesicht trotz der Urlaubsbräune aschfahl war.

Er blickte sie seufzend an, und zum ersten Mal seit Jahren fiel ihr auf, dass seine Augen ebenso grün wie die von Austin waren.

Ein helles, leuchtendes Grün.

»Sie haben mir gesagt, ich soll noch abwarten, ob sie heute Nacht nach Hause kommt.«

»Sie?«

»Die Polizei. Ich war gerade auf dem Revier.«

Alice wusste nicht, was sie sagen sollte. Was war mit Ivy? Sie verstand das alles nicht.

»Morgen gehe ich noch einmal hin«, fuhr er fort. »Gleich morgen früh. Es ist vielleicht besser, wenn Austin über Nacht hier bleibt.«

»Ja, klar«, erwiderte Alice. »Aber ich begreife nicht, was…«

»Es macht vielleicht alles nur noch schlimmer, wenn ich ihn mit nach Hause nehme, und sie ist nicht da.« Tim traten Tränen in die Augen. »Meinst du nicht auch, Alice? Sag ihm einfach, ich müsste heute länger arbeiten. Daran ist er gewöhnt.«

»Was soll ich ihm denn wegen Lauren sagen?«

Tim zuckte hilflos mit den Schultern, und Alice spürte einen Stich in ihrem Herzen. Sie trat auf Tim zu und nahm ihn in die Arme.

Tim weinte. Sie wusste es. Jetzt wusste sie es. Lauren kam nicht mehr nach Hause.