KAPITEL 27

Judy Gerstens lieber Freund und Julius Pollacks Partner war auch der Metzger des Viertels. Sie sah die blaue Markise über dem Laden in der Court Street vor sich, auf der in weißer Schrift stand Cattaneo & Sohn. Der Sohn schien allerdings eine Erfindung zu sein. Und jetzt gab es mindestens drei Sal Cattaneos. Der, den sie kannte, war immer so nett und freundlich, aber was war mit den anderen beiden?

Sie griff zum Handy, in der Hoffnung, Frannies Anruf noch entgegennehmen zu können, bevor sie ihre Nachricht zu Ende gesprochen hatte. Aber es war schon zu spät.

Gerade wollte sie die Nummer wählen, um Frannie zurückzurufen, als auf einmal jemand heftig gegen ihre Wohnungstür donnerte.

»Sie! Sie verdammtes Luder, machen Sie die Tür auf, oder ich trete sie ein!«, brüllte Julius Pollack.

»Hören Sie auf, Julius!«, schrie Alice.

Sie stellte sich mit dem Handy neben die Gartentür, damit sie nach draußen entkommen konnte, wenn er die Tür wirklich einschlagen würde. Wie es dann weitergehen sollte, wusste sie allerdings nicht. Seine Faustschläge dröhnten durch das ganze Haus.

»Hören Sie auf! Ich rufe die Polizei!«

Kaum hatte sie die Drohung ausgesprochen, als der Lärm verstummte. Plötzlich war es, als sei Julius gar nicht mehr da.

Sie wählte Frannies Nummer, und während sie wartete, dass sie an den Apparat ging, schien sich die Küche mit Stille zu füllen. Sie traute sich kaum zu atmen und lauschte angestrengt auf Pollacks Schritte, die sich nun die Treppe hinauf bewegten.

»Alice?«, meldete sich Frannie. Alice erklärte ihr rasch, was passiert war.

»Wo sind Sie jetzt?«, fragte Frannie.

»In der Küche.«

»Ist er noch draußen?«

»Er ist gerade nach oben gegangen.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Machen Sie die Tür nicht auf und gehen Sie auch nicht ans Telefon. Wir sind in zwei Minuten bei Ihnen.«

Die Zeit dehnte sich endlos, als Alice wartend in der Küche stand. Offensichtlich dachte Julius, sie habe etwas mit dem Artikel in der Zeitung zu tun. Hatte er sie mit Pam Short in Verbindung gebracht? Wusste er, dass Pam auf Alices Bitte hin Erkundigungen eingezogen hatte? Arbeitete Andre Capa auch für ihn? Hatte Capa ihm alles berichtet, bevor man ihn verhaftet hatte?

Alice dachte an den alten Mann, der nach dem Autounfall zu ihr gesagt hatte: Atmen Sie tief durch, Lady, eins, zwei, drei. Das tat sie jetzt. Zwar schlug ihr das Herz immer noch bis zum Hals, aber sie merkte doch, wie sie sich langsam beruhigte.

Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer von Mikes Handy. Nach dreimaligem Klingeln sprang die Mailbox an. Offensichtlich sägte er gerade, oder aber er hörte das Handy nicht, weil er die Musik so laut gestellt hatte. »Mike«, flüsterte sie auf seine Mailbox. »Julius hat versucht, in die Wohnung zu kommen. Komm nach Hause. Bitte!«

In diesem Moment hörte sie Pollacks Schritte erneut auf der Treppe. Sie umklammerte das Handy so fest, dass ihre Finger taub wurden. Wo blieben Frannie und Giometti nur? Als er an ihrer Wohnungstür angelangt war, wählte sie panisch die Notrufnummer. Aber Julius ging vorbei, und sie hörte, wie er die Haustür öffnete.

Leise schlich sie ins Wohnzimmer. Dort konnte sie hören, dass er mit jemandem redete. Die Stimme kannte sie. Es war Frannie. Aus dem Handy drang eine blecherne, ferne Stimme: »Hallo?

Hallo? Was ist passiert?« Alice drückte auf den AUS-Knopf.

Julius widersprach Frannie anscheinend, aber dann mischte sich Giometti ein, und was immer er sagte, schien Pollack zur Räson zu bringen. Alice hielt den Atem an. Sie verhandelten über irgendetwas. Sie hörte, wie Frannie sagte »einstweilige Verfügung«.

»Gut«, hörte Alice Julius sagen. »Wie viel?«

Die nächsten Worte konnte sie nicht verstehen, dann jedoch erhob Pollack die Stimme und stieß hervor: »Wenn Sie das tun, werden Sie es bereuen.« Mit festen, wütenden Schritten marschierte er wieder die Treppe hinauf.

Alice wartete angespannt. Als die Polizisten an ihre Wohnungstür klopften, riss sie sie erleichtert auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte Giometti.

»Ja, ich hatte nur Angst.«

Frannie schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf, sodass ihr die Haare nicht in die Stirn fielen. »Wir möchten, dass Sie eine einstweilige Verfügung erwirken.«

»Aber er wohnt hier.«

»Ja, das stimmt.« Giomettis Stimme war sanft. »Aber Sie nicht mehr.«

Er hatte Recht – sie konnte mit den Kindern hier nicht länger wohnen bleiben.

»Aber er wird mich überall finden«, wandte Alice ein. »Er ist wütend wegen des Zeitungsartikels von heute. Er glaubt, ich hätte etwas damit zu tun. Würde eine einstweilige Verfügung nicht nur alles schlimmer machen?«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Giometti.

»Also«, warf Frannie ein, »es geht vor allem darum, dass es sofort aktenkundig wird, wenn er irgendetwas gegen Sie oder sonst jemanden unternimmt. Es bedeutet nicht, dass er aufhört, aber wir können es damit lückenlos dokumentieren, was eines Tages vor Gericht sehr nützlich sein könnte.«

»Das heißt, wenn er jemandem etwas angetan hat«, sagte Alice. »Mir zum Beispiel.«

Frannie blickte ihr fest in die Augen. »Genau«, erwiderte sie.

»Kommen Sie, wir gehen«, sagte Giometti, die Hand bereits auf dem Türknauf.

»Warten Sie«, erwiderte Alice. »Ich muss noch rasch ein paar Sachen mitnehmen.«

Sie lief nach unten und packte eine Reisetasche für sich und die Familie. Nach fünfzehn Jahren wohnten sie hier nicht mehr. Einfach so.

Giometti saß am Steuer und Frannie auf dem Beifahrersitz. Sie hatte sich zu Alice umgedreht, die ihr alles über den Besuch bei Judy Gersten und das Foto mit Sal Cattaneo erzählte. Frannie und Giometti hatten den Artikel in der Times bereits gesehen, aber offensichtlich hatte der Inhalt sie nicht überrascht. Sie hielten auf dem Parkplatz des Polizeireviers, die beiden Ermittler stiegen aus, und Frannie öffnete Alice die Wagentür.

Frannie und Giometti führten sie in ein Zimmer hinter der Empfangstheke und blieben bei ihr, während sie bei einem Beamten Anzeige erstattete und die einstweilige Verfügung beantragte. Es dauerte nur ungefähr zehn Minuten, und dann musste Alice unten auf dem Protokoll unterschreiben.

Anschließend fuhren die Detectives mit ihr zum Gericht, wo sie ihre Limousine auf der Adams Street in zweiter Reihe parkten, mit einer Selbstverständlichkeit, die Alice seltsam faszinierend fand. Es war eine Geste der Macht, des Schutzes. Sie eilten mit Alice durch eine Drehtür und einen langen Korridor entlang. Die Richterin, die für Alice zuständig war, war eine Frau um die sechzig, die ungeduldig wirkte.

»Machen Sie es nicht so kompliziert«, flüsterte Frannie Alice zu, als sie aufgerufen wurde.

So einfach wie möglich schilderte sie ihren Fall. »Mein Vermieter heißt Julius Pollack. Er hat begonnen, mir zu drohen. Ich habe Angst um meine Kinder.«

Die Richterin stellte einige Fragen über ihre Beziehung zu Julius, dann trat Giometti vor und beantwortete verfahrenstechnische Fragen. Alice verstand so gut wie gar nichts. Schließlich nickte die Richterin, unterschrieb ein Gesuch auf Personenschutz, knallte ihren Stempel darauf, und sie waren fertig.

Alice war es schwindlig, so schnell war alles gegangen. Benommen saß sie hinten im Polizeiwagen, als endlich Mike anrief.

»Ich bin zu Hause«, sagte er. »Was zum Teufel ist eigentlich los?«

Alice erklärte ihm alles. »Ich habe schon für dich gepackt. Wenn du sonst noch etwas mitnehmen willst, dann tu es jetzt. Ruf Simon an, ja? Frag ihn, ob wir bei ihm wohnen können.«

»Das ist doch unrealistisch, Alice.« Sie hörte ihm an, wie beunruhigt er war. »Lass uns einfach abhauen, okay? Wir nehmen das nächste Flugzeug und fliegen irgendwohin.«

Es war ein reizvoller Gedanke, und einen Augenblick lang lockte sie das Bild von blauem Meer und weißem Strand. Ja, es wäre schön, für eine oder zwei Wochen hier rauszukommen.

»Sie fahren mich jetzt wieder zum Revier zurück«, sagte sie.

»Ruf bitte Simon an. Und holst du die Kinder von der Schule ab? Ich bin nicht sicher, ob ich es rechtzeitig schaffe.«

Auf dem Revier führten Frannie und Giometti Alice sofort die Treppe hinauf in das Büro der Ermittler. »Wir wollen aufrichtig mit Ihnen sein, Alice.« Ein Schatten des Unbehagens glitt über ihr Gesicht.

»Gut«, erwiderte Alice. »Ich muss jetzt auch wirklich wissen, was los ist.«

Giometti steckte die Hände in die Taschen und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Frannie warf ihm einen Blick zu, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Alice.

»Es war nicht Andre Capa, der Ihnen gefolgt ist«, sagte sie.

»Andre Capa ist ein Künstler, der am Gowanus-Kanal wohnt. Er hat mit diesem Fall nichts zu tun.«

Alice war verwirrt. Andre Capa war der Letzte, der Lauren lebend gesehen hatte. Und Erin Brinkley hatte doch erwähnt, dass er auch Christine Craddock am Tag ihres Verschwindens am Kanal gesehen hatte. Außerdem hatte Alice ihn doch auch selbst bei ihrem einsamen Morgenspaziergang bemerkt.

»Wer ist mir denn dann gefolgt?« In Alice stieg Panik auf, als sie daran dachte, dass der Limousinenfahrer vielleicht noch frei herumlief.

»Einer von unseren Leuten«, antwortete Giometti.

»Ein Polizist?« Alice blickte ihn entgeistert an. »Wie bitte? Wieso denn das?«

»Alice.« Frannie beugte sich vor. »Wir haben Sie im Auge gehabt, seit Lauren verschwunden ist. Zuerst Christine Craddock, dann Lauren, dann…«

»Ich?«

»Wir durften kein Risiko eingehen«, erwiderte Frannie.

»Und war ich tatsächlich in Gefahr?«, fragte Alice. »Bin ich es immer noch?«

»Wir kommen der Lösung des Falls immer näher, aber es fehlen noch wichtige Erkenntnisse«, sagte Frannie.

»Warum haben Sie mich in Bezug auf Andre Capa angelogen?« Alice spürte leise Empörung in sich aufsteigen. Schließlich hatte sie versucht, der Polizei immer die Wahrheit zu sagen, und sie hatten ihr frech ins Gesicht gelogen »Warum haben Sie behauptet, er würde mich verfolgen und Sie hätten ihn verhaftet? Warum?«

Giometti schaltete sich ein. »Haben Sie Zeitung gelesen?«

»Ja«

»Alle Artikel über die Fälle?« Alice nickte.

»Einiges von dem, was in den Artikeln stand, war als Information noch nicht freigegeben«, sagte er. »Wir haben mit Erin Brinkley, der Reporterin, gesprochen. Sie behauptete, eine Frau würde sie anonym anrufen und ihr Hinweise geben. Allerdings stimmt nicht alles.«

»Wir mussten einfach wissen, ob Sie die undichte Stelle sind«, erklärte Frannie. »Es tut uns Leid, Alice, aber wir mussten Sie einfach auf die Probe stellen.«

So langsam begriff Alice. »Sie meinen, Sie haben mich absichtlich angelogen, um zu sehen, ob die Geschichte mit Capa, der mich verfolgt hat und deshalb verhaftet wurde, in der Zeitung auftaucht?«

»Genau«, bestätigte Giometti.

»Aber sie ist nicht erwähnt worden. Und wenn Sie bereit sind, können wir jetzt mit Ihnen zusammenarbeiten.«

»Wie?« Alice fröstelte auf einmal, als ob jemand die Klimaanlage auf kalt gestellt hätte. Sie blickte sich um, aber alle anderen Detectives im Raum saßen in Hemdsärmeln da. Am Schreibtisch nebenan ließ sich ein Polizist sogar von einem kleinen Tischventilator direkt das Gesicht anpusten.

»Wir haben einen Plan, Alice«, sagte Frannie. »Wir glauben, dass Sie möglicherweise in Gefahr sind. Wir werden Ihnen helfen, und wir hoffen, dass Sie einverstanden sind.«