KAPITEL 25
Als Alice am Samstagmorgen die Zeitung und das Internet durchforstete, konnte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es der Polizei gelungen war, die Verhaftung Andre Capas geheim zu halten.
»Es überrascht mich, dass diese Reporterin nichts über Capa herausgefunden hat.« Alice faltete die Zeitung wieder zusammen und wandte sich an Mike, der Peters sirupverschmierten Mund gerade mit einem feuchten Küchentuch abwischte. »Sie hat doch sonst alles herausgefunden.«
»Sie hat das herausgefunden, was wir gelesen haben«, erwiderte Mike. »Manches wissen wir vielleicht gar nicht.«
»Ja, sicher.« Natürlich, dachte Alice, die Polizei hielt Informationen zurück, zum Beispiel so wichtige Fakten wie Ivys Geschlecht und Namen. Vielleicht verfügten sie ja über noch mehr Erkenntnisse. »Aber sie haben uns immerhin gesagt, dass er verhaftet ist«, fuhr sie fort, »dann brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen zu machen.«
»Los, putz deine Zähne und sag Nell, sie soll sich auch die Zähne putzen.« Mike scheuchte Peter zur Treppe. »In fünf Minuten fahren wir.«
»Wir brauchen uns doch keine Sorgen mehr zu machen, Mike, oder?«
»Fragst du mich das oder sagst du es mir?« Sein Lächeln war spitzbübisch, und sie stellte mit Erleichterung fest, dass er tatsächlich weniger angespannt wirkte.
»Ein bisschen von beidem, glaube ich.«
»Wir sollten uns lieber beeilen, wenn wir pünktlich sein wollen«, ermahnte Mike seine Frau, die als Einzige noch nicht angezogen war. Um zehn Uhr waren sie mit Judy Gersten zur Hausbesichtigung am Third Place verabredet.
Alice machte sich fertig, so schnell sie konnte, aber sie merkte wieder deutlich, wie ihr Umfang ihr zu schaffen machte. Selbst die alltäglichsten Verrichtungen fielen ihr immer schwerer.
Ihre Familie wartete vor dem Haus auf sie. Nell und Peter waren eifrig damit beschäftigt, die Treppenstufen mit Kreide zu bemalen.
»Oh, das wird Julius aber gefallen«, sagte Alice. Mike grinste.
»Mehr Farbe, Kinder!«
Sofort begannen sie, die leeren Flächen mit bunter Kreide auszumalen. Alice lächelte und sagte dann: »Wir müssen jetzt wirklich los!«
Mike zog die Augenbrauen hoch: »Ach, entschuldige, dass wir dich aufgehalten haben!«
»Ja, Mom, entschuldige!« Nell hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah sie aus blitzenden Augen an.
»Entschuldige, Mommy«, sagte auch Peter, dem jedoch die Ironie völlig entging. Er streckte die Arme nach seiner Mutter aus.
Judy Gersten stand vor dem vom Rosenbusch überwucherten Zaun und wartete auf sie. Alice schätzte sie auf Mitte fünfzig. Sie hatte einen grauen Pagenkopf und trug einen dunkelblauen Rock, der bis kurz über die Knie reichte, eine weiße Bluse und einen blauen Blazer, der fast, aber nicht ganz, im Farbton zum Rock passte. Sie hielt eine große Stofftasche fest an sich gepresst. Als Alice ihr gegenüberstand, stellte sie verblüfft fest, dass Judy blaue Wimperntusche aufgetragen hatte, sonst aber völlig ungeschminkt war.
»Sie müssen Judy sein.« Alice schüttelte ihr die Hand.
»Das ist mein Mann, Mike, und unsere Kinder…«
Nell und Peter warteten gar nicht erst ab, bis sie vorgestellt wurden, sondern rannten sofort auf die Vordertreppe zu. Peter setzte sich genau vor die Haustür und ließ sein Feuerwehrauto über die Stufe fahren.
»Ich habe heute früh mit Pams Mann gesprochen«, sagte Alice zu Judy. »Er meinte, sie könne außer der Familie noch keinen Besuch empfangen. Waren Sie schon bei ihr?« Schließlich arbeiteten Pam und Judy ja schon viele Jahre zusammen, da gehörte sie vermutlich auch zum Familienkreis, dachte Alice.
»Ja, heute früh.«
»Wie geht es ihr?«
»Unverändert.« Judy kniff die Lippen zusammen und lächelte säuerlich. Mehr wollte sie offensichtlich nicht sagen.
»Ach, übrigens«, setzte Alice an, als sie auf das Haus zugingen,»ist Pam eigentlich vom Bauamt zurückgerufen worden?«
»Haben Sie mich das nicht schon einmal gefragt?«
»Wirklich?«
Wieder das verkniffene Lächeln, das nichts preisgab.
»Bestimmt.« Judy runzelte die Stirn. »Nein, sie hat keine Nachrichten aus dem Bauamt erhalten, nicht dass ich wüsste.« Sie stiegen die Treppe hinauf, und Peter begann, mit seinem Feuerwehrauto über die glänzende Eichentür zu fahren, wobei er mit lauter Stimme eine Sirene nachmachte.
»Hey hey hey, Peter«, protestierte Mike. »Nicht auf der Haustür.«
»Daddy hat gesagt, du sollst aufhören.« Nell versuchte, ihm das Auto zu entreißen, aber er wehrte sich.
Mike trennte die beiden Streithähne. »Noch ein Problem mit dem Feuerwehrauto, Petie«, sagte er, »und ich stecke es den ganzen Tag in die Tasche. Okay?«
Peter, der das Auto fest umklammert hielt, nickte.
Judy läutete an der Tür, wartete einen Augenblick, um sicherzugehen, dass niemand zu Hause war, dann schloss sie auf. Sie wirkte sehr beherrscht, stellte Alice fest, die sie von der Seite beobachtete.
»Im Souterrain befindet sich eine Zweizimmerwohnung, die vermietet werden kann«, sagte sie. »Sie hat einen eigenen Eingang. Wir können später dort hinuntergehen, wenn Sie möchten. Die Mieteinnahmen sind beachtlich.«
Die Kinder liefen voraus, durch das Wohnzimmer und direkt in die Küche. Alice hörte sie aufgeregt schnattern. Offensichtlich fühlten sie sich schon wie zu Hause. Sie und Mike folgten Judy in das Wohnzimmer, das nur durch einen Bogendurchgang von der Küche getrennt war. Breite Dielen vermittelten Bauernhaus-Atmosphäre, zu der der Marmorkamin einen schönen Gegensatz bildete. Ein einfacher, aber wunderschöner Kronleuchter hing von einer Stuckrosette an der Decke herab. Zwei deckenhohe Fenster ließen sanftes Licht in den Raum.
In der Küche hatten sich die Kinder bereits an den Tisch gesetzt, und Alice hatte den Eindruck, sie fühlten sich dort wohl. Es war eine schöne Küche, nicht besonders schick und auch nicht neu. Aber die Geräte waren modern, die Schränke aus hellem Holz und die Arbeitsplatte aus einem rosafarbenen Kunststoff, der in der letzten Zeit wieder in Mode gekommen war. Alles sah aus, als ob es in gutem Zustand sei; entweder hatte jemand diese Küche im alten Stil nachgebaut, oder sie war nicht häufig benutzt worden.
»Nicht renoviert«, stellte Mike sachlich fest. Das war ein ganz neuer Zug an ihm: der vorsichtige Käufer.
»Dieses Haus ist über die Jahre sehr gut instand gehalten worden«, erwiderte Judy. »Rohre und Leitungen sind in exzellentem Zustand. Der Keller ist trocken, es sind neue Fenster eingebaut worden. Die Küche ist zwar nicht neu, aber es ist alles in Ordnung.«
Alice hätte ihr am liebsten begeistert zugestimmt, aber sie hielt sich zurück. Sie war froh, dass die Küche nicht renoviert war, und hoffte, dass es bei den Badezimmern ebenso war. Bei diesem Haus ging es nicht um neue Armaturen, sondern um das tägliche Leben ihrer Familie und ihr Glück. Renovierte Küchen und Badezimmer mochten mondän sein, aber sie trieben den Preis in die Höhe, und wirklich wichtig waren sie nicht.
Rechts vom Tisch führte eine Glastür auf einen Küchenbalkon mit einer Treppe in den Garten. Auf einer kleinen Terrasse am Fuß der Treppe stand ein schmiedeeiserner Tisch mit vier dazu passenden Stühlen.
»Ein gutes Haus für eine Familie«, sagte Judy, obwohl sie das nicht ausdrücklich hätte betonen müssen.
»Können wir uns auch das Obergeschoss anschauen?«, bat Alice.
Nell und Peter standen vom Küchentisch auf und folgten den Erwachsenen nach oben.
Judy ging als Erste die Treppe hinauf, dann kamen die Kinder, gefolgt von Alice und Mike. Alice stupste ihren Mann an, und als er sie anblickte, zog sie die Augenbrauen hoch und nickte. Er zwinkerte, und sie wusste, sie hatten ihr Haus gefunden.
Oben waren drei Schlafzimmer, zwei durchschnittlich groß, das dritte sehr klein, aber mit Fenster. Alles sah ordentlich und sauber aus und war frisch gestrichen. In die Nischen waren Regale eingepasst, wodurch die Zimmer sehr aufgeräumt wirkten.
Im Flur befanden sich eingebaute Wandschränke, einer neben dem Badezimmer und einer neben einem der größeren Schlafzimmer. »Und oben ist noch ein großer Einbauschrank.«
»Es gibt noch ein Stockwerk?«, fragte Mike.
Judy lächelte. »Folgen Sie mir.«
Über eine weitere Treppe stiegen sie ins Dachgeschoss. Dort gab es keinen Flur, aber zwei große Zimmer, die durch einen offenen Durchgang miteinander verbunden waren. Eines der Zimmer wurde als Büro genutzt, das andere offenbar als Nähzimmer. Alice blickte sich um und sah im Geiste ein weiteres Schlafzimmer und ein Spielzimmer vor sich.
»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch den Keller zeigen«, bot Judy an.
Mike nickte. »Ja, bitte«, erwiderte er.
Sie folgten Judy die Treppe hinunter, und Mike ließ sich alles zeigen. Alice blieb mit den Kindern im Untergeschoss zurück, damit sie keinen Schaden anrichten konnten. Aber auch von hier aus konnte sie sehen, dass es ein normaler, steinerner Keller war. An einer Wand standen Vorratsregale, Fahrräder hingen an einer anderen Wand, und in der Ecke befand sich ein großer Heißwasser-Boiler.
»In technischer Hinsicht ist alles vollkommen in Ordnung«, erklärte Judy. »Aber Sie sollten natürlich trotzdem einen Gutachter zurate ziehen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen einige Namen nennen.«
Ja, dachte Alice, sie wollten einen Gutachter bestellen. Und einen Notar, um den Kaufvertrag zu machen. Und einen Spediteur für den Umzug. Sie konnte es kaum erwarten, aus Julius Pollacks Haus auszuziehen. Aber eines musste sie vorher noch wissen.
»Judy«, rief Alice hinunter. »Pam hat mir noch keinen Preis für dieses Haus genannt.«
Judy blickte hinauf und nickte, ohne zu lächeln, was in Alice die schlimmsten Befürchtungen weckte. Sicher würde der Preis für ein solches Schmuckstück astronomisch hoch sein. Wahrscheinlich eins Komma sieben oder eins Komma acht Millionen, eine Summe, die sie nie würden aufbringen können.
Die Enttäuschung schnürte ihr fast die Kehle zu.
Judy griff in ihre Tasche und holte das Exposé heraus.
»Sie wollen wohl neunhundertfünfundneunzigtausend haben.« Sie blickte Alice an. »Aber wir haben bestimmt noch Verhandlungsspielraum.«
»Mike.« Alice winkte ihren Mann zu sich. »Können wir mal kurz miteinander reden?«
Er nickte, und sie scheuchten Nell und Peter in die Küche. Judy blieb im Untergeschoss zurück und wartete auf sie.
»Was meinst du?«, flüsterte Alice. »Ich finde, das ist ein wirklich guter Preis.«
Mike blickte sich in der Küche um. »Mir gefällt es sehr.«
»Dieses Haus ist perfekt.«
»Okay«, sagte er. »Los. Wir nehmen es.«
Alice rief Judy, die sich ein Lächeln kaum verkneifen konnte, als sie die Treppe hinaufkam. Sie war gut in ihrem Job, wenn auch auf eine andere Art als Pam, dachte Alice, Sie war beherrscht und gefasst, wo Pam vor Begeisterung losgeschrien hätte. Pam hätte nicht abgewartet, bis Alice ihre Meinung kundgetan hätte; sie hätte es von vorneherein gewusst und darauf bestanden, dass sie das Haus nähmen. Schätzchen, seien Sie nicht blöd. Nehmen Sie es!
»Wir möchten den verlangten Preis bieten«, sagte Alice.
»Na! Ich freue mich, das dem Verkäufer mitteilen zu können.« Sie verließen das Haus, Judy schloss ab und sie verabschiedeten sich.
»Ich rufe Sie an, sobald ich etwas höre«, sagte Judy und wandte sich zum Gehen.
»Judy, entschuldigen Sie, wissen Sie vielleicht, wer Julius Pollacks Partner ist?« Die Frage war Alice im letzten Moment eingefallen. Bisher war sie nicht auf die Idee gekommen, dass die Maklerin vielleicht etwas darüber wissen könnte. Judy blickte sie ausdruckslos an.
»Julius Pollack«, erklärte Alice, »dem Metro Properties gehört. Sie vermitteln doch bestimmt ein paar seiner Wohnungen.«
»Ja«, erwiderte Judy. »Natürlich. Soweit ich weiß, arbeitet er allein.«
»Sind Sie sicher? Ich bin ein paarmal auf Erwähnungen eines Partners gestoßen, aber niemand scheint zu wissen, wer er ist. Ich dachte, Sie wüssten es vielleicht.«
»Nein, meine Liebe. Tut mir Leid.« Die Ampel sprang auf »Walk« um, aber Judy schien es gar nicht zu bemerken. Sie blickte Alice fragend an. »Warum haben Sie solches Interesse an seinem Partner, oder ob es überhaupt einen gibt?«
Die Frage kam Alice seltsam vor. Warum sollte es sie nicht interessieren, ob hinter ihrem und Laurens Vermieter ein Partner stand? Und Pam war überfallen worden, als sie versucht hatte, etwas darüber zu erfahren.
»Das Haus, in dem Sie wohnen, gehört Julius Pollack allein«, fuhr Judy fort, die auf einmal erstaunlich gut informiert war.
»Nicht Metro. Ich habe den Eindruck, dass Ihre Kündigung eine sehr persönliche Angelegenheit ist und überhaupt nichts mit Metro Properties zu tun hat.«
Sie lächelte Alice an und zeigte dabei überraschend schöne, weiße Zähne.
»Alice!«, rief Mike. Er war schon ein ganzes Stück entfernt, weil die Kinder nicht stehen bleiben wollten.
Judy wandte sich zum Gehen. »Wegen des Angebots sage ich Ihnen Bescheid. Es ist ein wunderschönes Haus, finden Sie nicht?« Dann überquerte sie die Straße, ohne Alices Antwort abzuwarten.
Am Eingang zum Carroll Park holte Alice ihre Familie ein.
Nell und Peter liefen zwei getrennte Wege zur Parkmitte, aber kaum war er losgelaufen, kam Peter auch schon wieder weinend zu seinen Eltern zurück.
»Wo ist mein Feuerwehrauto?« Er drückte sein Gesicht an Alices Bauch.
Alice streichelte ihm über die Haare. »Hast du es jetzt gerade verloren? Hier im Park?«
»Nein!« Er weinte lauter.
Nell kam ebenfalls zurückspaziert, mit dem überlegenen Gesichtsausdruck, der bedeutete, dass sie etwas wusste, was ihnen entgangen war.
»Er hat es im Haus vergessen«, sagte sie. »Als wir nach oben gegangen sind.«
»Wusstest du, dass er es da gelassen hat?«, fragte Mike verärgert.
»Ich habe gesehen, wie er es hingelegt hat, aber ich habe nicht geglaubt, dass er es da lässt.«
»Okay, Süßer«, sagte Alice. »Ich rufe Judy an und bitte sie, uns das Auto wiederzubeschaffen. Wenn wir wissen, wo es ist, ist es nicht wirklich verloren. Du bekommst es wieder zurück, das verspreche ich dir.«
Beruhigt rannte Peter zum Spielplatz und kletterte die Leiter zur Rutsche hinauf. Alice zog die Visitenkarte hervor, die Judy ihr gegeben hatte, weil sie hoffte, darauf eine Handynummer zu finden, unter der sie die Frau erreichen konnte, aber es war nur eine Büronummer angegeben. Insgeheim erleichtert darüber, dass sie nicht schon wieder mit der etwas merkwürdigen Frau sprechen musste, hinterließ Alice eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter im Büro.
Judy erwiderte ihren Anruf erst am darauf folgenden Abend. Alice fand, dass ihre Stimme sehr undeutlich klang, als sie ihr eine Nachricht hinterließ.
»Herzlichen Glückwunsch, sie haben Ihr Angebot akzeptiert! Außerdem habe ich das Feuerwehrauto Ihres Sohnes gefunden. Es steckt jetzt in meiner Tasche. Ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause, weil ich auf den Reparaturdienst für meine Spülmaschine warten muss, als ob ich zwischen acht und fünf nichts Besseres zu tun hätte! Zwischen acht und fünf! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte!«
Alice war sich nicht ganz sicher, aber bevor Judy den Anruf mit ihrer Privatadresse beendete, schien ihre Stimme zu brechen. Weinte sie etwa?