KAPITEL 9
In den darauf folgenden Stunden wurde der Kanal fieberhaft nach dem Säugling abgesucht. Eine Analyse des Zahnstatus bestätigte, dass es sich bei der Leiche um Lauren handelte. Die Presse schloss die Möglichkeit nicht aus, dass Laurens Baby – es – unter Wasser spontan zur Welt gekommen sein konnte.
Es. Ivy war kein Neutrum.
Im Frühjahr hatte Alice zwei winzige Kleidchen gekauft, eins davon mit einem passenden Mützchen. Es waren Ivys Kleider, und sie würde sie für sie aufheben, bis man sie gefunden hatte. Laurens Tod war jetzt bestätigt, aber Ivy konnte trotzdem noch am Leben sein.
Der Kanal war ein abgeschlossenes Wassersystem mit einem Gitter an der Mündung zum Meer. Ein ausgetragenes Baby passte dort nicht hindurch. Und wenn Ivy da war, würden sie sie finden.
Alice lernte viele Dinge an diesem grauenhaften Montag, drei Tage nach Laurens Verschwinden. An dem Tag, an dem ihre zerschundene Leiche gefunden wurde. Sie lernte, wie unermesslich tief Trauer sein kann. Sie lernte, wie man in einem halb bewussten Zustand, in dem man kaum atmet, am Leben bleiben kann. Und sie lernte, dass Verlust, gewalttätiger Verlust, gnadenlos war.
Simon hatte die Neuigkeit ebenfalls erfahren und war sofort zum Kanal geeilt, um Maggie und Alice zu sich nach Hause zu holen. Von dort aus rief er Mike in seiner Werkstatt an. Der Laden wurde geschlossen, und die Kinder wurden unter Sylvies Aufsicht in Maggies Wohnung gebracht, während die Erwachsenen sich bei Simon darauf vorbereiteten, zu Tim und Austin zu gehen, der von seiner Kindergärtnerin persönlich nach Hause gebracht worden war.
Schweigend machte sich die kleine Gruppe auf den Weg zu Laurens und Tims Wohnung. Alice fühlte sich völlig benommen. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen zu jenem Morgen, an dem sie noch fest entschlossen gewesen war, auf keinen Fall das Schlimmste anzunehmen. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könne zu Mike sagen: Du hattest Recht. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Als sie bei Tim ankamen, hatte Alice keine Ahnung, wie spät es war. Sie hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren. Aber es war heller Tag, und die Luft war sommerlich warm. Tim empfing sie an der Tür, blass und mit mechanischen Bewegungen. Er sagte nichts, als sie eintraten, atmete nur aus, als habe er die ganze Zeit über die Luft angehalten, und ließ sich von jedem Freund umarmen.
Gina – Austins und Peters Kindergärtnerin – saß auf Laurens Lieblingssessel, dem roten, in dem sie immer gelesen hatte. Austin lag auf dem Boden und spielte mit Bauklötzen, während sie ihn sanft ermunterte, immer höher zu bauen. Ihr langer Pferdeschwanz hing ihr über die Schulter, und der Anblick stimmte Alice unerklärlicherweise traurig. Gina ging so zärtlich mit Austin um. Austin, der mit seinen dicken, sandfarbenen Haaren Lauren viel ähnlicher sah als Tim. Alice wäre am liebsten gleich zu ihm gelaufen, aber sie wusste nicht, wie viel er begriffen hatte, und sie wollte ihn nicht ängstigen. Stattdessen lächelte sie ihm zu.
»Nein!«, schrie er und warf seinen Turm um. Offensichtlich hatte er etwas in ihrem Gesicht, in allen Gesichtern, gesehen. Er war zwar erst fünf, aber er musste ja spüren, wie die Atmosphäre um ihn herum aus dem Gleichgewicht geraten war. Er sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer.
Tim blickte ihm gequält nach. »Ich muss es ihm sagen.« Seine Stimme klang gebrochen.
»Ich gehe ihm nach«, erbot sich Alice.
»Ja, genau«, sagte Maggie. »Wir reden mit ihm.«
»Nein, das muss ich schon selber machen.« Tim atmete tief ein, als bekäme er nicht genug Luft in die Lunge.
Er folgte seinem Sohn, und dann schloss sich eine Tür hinter ihm.
Gina stand seufzend auf. »Es tut mir so Leid«, sagte sie.
Simon dankte ihr dafür, dass sie Austin nach Hause gebracht hatte, und begleitete sie zur Tür. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, fiel Alice auf einmal ein, dass die Männer für diesen Abend Tickets für ein Yankee-Spiel hatten. Sie sah die drei leeren Plätze förmlich vor sich und verfolgte im Geist, wie der weiße Ball sich lautlos in den blauen Himmel schraubte.
Alle Fenster in der Wohnung waren geschlossen, und niemand machte sich die Mühe, eines zu öffnen. Alice setzte sich neben Maggie auf die Couch, die Lauren erst kürzlich mit eierschalenfarbener Rohseide neu hatte beziehen lassen.
Mike stellte sich hinter den roten Sessel und strich mit der Hand unablässig über den Stoff. Simon trat an eines der Fenster und positionierte sich dort so, als sei es ein Ausguck.
Alle hatten das Gefühl, als ob auch Lauren mit ihnen im Zimmer sei, sie war überall, in jedem Möbelstück, jedem Detail.
»Was sollen wir tun?«, sagte Mike und warf einen Blick zum Flur, in dem Tim und Austin verschwunden waren.
»Am besten lassen wir sie eine Zeit lang allein«, meinte Simon.
Als es an der Tür läutete, schossen Mike und Simon gleichzeitig dorthin, um zu öffnen. Kurz darauf standen Frannie und Giometti in Laurens Wohnzimmer. Sie strahlten Selbstvertrauen und Mitgefühl aus, die perfekte, unzählige Male bei Verbrechen und Krisen erprobte Mischung. Alice sah die beiden Ermittler auf einmal in neuem Licht und fühlte sich durch deren Verhalten sicher und beschützt wie ein Kind.
»Wir müssen mit Ihnen reden«, erklärte Giometti in einem Tonfall, der traurig und entschlossen zugleich klang. »Wo ist Tim? Er sollte das auch hören.«
»Ich gehe ihn holen«, erwiderte Simon. Er lief in den Flur und kam kurz darauf mit Tim zurück, der Austin auf dem Arm trug. Tim setzte sich in den roten Sessel und strich dem schluchzenden Kind über den zuckenden Rücken. Simon stellte sich hinter die beiden und fuhr mit den Fingern leicht durch Austins Haare. Giometti und Mike holten noch zusätzliche Stühle vom Esstisch.
Frannie setzte sich neben Alice auf die Couch. Ein leichter Rosmarinduft umgab sie.
»Es tut uns Leid«, sagte Frannie leise zu Tim. »Wir wissen, wie furchtbar das alles für Sie ist. Für Sie alle. Wir hatten gehofft, sie zu finden…«
Lebend, dachte Alice und begann zu weinen. Sie spürte immer noch Laurens Wärme auf der Bank neben sich. Hörte, wie präzise sie ihre Sätze formulierte. Allen traten die Tränen in die Augen, während Frannie sprach, auch den Männern.
»Sie waren Laurens Familie«, fuhr Frannie fort. »Wir respektieren die Liebe, die Sie für sie empfunden haben.«
Giometti warf vorsichtig ein: »Wir möchten Ihnen mitteilen, was wir herausgefunden haben. Wir haben festgestellt, dass es der Familie helfen kann, wenn sie die Fakten kennt.«
Er wartete einen Augenblick und fuhr dann fort: »Die Autopsie ist abgeschlossen, und ich werde Ihnen jetzt sagen, was der Pathologe herausgefunden hat. Sind Sie bereit?« Er blickte Tim an.
Tim nickte und streichelte unablässig über Austins Rücken.
»Den Jungen sollte man vielleicht in ein anderes Zimmer bringen«, schlug Giometti vor.
»Ich mache das.« Maggie sprang auf. Ihre Augen waren geschwollen, und Alice wusste, dass sie im Moment nicht mehr ertragen konnte. Sie nahm Austin auf den Arm, und als sie mit ihm zur Tür hinausging, hörten sie sie flüstern: »Schscht, mein Kleiner, schscht.«
Draußen glitt ein Schatten über die Sonne. Im Zimmer wurde es kurz dunkel, und Frannie legte Alice den Arm um die Schultern.
»Es ist wichtig für die Ermittlungen, dass Sie alle Details erfahren. So können Sie uns sagen, ob Ihnen dabei noch etwas einfällt. Wir werden Laurens Mörder finden und Sie alle können uns dabei helfen.« Giometti achtete sorgfältig darauf, dass sein Bedauern darüber, sie mit den Fakten konfrontieren zu müssen, zu spüren war. »Es gibt Dinge, die einem die Leiche mitteilt, letzte Botschaften sozusagen. Sind Sie bereit?«
Niemand antwortete. Wie sollten sie jemals für so etwas bereit sein?
»Lauren wurde mit einer .22er-Kugel in den Schädel geschossen, die hier eindrang.« Er drehte sich um und drückte seinen Finger hinten unten an seinen Kopf. »Die Kugel blieb vorn im Schädel stecken, was darauf schließen lässt, dass Lauren sofort tot war. Sie hat keinen Schmerz empfunden, nur…« Er brach ab.
Der Augenblick der Angst.
»Nach ihrem Tod hat der Täter ihr das Kleid ausgezogen.« Tim zuckte zusammen und sprudelte hervor: »Oh, nein.«
»Es gibt keinen Hinweis auf sexuelle Handlungen.«
Einen Moment lang schwieg Giometti, dann fuhr er fort. Frannie nahm Alice fester in den Arm.
»Ein primitiver Kaiserschnitt wurde durchgeführt. Die Plazenta blieb im Körper. Es wurde der Versuch gemacht, den Schnitt mit Klebeband zu schließen. Nach dem Vorgang wurde ihr das Kleid wieder angezogen, was wir mit Bestimmtheit aus dem Zustand des Kleides schließen können. Zu irgendeinem Zeitpunkt, wahrscheinlich jedoch unmittelbar danach, wurde sie zum Kanal überführt.«
Alices Aufmerksamkeit richtete sich auf das Wort überführt. Es hatte eine technische Qualität, frei von jeder Emotion, und war bei weitem nicht gewalttätig genug, um das zu beschreiben, was Lauren widerfahren war. Weggeworfen. Versenkt.
»Das Glas von Laurens Armbanduhr war zerschmettert, was vermutlich nach dem Schuss passiert ist. Damit wissen wir zweierlei: dass sie hart aufgeprallt ist und um welche Uhrzeit es geschehen ist. Ihre Uhr ist exakt um elf Uhr dreiundfünfzig stehen geblieben. Das ist die offizielle Todeszeit.«
Acht Minuten nachdem der Künstler ihr zugelächelt hatte. Sieben Minuten bevor sie im Pilates-Kurs hätte ankommen müssen. All das ging Alice durch den Kopf, und ein Schatten legte sich über ihre Seele.
»Den Tatort können wir noch nicht mit Bestimmtheit festlegen«, sagte Giometti. »Irgendwo müsste sehr viel Blut sein, aber die Stelle haben wir noch nicht gefunden, und wenn sie draußen liegt, arbeitet die Zeit gegen uns. Die Zeit und das Wetter. Wenn wir Glück haben, befindet sich der Tatort drinnen.«
Glück. Alice krampfte sich der Magen zusammen, und sie schluckte.
»Der Gerichtsmediziner kann mit Bestimmtheit sagen, dass es sich um Mord handelt. Das Baby gilt nun offiziell als vermisst. Weil in dieser Gegend schon einmal eine schwangere Frau verschwunden ist, wird in Erwägung gezogen, das FBI einzuschalten, zumal die Möglichkeit besteht, dass der Säugling über die Landesgrenze gebracht worden ist. Im Grunde handelt es sich hier um drei miteinander zusammenhängende Fälle. Die schwangere Frau, die vor zwei Jahren am Kanal verschwunden ist. Der Mord an Lauren. Das verschwundene Baby. Der Kanal ist bereits den ganzen Tag durchsucht worden, und die Suche wird so lange fortgesetzt, bis jeder Quadratzentimeter durchforstet wurde. Bis jetzt allerdings wurde nichts gefunden.«
Frannie nahm den Arm von Alices Schulter. Sie blickte Tim eindringlich an und sagte: »Jemand hat große Mühen auf sich genommen, um Ihrer Frau das Baby wegzunehmen. Es besteht eine gute Chance, dass es noch am Leben ist.«
Es. Plötzlich verstand Alice, wie nützlich die Verallgemeinerung war. Die Medien, die mit der Polizei zusammenarbeiteten, hielten das Geschlecht des Kindes absichtlich zurück, um Laurens Mörder in Sicherheit zu wiegen.