KAPITEL 13

Die Trauerfeier für Lauren fand im Beerdigungsinstitut Scoletto an der Court Street statt. Tim stand rauchend vor dem Brownstone unter einer Magnolie. Austin, in einem dunklen Anzug mit einer gestreiften Clip-Krawatte, spielte in der Nähe mit einem neongrünen Jo-Jo-Ball, der nicht so wollte wie er. Nell rannte auf ihn zu.

Auf dem Weg dorthin hatte sich der Himmel auf einmal bezogen, und jetzt fröstelte Alice. Lizzie zog sie an sich.

»Sie ist so ein liebes Mädchen«, sagte Lizzie und wies mit dem Kinn auf Nell, die Austin erklärte, wie er mit dem Jo-Jo umgehen müsse. Peter sah ihnen beiden zu.

»Für Austin ist es gut, dass wir sie mitgenommen haben«, sagte Mike.

Alice hoffte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Maggie und Simon hatten Ethan auch mitgebracht. Die Erwachsenen fanden es am besten, die Wahrheit vor den Kindern nicht zu verstecken. Wenn sie damit konfrontiert wurden, wie entsetzlich falsch Laurens Tod war, würden sie nicht in dem Glauben aufwachsen, sie sei einfach nur weggegangen. »Lauren ist tot«, hatte Lizzie den Kindern am Morgen erklärt. Alice und Mike hatten sie darum gebeten, weil sie selber es nicht fertig brachten. »Sie ist umgebracht worden, und heute gehen wir alle hin, um ihr auf Wiedersehen zu sagen.«

Bei Lizzie klang es so einfach, aber Alice wusste, was noch kommen würde. Wer hat behauptet, es sei einfach? Du musst tun, was du tun musst. Diese Kinder haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Aber die Kinder weinten nicht, und Alice nahm an, dass sie es gar nicht wirklich verstanden, sondern dass die eigentliche Wirkung sich erst Tage, Monate, ja vielleicht sogar Jahre später einstellen würde. Sie hatten ein paar offensichtliche Fragen gestellt: wer, wo, wann, warum. Aber darauf gab es bis jetzt nur eine einzige Antwort: Sie starb am Freitag, sieben Minuten vor zwölf. Mehr wussten sie nicht.

Mike trat zu Tim und umarmte ihn. Tim wirkte schmal in seinem dunkelgrauen Anzug, und seine Finger waren gelb von zu vielen Zigaretten. Alice blickte zu den Kindern, zu denen sich jetzt auch Ethan gesellt hatte, und sah den Blick, den Austin seinem weinenden Vater zuwarf. Es lag eine solche Wut in den Augen des kleinen Jungen, als sei er gegen seinen Willen zu diesem schrecklichen Ereignis gezwungen worden.

Es war ja auch ein schreckliches Ereignis, dachte Alice. Austin hatte vollkommen Recht mit seiner Wut. Sie ging zu den Kindern hin und sah Austin an. Sie lächelte nicht und hielt dem Blick aus seinen grünen Augen stand. Dann hockte sie sich vor ihn und nahm ihn in die Arme. Es war das Beste und Einzige, was sie tun konnte. Er wehrte sich nicht gegen ihre Umarmung, sondern blieb ganz still.

Als Alice sich wieder erhob, sah sie, dass Tim sie aus geröteten Augen anblickte. Danke, formte er mit den Lippen. Mike legte den Arm um ihn und führte ihn in die Leichenhalle. Die Doppeltüren hatten sich geöffnet, und der Gottesdienst begann.

In diesem Moment kam Maggie angerannt, stürzte sich auf Austin und riss ihn in die Arme. »Hat Tante Mags dich endlich erwischt!«, sagte sie in einem Tonfall, den Alice unangemessen fröhlich fand. Aber dann lachte Austin, und Maggies Verhalten schien im Gegenteil perfekt auf die Situation abgestimmt. Sie trug Austin in das Gebäude hinein, und die anderen folgten ihr.

Durch eine große Eingangshalle gelangten sie in die Kapelle im ersten Stock. Es war ein großer, ganz symmetrischer Raum, der durch einen Mittelgang geteilt wurde. Zwei große Vasen waren mit weißer Kapuzinerkresse gefüllt, aber auch ihr würziger Duft konnte den Geruch nach Mottenkugeln und Formaldehyd nicht überdecken. Die Vasen standen auf Sockeln am Fuß einer flachen Treppe, die zu einer Plattform führte, auf der, von Kränzen verdeckt, Laurens Sarg stand. Das golden schimmernde Eichenholz war hochglanzlackiert, mit großen Messinghandgriffen an jedem Ende. Der Sarg war geschlossen.

Alice sah, wie Maggie zusammensackte, als sie den Sarg erblickte. Mühsam hielt sie sich aufrecht, um Austin abzusetzen, und der Junge drängte sich sofort an seinen Vater, der bereits in der vordersten Reihe Platz genommen hatte. Lizzie, Alice, Mike, Nell und Peter setzten sich neben die beiden, während Maggie, Simon und Ethan hinter ihnen in die zweite Reihe schlüpften. Vereinzelt war ersticktes Schluchzen zu hören.

Bald war die Kapelle voll. Freunde aus der Nachbarschaft waren gekommen, aber die meisten Leute kannte Alice gar nicht. Es kam ihr so vor, als sei jeder da, den Lauren irgendwann in ihrem Leben mal gekannt hatte, von der Kindheit bis hin zu den Jahren mit Tim. Alice hatte Lauren vor allem als Mutter gekannt, und jetzt ging ihr durch den Kopf, was für ein kleines Stück Weg sie miteinander geteilt hatten. Auf einmal fühlte sie sich einsam inmitten all dieser Fremden, die Lauren geliebt oder zumindest so sehr gemocht hatten, dass sie sich von ihr verabschieden wollten. Allerdings vermutete Alice auch, dass einige der Trauergäste Lauren gar nicht gekannt hatten und aus reiner Neugier erschienen waren, weil sie gehört hatten, was geschehen war. Die dort hinten in der Kapelle standen, in Alltagskleidung, mit Kameras um den Hals, waren zum Beispiel ganz offensichtlich Reporter.

Alice erblickte Frannie in der Menge. Sie trug ein schwarzes Kostüm und schwarze, hochhackige Pumps. Die Hände hinter dem Rücken, lehnte sie an der Wand. Als sie sah, dass Alice sie bemerkt hatte, nickte sie ihr traurig lächelnd zu.

Der Gottesdienst dauerte über eine Stunde. Nach dem Rabbi hielt Tim eine Rede. Als Anwalt war er eigentlich daran gewöhnt zu reden, aber nun rang er nach Worten.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass das passiert ist«, sagte er mit dünner, von zu vielen Zigaretten und zu vielen Tränen kratziger Stimme. Alice wäre ihm am liebsten zu Hilfe geeilt. Aber sie blieb bewegungslos sitzen und lauschte seinen Worten.

»Ich habe Lauren während des Studiums kennen gelernt«, begann er. »Wir waren elf Jahre verheiratet…«

Dann jedoch brach er zusammen und weinte nur noch.

Alice spürte, wie sich der Griff ihrer Mutter, die neben ihr saß und ihre Hand hielt, verstärkte. Sie wandte den Kopf und sah, dass sie sie besorgt anblickte, und erst da merkte sie, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte.

Auch während des Trauerempfangs ließ Lizzie sie nicht aus den Augen und kümmerte sich rührend um sie. Austin stand mit den anderen Kindern in einer Ecke, und sie spielten abwechselnd mit dem Jo-Jo-Ball und drehten den anderen Gästen den Rücken zu. Als eine Reporterin sich anschlich, um ein Foto von Austin zu schießen, griff Simon ein und hinderte sie daran. Alice war erleichtert darüber. So würde es zumindest keine Schlagzeile in der Art von Amerikanisches Kind bei der Beerdigung seiner Mutter geben. Keine der tragischen Geschichten, die Alice im Lauf der Jahre in den Zeitungen gelesen hatte, war der Wahrheit auch nur im Entferntesten nahe gekommen. Dies hier war die Wahrheit. Und man konnte sie nicht in Worte fassen.

»Hauen Sie ab«, befahl Simon mit seiner tiefen Stimme.

Die Reporterin, eine dünne junge Frau, verzog sich, und Simon hockte sich zu den Kindern. Er nahm Austin das Jo-Jo aus der Hand und drückte es so, dass ein versteckter Augapfel heraussprang.

»Cool!«, sagte Austin, und alle Kinder kicherten.

»Was machen wir bloß mit Austin?« Maggie war zu Alice und Lizzie getreten.

»Wir kümmern uns um ihn«, erwiderte Alice. »Wir sind jetzt seine Mütter.«

Maggie verlor nicht eine Sekunde Zeit, um das Herz des kleinen Jungen zu erobern. Sie marschierte zu der Gruppe und drängte sich zwischen Simon und Austin. Simon zog lächelnd die Augenbrauen hoch und legte Maggie den Arm um die Taille. Sie schmiegte sich an ihn. Austin errötete. Alle Kinder wussten Bescheid über die bittere Scheidung von Maggie und Simon, da ihnen Ethan immer alles brühwarm berichtet hatte. Einmal hatte Alice mitbekommen, wie Ethan einen Streit seiner Eltern nachgemacht hatte: »Ich habe doch gesagt, ich war in der Apotheke!«

»Wer verbringt denn drei Stunden in der Apotheke?«

»Ein liebender Vater, der Medikamente für seinen Sohn besorgt. Was hast du denn gedacht?«

»Na, dann«, herzhaftes Lachen à la Maggie, »dann muss irgendeines deiner anderen Kinder krank sein. Unseres ist jedenfalls gesund!« Ethan machte während dieses Vortrags beide Elternteile perfekt nach und unterstrich dadurch die Absurdität ihres Verhaltens. In jeder Ehe gibt es einen Streitpunkt, bei dem keiner von beiden gewinnen kann, und so simpel ihr Ansatz war, so hatte er doch enorme Konsequenzen. Sie: Du bist untreu. Er: Bin ich nicht. Deswegen hatten sie sich schließlich getrennt.

Mike kam mit einem Teller voller Häppchen auf Lizzie zu. Sie kniff ihn liebevoll in die Wange und sagte: »Du bist wunderbar, Michael. Scheiß auf die Diät! Ich bin am Verhungern.«

Alice fragte erst gar nicht, um was für eine Diät es ging. Ihre Mutter machte gar keine Diät. Das war eine ihrer Methoden, um mit dem Leben fertig zu werden – sie leugnete bestimmte Unannehmlichkeiten einfach.

Tim ging von Gruppe zu Gruppe und wirkte sehr einsam. Höflich nickte er Lizzie zu. »Sie müssen Alices Mutter sein.«

»Sie brauchen keinen Smalltalk zu machen«, erwiderte Lizzie. Wieder nickte Tim, eine beherrschte, knappe Geste, als ob er so seine Emotionen kontrollieren würde.

»Tim, ich möchte dir helfen«, sagte Alice leise. »Wir können Austin so oft zu uns nehmen, wie es geht. Nach der Schule, wenn du arbeiten bist, an den Abenden, Wochenenden, wann immer du möchtest.«

»Danke«, flüsterte er. »Das ist lieb von euch.«

»Wir sind für dich da.« Mike tätschelte Tims Schulter. »Du brauchst nur etwas zu sagen.«

Tim antwortete nicht, sondern starrte Alice aus seinen bekümmerten Augen an, als wolle er ihr etwas sagen, schaffte es aber nicht. Nicht, weil ihm die Worte fehlten, sondern weil er es nicht über sich brachte, sie zu äußern. Es war ein seltsamer, bedrückender Augenblick, in dem das unerträgliche Gewicht seiner Trauer kurz wie weggeblasen schien. Alice blickte von einem zum anderen, um festzustellen, ob irgendjemand anderes es bemerkt hatte. Sie hätte nicht erklären können, was geschehen war, aber irgendetwas hatte sich in diesem Moment geändert.

Schließlich sagte Tim: »Ich weiß nicht, ob sie es dir erzählt hat, aber es war meine Idee, noch ein Kind zu bekommen. Ich habe mir dieses kleine Mädchen so sehr gewünscht. Und jetzt werde ich sie nie in meinen Armen halten können.« Er wurde noch blasser, und seine Stimme klang brüchig. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Alice schlug das Herz bis zum Hals.

Dieses kleine Mädchen.