KAPITEL 37
Ich gehe nach ihnen suchen«, sagte Mike.
»Ich komme mit dir.« Alice wandte sich zum Gehen, aber eine Welle der Übelkeit zwang sie dazu, stehen zu bleiben.
»Alice?« Mike legte den Arm um sie. »Setz dich hin, Schatz.«
»Sie bleibt lieber hier«, erklärte Frannie und führte Alice zur Couch. »Mike, machen Sie sich auf den Weg. Ich versuche, den Beamten zu erreichen, der Sylvie beschattet; er ist nicht ans Telefon gegangen, aber wenn er sich meldet, wird er uns sagen, wo wir suchen müssen. Geben Sie mir Ihre Handynummer.«
Sie tauschten die Nummern aus, und Mike ging. Alice sank auf die Couch. »Ich halte das nicht mehr aus«, weinte sie. »Wir hätten letzte Woche die Stadt verlassen sollen.«
Niemand widersprach ihr. Und es stimmte ja auch – es wäre besser gewesen, wegzufahren. Jetzt war es zu spät.
Es war die längste Stunde in der Geschichte – der Albtraum einer jeden Mutter. Alice hatte nicht ein einziges Mal um die Sicherheit ihrer Kinder gefürchtet. Die ganze Zeit über hatte sie in die falsche Richtung geblickt. Vermutungen angestellt. Blind vertraut.
Sylvie.
Wie konnte das sein? Hatte sie sich denn völlig geirrt? Alice dachte an all die Stunden, in denen sie Sylvie ihre Kinder anvertraut hatte.
Waren nicht auch Julius Pollack, Sal Cattaneo und Judy Gersten in diese Sache verwickelt? Sylvie arbeitete für Judy. Judy stand Sal nahe. Sal war Julius’ geheimer Partner. Alle Opfer hatten etwas mit Metro Properties zu tun. Welches Geheimnis verband sie? Hör auf, sonst sind sie die Nächsten. Nell. Peter.
Und womit sollte sie aufhören? Ärger zu machen? Mit der Polizei zusammenzuarbeiten?
Und warum um Gottes willen hatte die Polizei ihr nicht gesagt, dass ihre Kinder möglicherweise in Gefahr waren? Wenn sie Sylvie beschatten ließen, dann hatte das doch einen Grund. Sie hatten es von vorneherein gewusst. Der Täter war einer von ihnen.
Und sie beobachteten und warteten, bis etwas passierte. Alice saß wie erstarrt neben Maggie auf der Couch, während im Wohnzimmer um sie herum hektische Betriebsamkeit herrschte. Simon kam mit Ethan nach Hause, setzte den Jungen oben im Familienzimmer vor dem Fernseher ab und gesellte sich zu den beiden Frauen. Er saß dicht neben Maggie und hielt ihre Hand, um sie zu trösten, und die Tatsache, dass sie einander Trost spendeten, tröstete auch Alice.
Die Zeit dehnte sich unendlich, aber dann kamen die ersten Neuigkeiten.
»Sie haben Pollack«, sagte Frannie. »Er ist kooperativ. Dana, Sie bleiben hier. Paul kommt ins Revier, und wir treffen uns da. Wir werden das FBI einschalten.«
Dana nickte. Sie stand in der Nachmittagssonne, die durch das große Fenster fiel, und wirkte wie in Gold getaucht, fast irreal.
»Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Frannie wandte sich zum Gehen. »In Kürze haben wir sicher auch Sal Cattaneo und Judy Gersten zum Verhör da. Und die ersten Ergebnisse aus dem Labor werden reinkommen. Es wird eine lange Nacht, aber wenn wir Glück haben, bekommen wir heute Abend die ersten Antworten.«
Wenn sie Glück hatten? Was sollte dieses Wort in diesem Zusammenhang? Alice hätte am liebsten geschrien, aber sie blieb stumm.
Als Frannie gegangen war, sagte Maggie: »Und was nun?« Aber niemand antwortete. Es gab keine Antwort.
Bald kam die Nachricht, dass auch Sal und Judy von der Polizei verhört wurden. Alice schloss die Augen und lehnte den Kopf an Maggies Schulter. Plötzlich wurde es im Zimmer blendend hell.
»Was zum Teufel ist das denn?« Simon sprang auf und trat ans Fenster. »Fernsehreporter«, zischte er und zog die Vorhänge vor.
Im Zimmer war es jetzt dunkel, und Maggie schaltete alle Lampen ein.
»Ich gebe lieber eine Erklärung ab«, sagte Dana, »sonst lassen sie uns die ganze Nacht über nicht in Ruhe.«
Die ganze Nacht über, dachte Alice. Würde es wirklich so lange dauern?
Dana rief Frannie an, um sich die Genehmigung zu holen. »Ja, laufende Ermittlungen, ich verstehe«, sagte sie ins Telefon. Dann trat sie vor die Haustür.
In der Zwischenzeit zermarterte Alice sich den Kopf, wo Sylvie mit ihren Kindern wohl sein mochte. Hatte sie sich mit ihnen in ein Taxi gesetzt und war hierher gefahren, um ihr die Nachricht auf dem Fenster zu hinterlassen? Hatten Nell und Peter vom Rücksitz aus zugesehen? Sie hatten ihr einmal gesagt, Sylvie sei immer so lustig. Hatten sie in völliger Verkennung der Situation ihre einzige Chance vertan, ihr zu entkommen?
Vielleicht war sie ja schon ganz woanders, und Mike suchte vergeblich die gesamte Nachbarschaft ab. Und sie saß hier, untätig und hilflos, während ihr die Panik die Kehle zuschnürte.
Nein, sie durfte so nicht denken. Sie musste sich auf Fakten stützen. Vermutungen brachten sie nicht weiter. In die Stille hinein klingelte Danas Handy. Sie nahm den Anruf an. »Wir haben versucht, Sie zu erreichen!… Was?… Sie waren in der Subway? Wo ist sie?… Sie haben was…?«
Sie legte auf und wandte sich zu Alice und den anderen. »Das war Danny, Ihr Andre Capa«, sagte sie. »Er hat Sylvie vor dem Kennedy-Airport aus den Augen verloren.«
»Sie ist mit Nell und Peter zum Flughafen gefahren?«
Alice stand auf. Eine Welle von Übelkeit überschwemmte sie, aber es war ihr egal. Sie konnte nicht eine Sekunde länger untätig hier sitzen bleiben.