KAPITEL 18

Tim zögerte einen Augenblick lang, bevor er zu Alice sagte:

»Komm herein«, und ihr mit dem Summer die Haustür öffnete. Seine Stimme klang komisch, das erste schlechte Zeichen. Ein weiteres schlechtes Zeichen waren die Müllsäcke aus Plastik, die sich vor seiner Wohnungstür stapelten. Laurens Wohnungstür. Sortierte er etwa schon ihre Sachen aus?

Die Tür stand einen Spalt weit auf, also trat Alice einfach ein. Austin spielte im Wohnzimmer. Er hatte noch seinen Schlafanzug an. Sie beugte sich herunter, um ihn auf den Scheitel zu küssen.

»Wo ist Daddy?«

»In der Küche.« Er wandte den Blick nicht von seinem Spielzeug. Wie lange wollte Tim ihn wohl noch zu Hause behalten?

In der Küche stand Tim mitten in Bergen von Geräten, Geschirr, Töpfen und Pfannen. Der Starmix, den Alice Lauren vor kurzem geschenkt hatte, damit sie das Essen für das Baby pürieren konnte, stand noch unausgepackt auf der Theke. Tim wirkte entnervt und erschöpft.

»Was machst du da, Tim?«

»Das wollte ich dir und Mike morgen erzählen.« Tim griff in seine Hemdtasche und zog sein Päckchen Zigaretten heraus. Er nahm eine und wollte sie gerade anzünden.

»Tim, bitte nicht«, protestierte Alice. »Ich bin schwanger.« Sie war überrascht über ihr forsches Auftreten, aber sie hatten eine Grenze überschritten: Sie hatte Tim bei etwas erwischt. Von nun an würde sie ihn nicht mehr wie ein rohes Ei behandeln. Er legte die Zigarette auf die Theke und steckte das Päckchen wieder in seine Hemdtasche.

»Es tut mir Leid.« Er hob flehend die Hände. »Alice, es tut mir wirklich Leid. Ich will hier nicht weg. Ich will gar nichts. Aber ich kann nicht wieder zur Arbeit gehen, und ich kann nicht hier bleiben.«

»Wir helfen dir, Tim. Bitte, lass uns…«

»Du verstehst das nicht.« Er trat an die Spüle, drehte den Hahn auf, hielt seine Hände unter das kalte Wasser und trocknete sie an seinem Hemd ab. »Es hat nichts mit Geld zu tun. Was das Geld angeht, kann ich es mir leisten, zu Hause zu bleiben. Aber ich kann einfach nicht mehr hier sein. Verstehst du? Ich kann nicht mehr hier sein!«

Ja, Alice verstand. Ihr ging es nicht anders. Sie wäre auch am liebsten weggelaufen vor all den Erinnerungen an Lauren. Aber sie musste auch an ihre Familie denken. Und dasselbe galt für Tim.

»Was ist mit Austin?«

»Das wird schon gehen. Wir machen Urlaub und fangen irgendwo neu an.«

»Nimmst du ihn aus der Schule?«

»Alice, er ist im Kindergarten. Es wird schon gehen.«

Irritiert ergriff Tim seine unangezündete Zigarette, drehte sie zwischen den Fingern und legte sie wieder zurück auf die Theke. »Wenn wir zurückkommen, suche ich uns eine neue Wohnung und gehe wieder zur Arbeit. Aber es wird nichts mehr so sein, wie es vorher war.«

»Wohin fährst du?«

Tim zuckte mit den Schultern, und Alice sah ihm an, dass er diese Frage nicht beantworten konnte. Aber sie konnte sie doch nicht einfach so gehen lassen! Wie konnte Tim Austin von den Leuten wegreißen, die sein ganzes Leben lang seine Familie gewesen waren?

»Richtung Westen wahrscheinlich. Den Winter über. Im Frühjahr kommen wir zurück.«

Alice nickte langsam. »Wie können wir dich erreichen?«

»Ich rufe euch an, wenn ich eine Adresse habe, okay? Alice, ich werde keinen von euch je vergessen. Wir verlassen nicht euch, sondern wir… wir gehen einfach.«

»Und was ist mit den Ermittlungen? Weiß die Polizei Bescheid?«

»Ja, das habe ich mit ihnen geklärt. Sie brauchen mich nicht mehr. Alice«, fügte er mit solcher Bitterkeit hinzu, dass sie begriff, er glaubte, sie traue ihm nicht. Er nahm seine Zigarette und zündete sie an. »Hör zu. In zwei Tagen kommen die Möbelpacker. Das ganze Zeug hier wird eingelagert. Ich muss jetzt weiterpacken, sonst…« Er beendete den Satz nicht, aber Alice wusste sowieso, was er sagen wollte. Sonst drehe ich durch.

»Geh nicht, ohne dich zu verabschieden, Tim. Bitte!«

Er blickte sie aus seinen moosgrünen Augen an, legte seine Zigarette ab und trat zu ihr, um sie in die Arme zu nehmen. So nahe war der Geruch nach Rauch stechend.

»Natürlich sagen wir auf Wiedersehen.«

»Ich werde dich und Austin so sehr vermissen«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht ein letztes Mal in der Halsbeuge von Laurens Mann.

Auf dem Weg durchs Wohnzimmer blieb sie bei Austin stehen, der eine winzige Cowboy-Figur mit braunen Plastikkühen umringt hatte. Sie beugte sich zu ihm, um ihn auf seine weiche Wange zu küssen.

»Du riechst nach Zimt.« Wieder küsste sie ihn und flüsterte:

»Ich liebe dich.« Austin erstarrte, als sie mit ihren Fingern sanft über sein Gesicht fuhr, um sich jede Linie einzuprägen.

Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzublicken. Den ganzen Weg zum Blue Shoes ging sie zu Fuß. Auch wenn es schon spät war, sie würde den Laden aufmachen, dort sitzen, Kunden bedienen. Heute würde ihr alles schwer fallen, deshalb konnte sie genauso gut im Laden sein. Sie fühlte sich hilflos. In weniger als zwei Wochen hatte sich ein Drittel ihres Lebens – die Familie Barnet – in nichts aufgelöst, wie ein Stern, der einfach erloschen war.

Sie blieb vor einem Deli stehen, in dessen Schaufenster zahllose Zeitschriften lagen. Auf dem Bürgersteig stand ein Gestell mit Tageszeitungen. Lauren war eine kleine Meldung geworden, ein kleiner Kasten in der Ecke. Polizei sucht nach Muttermörder, noch keine Spur. Ungeborenes Baby immer noch vermisst. Der Mörder der jungen Frau immer noch auf freiem Fuß in Brooklyn. Morgen würde Lauren wahrscheinlich nicht einmal mehr auf der Titelseite erwähnt sein.

Alice ergriff die New York Times und schlug den Lokalteil auf. Zum ersten Mal seit Tagen hatte die Journalistin, die Laurens Fall verfolgt hatte, keine Meldung auf der ersten Seite. Alice versuchte sich an den Namen der Reporterin zu erinnern. Ach ja, Erin Brinkley.

Ob sie sie wohl anrufen sollte? Ob sie ihr verraten Ute, dass das Baby ein Mädchen war und Ivy hieß?

Aber dann dachte sie an Frannie und Giometti. Ivys Geschlecht wurde ja nicht ohne Grund geheim gehalten; die Ermittler wussten sicher, was sie taten. Entschlossen verdrängte Alice den Gedanken. Sie würde sich um das kümmern, was sie etwas anging: ihre Familie, die Suche nach einem neuen Zuhause und ihr Geschäft.

Nach drei Stunden im Blue Shoes dachte Alice immer noch pausenlos an Tim und Austin. Um zwei war Maggie gekommen, und sie hatten Tims Entscheidung, wegzugehen, pausenlos analysiert und darüber diskutiert, wie sie es am besten den Kindern beibringen sollten, dass Austin jetzt für eine Weile weg war.

»Es wird ihnen das Herz brechen«, sagte Maggie. »Für sie wird es sein wie ein weiterer Tod.«

»Mags, das siehst du zu extrem. Er kommt ja zurück.«

»Ich glaube, Tim geht für immer. Er hat vermutlich die Nase voll.«

»Hoffentlich irrst du dich«, sagte Alice.

»Ich weiß nur, dass ich es an seiner Stelle täte. Mir wäre hier alles viel zu schmerzlich.«

Möglicherweise hatte Maggie Recht. Je mehr Alice darüber nachdachte, umso mehr fragte sie sich, warum sie und Mike eigentlich hier in der Gegend blieben. Warum nutzten sie die Vertreibung durch Julius Pollack eigentlich nicht dazu, in eine ganz andere Stadt zu ziehen? In einen anderen Bundesstaat? Warum sollten sie unbedingt hier bleiben, dachte sie, als sie zur Schule fuhr, um Nell und Peter abzuholen. Sie konnten doch in den Süden ziehen wo es immer warm war, oder in den Norden, wo sie im Winter Ski laufen konnten und die Sommer nicht so heiß waren. Oder sogar ins Ausland, wo ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen konnten, weit weg von der krassen Kommerzialisierung der amerikanischen Kultur. Warum wollten sie überhaupt hier bleiben?

Weil, dachte Alice, als sie vor der Schule hielt, wir hier zu Hause sind. Weil wir hier leben. Von Anfang an hatte Alice sich in dieser Gegend zu Hause gefühlt. Außerdem wusste sie, seit ihre Mutter vor der Erinnerung an ihren Vater bis nach Kalifornien geflohen war, dass sie den Verlust von Lauren und Ivy doch nie vergessen würde. Er würde sie überallhin verfolgen. Und als die Kinder aus der Schule kamen, dachte Alice schon nicht mehr daran, aus Brooklyn wegzuziehen. Sie lebten hier, und hier würden sie bleiben. Nell und Peter plapperten über das, was sie heute erlebt hatten, während sie zu Maggies Wohnung gingen. Sylvie hatte sich bereit erklärt, eine Stunde lang auf sie und Ethan aufzupassen; sie freute sich immer, wenn sie sich etwas dazuverdienen konnte. Und Alice hatte beschlossen, dass die Hausbesichtigung ohne quakende Kinderstimmen stressfreier sein würde. Ihr schwirrte ohnehin schon der Kopf.

Das nächste Haus war ein breites Brownstone in der Clinton Street. Mit großen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und so sauber waren, dass sie das schimmernde Licht auf den Blättern der Weide vor dem Haus widerspiegelten. Es war ein großes, fünfstöckiges Haus mit einer hölzernen, mit Schnitzereien verzierten Flügeltür, die aussah, als sei sie kürzlich erst frisch lackiert worden. Es hatte sogar eine Garage innen – was bei Häusern in Brooklyn äußerst selten vorkam –, mit einer Einfahrt die ins Souterrain führte. Ein alter Rosenstrauch, der über und über mit gelben Rosen bedeckt war, wuchs an der Hauswand. Alice verliebte sich sofort in das Haus. Sie setzte sich auf die Vordertreppe, wartete auf Pam und stellte sich vor, wie sie hierhin nach Hause kam. Es fühlte sich richtig an, perfekt sogar, aber sie wusste zugleich, dass es mit Sicherheit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten lag. Und wenn der Preis zu hoch war, beschloss sie, würde sie gar nicht erst hineingehen.

Als sie Pam in ihrem Kaftan und den neuen Schuhen auf das Haus zukommen sah, stand Alice auf und ging ihr entgegen. Sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wange wie alte Freundinnen.

»Wie viel?«, fragte Alice.

»Wir schauen es uns zuerst an.«

»Wie viel?«

»Sie werden es lieben. Und mit den Zahlen kommen wir schon klar.«

»Ich wusste es.«

»Kommen Sie erst einmal hinein.«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, sagen Sie es mir.«

»Eins Komma neun.« Pam warf Alice einen eindringlichen Blick zu. »Aber man kann über alles reden. Lassen Sie uns hineingehen.«

Alice war klar, dass man über eins Komma neun nicht reden konnte, aber die Versuchung war zu groß, und sie spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz. Sie würde es sich nur einmal anschauen, beschloss sie.

»Sind die Eigentümer zu Hause?« Alice konnte den Gedanken nicht ertragen, sie kennen zu lernen, ganz gleich, wie sie sein mochten. Sie würden sofort wissen dass das Haus eine Nummer zu groß für sie war.

Pam klimperte mit dem Schlüsselbund. »Beide bei der Arbeit.«

Alice folgte Pam die Treppe hinauf. Die Eingangshalle war geräumig, mit einem weißen Marmorboden und einem funkelnden Kristalllüster. Das riesige Wohnzimmer war stilvoll und schlicht eingerichtet. Alles im Haus vermittelte Wohlstand.

»Was machen die Hausbesitzer?«, flüsterte Alice, als ob die Leute sie hören könnten.

»Wer weiß?« Pam zwinkerte. »Vielleicht krumme Geschäfte.« Sie absolvierten einen raschen Rundgang durch die Küche, die Restaurant-Qualitäten hatte, das Elternschlafzimmer mit seinem renovierten Badezimmer und einem Ankleidezimmer sowie die drei Schlafzimmer oben. In den prächtigen Garten zu gehen traute Alice sich nicht; sie blickte nur aus einem der oberen Fenster hinunter.

»Warum haben Sie mich hierher gebracht?«, fragte Alice Pam, als sie ins Parterre hinuntergingen.

Pam legte ihre Tasche auf den Esstisch. »Sie sollten sehen, was möglich ist.«

Die Frauen blickten einander an.

»Das Haus ist gar nicht zu verkaufen, oder?« Alice wurde es übel.

»Nein.«

»Ist es Ihr Haus?«

»Ganz genau. Wollen Sie wissen, wie viel ich dafür bezahlt habe?«

»Eins Komma neun vermutlich.« Alices Ton war scharf. »Ich gehe.«

»Irrtum!« Pam folgte ihr zur Haustür. »Ich habe einhundertfünfzigtausend Dollar für dieses Haus bezahlt, vor siebzehn Jahren. Damals kam mir das ziemlich teuer vor, und ich sagte, vergiss es, aber mein Mann hat mir dann alles vorgerechnet, und ich begriff, dass er Recht hatte.«

»Kein Vorrechnen auf der Welt könnte mich je davon überzeugen, dass ich mir ein Haus wie dieses leisten könnte, Pam.«

»Noch ein Irrtum! Kommen Sie, ich muss Ihnen etwas zeigen.«

Alice legte ihre Hand auf den Türknauf, drehte ihn jedoch nicht. Diese ganze Immobilienbranche war ihr zuwider. Vielleicht sollten sie doch lieber aus Brooklyn wegziehen.

»Schenken Sie mir fünf Minuten Ihrer Zeit!«, rief Pam so pathetisch, dass Alice unwillkürlich lachen musste.

»Na gut«, erwiderte sie. »Fünf Minuten.«

Pam dirigierte sie zum Esstisch und nahm Häuserblock und Rechner zur Hand. Zwanzig Minuten später war Alice überzeugt, dass sie und Mike sich ein Haus für eins Komma zwei Millionen Dollar leisten konnten, vorausgesetzt, es hatte zwei Mietwohnungen und lag in einer Gegend, in der man relativ hohe Mietpreise verlangen konnte. Sie war völlig verblüfft.

»Ihre eins Komma zwei Millionen heute waren damals meine hundertfünfzigtausend«, erklärte Pam. »Und noch eine gute Neuigkeit. Ich habe heute Nachmittag ein wenig recherchiert. Obwohl die Wohnung Ihrer Freundin mietpreisgebunden war, war sie bei der Wohnungsbehörde nicht registriert, also liegt der Ball beim Vermieter, wenn irgendjemand mit ihm spielen will.« Pam warf die Hände hoch, sodass Alice ihre angeschwollenen Finger sah, in die die Ringe einschnitten. »Aber als ich gesehen habe, wer es ist, wusste ich, dass ich auf gar keinen Fall mit ihm spielen will. Julius Pollack ist der Schlimmste von dem ganzen Vermietergesocks, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Aber eigentlich hat es mich nicht überrascht.«