KAPITEL 30
Alice ging die Court Street entlang und kam sich vor wie in einem anderen Körper, einem anderen Leben. Dana befand sich zusammen mit Frannie, Giometti und einem Techniker in einem weißen Lieferwagen mit der Aufschrift Van Brunt Bakery, der gegenüber von Sal Cattaneos Laden geparkt hatte. Alice vermisste Mike, der auf dem Revier geblieben war und dort auf sie wartete.
Schwitzend lief sie weiter. Nichts an dieser vertrauten Straße war real, sie kam sich vor wie in einem Film und hatte das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Sie winkte der alten Mrs. Foglia zu, die auf der anderen Straßenseite mit ihren Einkaufstüten entlanghumpelte, grüßte im Vorbeigehen eine Bekannte aus dem Park. Sie ging zum Metzger, um herauszufinden, ob der geheime Partner ihres Vermieters ihre Babys oder ihr Blut wollte.
Alice lief weiter.
Sie hatte schon so einiges überstanden: einen Vater, der sie verlassen hatte, und den Job als Cutterin in der Filmbranche. Im Augenblick war sie dabei, das Dasein als Mutter zu überstehen. Bisher war es ihr gelungen, jede Hürde zu nehmen, und das musste sie auch weiterhin schaffen. Sie musste ihre Angst beiseite schieben.
Es konnte ihr nichts geschehen; sie wurde beschützt.
Die Verkabelung klebte an ihrer verschwitzten Haut. Sie lief weiter.
Zwei kleine Jungen, die sie vom Spielplatz kannte, flitzten auf ihren Fahrrädern an ihr vorbei. Das Kindermädchen lief hinter ihnen her und lächelte Alice an.
Sie überquerte die Warren Street, ging am Schlosser, am Antiquitätenladen und am alten Gemüseladen vorbei. Die Tür zur Metzgerei war geschlossen, damit die Klimaanlage funktionierte. Sie öffnete sie und fühlte sich auf einmal ganz schwach. Dann aber holte sie tief Luft und trat entschlossen ein.
Der rundliche junge Mann hinter der Theke lächelte sie an.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ist Sal in der Nähe?«
»Ja, er ist hinten.«
Alice wappnete sich. »Kann ich ihn bitte sprechen?«
Der junge Mann verschwand durch die Schwingtür, die den Verkaufsraum vom hinteren Teil des Ladens trennte. Einen Moment später erschien Sal Cattaneo, der heute mehr denn je wie ein Metzger aussah. Seine weiße Schürze war blutverschmiert, und an seinen durchsichtigen Plastikhandschuhen klebte irgendetwas Gelbliches.
»Was kann ich für Sie tun?« Er lächelte Alice freundlich an.
»Können wir unter vier Augen miteinander sprechen?«, fragte Alice.
Sal zögerte einen Augenblick lang, verlor jedoch sein höfliches Lächeln nicht. »Kommen Sie mit nach hinten.«
Sie folgte ihm durch die Schwingtür in den hinteren Raum, der zugleich Büro und Vorratslager für trockene Waren war. Er wirkte auf raue Art gemütlich und hatte so gar nichts von dem schicken Gourmet-Ambiente des Ladens. Links befand sich eine Metalltür mit einem langen Griff, an dem Sal zog. Er hielt sie für Alice offen, die den Kühlraum nur zögernd betrat.
Rinder und Schweinehälften hingen von der Decke, und auf dem Fußboden lagen große, Plastiksäcke voller Geflügel. Es roch stechend nach Fleisch und Blut. Mitten im Raum standen zwei Metzgertische aus Stahl. Auf dem einen lag ein halb zerlegtes Schwein. Daneben ein blutiges Hackbeil.
»Nach Ihnen«, sagte Sal.
Alice hielt die Luft an und trat ein.
Die Kälte traf sie wie ein Schlag. Sal schlug die Tür hinter ihr zu, und sie drehte sich erschreckt um, weil sie sich plötzlich fragte, ob er sie vielleicht allein hier eingeschlossen hatte und ob man die Tür von innen überhaupt öffnen konnte. Aber da trat Sal schon langsam an den Metzgertisch und ergriff das Hackbeil. Und an der Tür war ein Hebel.
Sal fuhr mit seiner Arbeit fort, und während Alice ihm zusah, dachte sie, dass sie die köstlichen Schweinswürstchen, die sie manchmal hier kaufte, weil sie gegrillt so lecker schmeckten, wahrscheinlich nie wieder in ihrem Leben essen konnte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sal erneut und blickte sie an. Unter seinem Ehering klebte Blut.
Alice sammelte sich. »Ich habe gehofft, Sie könnten Julius Pollack für mich zur Vernunft bringen«, begann sie.
Er lachte leise in sich hinein, sagte aber nichts, sondern konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit.
»Julius ist mein Vermieter.«
Er legte das Messer beiseite, griff mit den Fingern in den Schnitt am Brustbein, den er gerade gemacht hatte, und riss den Brustkorb auseinander.
»Nicht über Metro«, fuhr Alice fort. »Ich wohne in seinem Haus.«
Sal nahm das Schweineherz heraus und warf es in einen Eimer. Dann lachte er.
»Darum beneide ich Sie nicht!«
»Sal, Julius soll wissen, dass wir auf jeden Fall ausziehen werden. Wir haben schon ein Haus gefunden, aber die Formalitäten werden natürlich noch eine Weile dauern. Seine Ungeduld war…« Beinahe hätte sie grausam gesagt, besann sich jedoch im letzten Moment eines Besseren.
»… unnötig.«
»Damit habe ich nichts zu tun.« Sal ergriff ein kleineres Messer und stach dem Schwein die Augen aus. Alice wurde übel.
»Wir wissen, dass Julius uns dort nicht haben möchte und wir ziehen auf jeden Fall aus. Es dauert nur noch ein bisschen. Ich hatte gehofft, dass Sie ihm das vermitteln könnten, damit er mit sich reden lässt.«
»Wer sagt denn, dass Julius nicht mit sich reden lässt?«
Sie hatten also doch darüber gesprochen. Ein Schauer lief Alice über den Rücken.
»Er benimmt sich, als ob…«
»Er ist ein alter Schauspieler«, unterbrach Sal sie. Er zwinkerte ihr zu. Was sollte das denn jetzt bedeuten?
»Unser neues Haus kaufen wir über Garden Hill Realty«, begann Alice einen neuen Versuch. Vielleicht konnte sie ihn ja damit aus der Reserve locken. »Ich war gestern bei Judy Gersten zu Hause.«
Sal hielt inne und warf Alice einen Blick zu. Das höfliche Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen, und seine freundlichen blauen Augen wirkten auf einmal stahlgrau.
Im gleichen Moment wusste Alice, dass Judy nicht Sals Frau war. Sie war auch mehr als nur eine Freundin. Sie war seine Geliebte oder Teil von Metro oder beides.
»Sie war in schlechter Verfassung«, fuhr sie fort.
Trotz der Kälte im Raum brach ihr erneut der Schweiß aus.
»Sie war betrunken, und dabei war es noch ganz früh am Morgen. Die Zeitung lag aufgeschlagen da. Ich glaube, sie hat diesen langen Artikel in der Times gelesen.«
Sal legte das Messer weg.
»Gehen Sie da nicht mehr hin«, sagte er ruhig.
Alice nickte, aber dann fiel ihr ein, dass sie ja etwas sagen musste, damit man sie draußen im Van hörte. »Okay.«
»Ich rede mit Julius, machen Sie sich wegen der Kündigung keine Gedanken. Lassen Sie sich Zeit.«
Er ging zur Tür und entriegelte sie. Alice trat aus der eisigen Kälte in den Vorraum, durchquerte den Laden und war wieder in der Sommerhitze auf der Straße.
Sie ging auf direktem Weg zurück zur Union Street, zum 76. Revier. Der weiße Bäcker-Lieferwagen fuhr langsam an ihr vorbei. Dann bog er rechts ab, und sie sah ihn nicht mehr.