KAPITEL 35
Das sind Laurens Initialen«, sagte Alice. »Lauren Barnet.«
»Wo ist dieser Frauenladen?«, fragte Dana. »Ich möchte gern die anderen Kissen sehen.«
»Aber Judy hat gesagt, sie hat dieses Kissen extra im Gedenken an Lauren gemacht«, erwiderte Alice. »Deshalb stehen dort auch Laurens Initialen, meinen Sie nicht, Dana?«
»Vermutungen bringen uns nicht weiter«, sagte Dana und stand auf.
»Der Laden ist auf der Pierrepont Street in Brooklyn Heights«, erklärte Alice. »Ich glaube, zwischen Monroe Place und Henry Street.«
Dana ließ das Kissen auf dem Boden liegen. »Wenn Frannie kommt, sagen Sie ihr, ich bin gleich wieder zurück. Und bleiben Sie hier, Alice, gehen Sie nicht weg. Haben Sie gehört?«
»Ja, verstanden«, erwiderte Alice. Im Geiste sah sie sich, Mike, Nell und Peter an einem breiten, weißen Sandstrand entlanglaufen. Die Luft war warm und weich, und das Meer rauschte.
Der uniformierte Beamte an der Tür stand da wie ein Wachtposten, die Hände auf dem Rücken. Alice streckte sich aus, zog sich die Decke bis ans Kinn und schloss die Augen. Mike würde gleich in Brooklyn sein, die Kinder abholen und zu ihr kommen. Wo mochte Simon wohl sein, und was würde er sagen, wenn er bei seiner Rückkehr entdeckte, dass es in seinem Haus von Polizei wimmelte? Aber vermutlich würde es ihn kaum erschüttern. Jemand, der die Kraft und Größe besaß, Maggie zu lieben, besaß vollkommene innere Ausgeglichenheit.
Kurz darauf knarrte die Haustür, und sie hörte Schritte, die sich näherten. Sie öffnete die Augen, als sie Frannies Stimme hörte. Alice setzte sich auf und schob die Decke weg.
»Frannie«, sagte sie, »wir haben schon auf Sie gewartet.«
»Ja, Dana hat mir Bescheid gesagt.« Frannie trat auf Alice zu.
»Sie kauft Sofakissen, was?«
Alice ergriff das Pfingstrosenkissen und reichte es Frannie.
»Judy Gersten hat es gemacht. Als ich Dana erzählte, dass Sylvie die Kissen fertig macht und sie zum Frauenladen bringt, wurde sie ganz aufgeregt und ist direkt dorthin gerannt.«
»Ich halte sie eigentlich gar nicht für den Einkaufstyp«, versuchte Frannie zu scherzen. Ihre dunklen Augen glänzten, aber sie lächelte nicht. »Tut mir Leid, aber das war ein anstrengender Nachmittag. Dana hat einen guten Instinkt.« Frannie setzte sich neben Alice auf die Couch und rieb sich übers Gesicht. »Ich könnte einen Kaffee vertragen.«
»Ich mache Ihnen welchen.« Alice ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Frannie war ihr gefolgt und setzte sich an den großen, runden Tisch. »Dana hat Ihnen also mitgeteilt, dass wir den Tatort gefunden haben.«
»Ja, aber viel mehr hat sie mir auch nicht gesagt«, erwiderte Alice. »Sie meinte, Sie würden mir schon alles erklären, wenn Sie hier wären.«
»Vieles werden wir selbst erst wissen, wenn wir alle Spuren ausgewertet haben«, sagte Frannie. »Das wird ein paar Tage dauern.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kaffeekanne, in die zischend und blubbernd der Kaffee sprudelte.
»Aber?«, fragte Alice.
Frannie seufzte. »Aber wir haben bereits viel erfahren. Und es war nicht besonders schön, Alice. Sind Sie sicher, dass Sie es überhaupt wissen wollen?«
»Vielleicht will ich es nicht wissen«, erwiderte Alice, »aber ich muss es wissen.«
»Okay, dann setzen Sie sich«, forderte Frannie sie auf. Alice gehorchte und ließ sich auf einen Stuhl gegenüber von Frannie nieder.
In bewusst ruhigem Tonfall begann Frannie: »An der inneren Seitentür waren Blutspritzer, was darauf schließen lässt, dass sie wahrscheinlich direkt, nachdem sie in den Wagen gezogen wurde, erschossen wurde. Der Kaiserschnitt wurde auf dem Boden des Wagens durchgeführt, mit einem gewöhnlichen Küchenmesser, was einen großen Blutverlust zur Folge hatte.« Sie sah Alice eindringlich an.
Alice nickte. »Reden Sie weiter.«
»Wir haben das Messer und auch das Klebeband gefunden, mit dem ihre Wunden zugeklebt wurden. Wenn der Täter so chaotisch war, wie es am Tatort aussah, werden wir überall Fingerabdrücke finden. Das war kein erfahrener Täter, keiner, der viel nachgedacht hat.«
»Aber es ist doch vorher auch schon passiert«, wandte Alice ein. »Was ist denn mit Christine Craddock?«
»Christine haben wir nie gefunden. Abgesehen von dem Überfall auf Pam Short haben wir keinen Beweis dafür, dass der Täter irgendwelche Erfahrung mit Gewalt hat.«
»Ich habe zugesehen, wie Sal Cattaneo ein Schwein geschlachtet hat«, erwiderte Alice heftig. »Er weiß genau, was er tut.«
»Ja, wenn er ein Tier zerlegt«, sagte Frannie. »Der größte Fehler, den ein Ermittler machen kann, ist, sich auf den Täter festzulegen, bevor er alle Beweise ausgewertet hat«, erklärte Frannie. »Wir haben jetzt Beweise, und wir haben endlich einen Tatort. Nur ein Teil von allem deutet auf Metro hin, und deshalb ist zurzeit alles noch offen.«
Sie stand auf, suchte nach einem Kaffeebecher in Simons Schränken und schenkte sich einen Kaffee ein.
»Stellen Sie es sich einfach wie ein Puzzle vor. Sie sammeln alle Teile, was manchmal schwierig sein kann. Sie setzen die einzelnen Teile zusammen. Und dann betrachten Sie es.«
»Bin ich auch ein Puzzleteilchen?« Alice beobachtete Frannie, die ihren Kaffee trank.
»Sieht so aus.« Sie stellte ihren Becher ab. »Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht: Wir wissen nicht, wer den Satz ans Fenster geschrieben hat. Es mag uns ja ganz gut in den Kram passen anzunehmen, dass es Pollack war, aber mit Sicherheit wissen wir es erst, wenn wir ihn gefasst haben und ihn fragen können.«
»Was ist mit Ivy?«
»Die Nabelschnur ist vermutlich durchgeschnitten worden«, sagte Frannie, »wir haben Gewebe gefunden, das darauf hindeutet. Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann können wir davon ausgehen, dass jemand das Baby haben wollte, beziehungsweise, dass das Baby das Tatmotiv war.«
Wer außer Lauren und Tim konnte denn Ivy so sehr haben wollen?, fragte sich Alice. Und ging es um Ivy oder irgendein Baby?
»Was ist mit Pam?«, fragte sie. »Sie wurde doch mit der gleichen Waffe angeschossen.«
Frannie trank einen Schluck Kaffee, dann nickte sie.
»Ja. Das auch.«
In diesem Moment kam einer der Labortechniker, die draußen gearbeitet hatten, an die Küchentür und klopfte leicht an den Rahmen. Frannie drehte sich zu ihm um.
»Hey, Jerry.«
»Wir sind hier fast fertig«, sagte er. »Wir haben einen ganz guten Abdruck. Ist es eilig?«
»Oberste Priorität.«
»Wir bringen ihn gleich ins Labor und bitten sie, ihn ganz oben auf die Liste zu stellen, wenn es geht«, erwiderte er.
»Danke«, sagte Frannie. »Rufen Sie mich an, sobald das Ergebnis da ist.«
Jerry nickte und ging wieder hinaus. Frannie wandte sich an Alice. »Das war alles ein bisschen viel für Sie, oder?«
»Für uns alle, glaube ich.«
»Ja«, erwiderte Frannie, »aber in gewisser Weise ist das erst der Anfang. Sie sollten sich ausruhen, Sie sehen erschöpft aus.«
»Ich warte auf Peter und Nell«, erwiderte Alice. »Mike holt sie ab, und ich kann mich nicht entspannen, ehe ich sie nicht gesehen habe.«
»Dann legen Sie sich zumindest ein bisschen hin«, schlug Frannie vor. »Ich muss ein paar Anrufe machen, mit Dana und mit Paul sprechen.«
Gehorsam legte Alice sich auf die Couch. Sie hatte das Gefühl, als ob in der letzten Stunde die Zwillinge ihr Gewicht vervierfacht hätten. Sie bückte sich gerade mühsam nach der Decke, die zu Boden gefallen war, als jemand zur Haustür hereinkam.
Dana trat ins Wohnzimmer und schüttete zwei große Einkaufstüten auf dem Boden aus. Sie hatte im Frauenladen drei weitere Kissen von Judy Gersten gekauft, winzige Blumenmuster auf pastellfarbenem Hintergrund: rosé, babyblau, taubengrau. Alle drei waren so makellos gestickt wie das Pfingstrosenkissen.
Frannie ergriff eines der Kissen und musterte es eingehend. Sie hielt es dicht vor die Augen und drehte es hin und her. »ZL«, sagte sie schließlich und reichte es Alice. Mit bloßem Auge waren die Initialen, die Ton in Ton gestickt waren, kaum zu erkennen.
Dana reichte Frannie ein weiteres Kissen. »PS.« Auf dem dritten Kissen stand CC in der Ecke.
»Lauren Barnet, Pam Short, Christine Craddock«, sagte Frannie nach einer Pause. »Das kann kein Zufall sein.«
»Wer ist ZL?«, fragte Alice.
»Keine Ahnung«, antwortete Frannie, »das werden wir herausfinden müssen.«
»Judy Gersten steckt hinter dem Ganzen«, sagte Alice, der lebhaft die gerahmte Fotografie vor Augen stand, auf der Judy und Sal Cattaneo in die Kamera lächelten wie ein altes Ehepaar – nur dass er mit einer anderen verheiratet war.
Frannie und Dana warfen einander einen Blick zu. Ja, natürlich. Keine Vermutungen.
»Machen wir sie auf«, sagte Frannie.
Alice holte eine Schere aus der Küche und Dana begann vorsichtig, das Pfingstrosenkissen aufzutrennen. Als sie die ersten Stiche gelöst hatte, riss sie die beiden Stoffhälften auseinander und spähte hinein.
»Können Sie mir bitte ein sauberes Laken bringen?«, bat sie Alice.
Alice ging nach oben zum Wäscheschrank, holte ein Bettlaken heraus und brachte es nach unten. Frannie breitete es auf dem Fußboden aus.
Dana kniete sich hin und leerte das Füllmaterial des Kissens aus.
Massen von langen braunen Haaren fielen heraus.