KAPITEL 11
Alice stieg auf der Beifahrerseite in Mikes schwarzen Pick-up. Auf der offenen Ladefläche lagen dicke Eichenbretter.
»Was ist passiert?«, fragte Mike. Von seinem Handgelenk bis zu seinem Ellbogen zog sich ein Streifen aus schwarzer Schmiere. »Geht es dir gut?«
Alice nickte und schnallte sich an. Aber eigentlich wusste sie gar nicht, ob alles in Ordnung war, sie traute sich nur nichts zu sagen. Sie hatten schon einmal ein Kind verloren, und als zweifache Mutter hätte sie wissen müssen, dass sie besser kein Risiko eingegangen wäre.
»Dr. Matteo wartet auf mich«, erwiderte sie.
»Was ist denn passiert?«
Sie wartete, bis Mike losfuhr, und während der Fahrt erklärte sie ihm alles. Mike hörte stirnrunzelnd zu, schwieg aber. Als sie fertig war, legte er ihr sanft kurz die Hand aufs Knie.
»Ich hätte doch deine Mutter vom Flughafen abholen können«, sagte er. Aber im Grunde wussten sie beide Bescheid. Alice hatte unbedingt dorthin fahren wollen, und sie hätte es besser nicht getan. So einfach war es.
Dr. Sally Matteos Wartezimmer im Long Island College Hospital in der Amity Street, wo sie einmal in der Woche Sprechstunde hielt, war voll. Alice und Mike setzten sich nebeneinander. Die trockene Wärme seiner Hand, die ihre umschloss, beruhigte sie und machte sie schläfrig.
Um sie herum herrschte lebhafte Betriebsamkeit, aber sie schwiegen. Die Patienten hier waren anders als in der Praxis in der Pierrepont Street, wo Alice sonst immer zu den Untersuchungen ging. Hier gab es mehr dunkelhäutige Patienten, es war ein anderes Brooklyn als das, in dem sie lebte.
Hier hatten die Leute keine große Wahl, sie wohnten nicht in renovierten Brownstones und konnten sich auch keine in Handarbeit gefertigten Türknäufe leisten. Hier waren die Menschen arm, und über ihre Naivität, so viel von der gierigen Welt zu erwarten, würde man hier nur lachen.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, sich selbst zu hassen, obwohl sie eigentlich noch nicht einmal sagen konnte, warum. Es war nur so, dass Lauren weg war, und sie war noch da. Es ergab alles keinen Sinn. Und was war mit Ivy? Lebte sie noch? Kümmerte sich jemand um sie?
Seufzend rieb Alice sich über die Augen.
Mike legte ihr den Arm um die Schultern, zog sie an sich und küsste sie leicht auf die Schläfe.
»Wir sollten deine Mutter anrufen«, sagte er.
»Ja, klar.« Alice wählte Lizzies Handynummer und lauschte der Stimme auf der Mailbox. »Lizzie Taylor. Wahrscheinlich bin ich gerade Diamanten kaufen. Hinterlassen Sie eine Nachricht.« Sie war neunzehn, als sie Alices Vater, Richard Taylor, geheiratet hatte, und sie war ganz wild darauf gewesen, sich von Elizabeth Liptutz in Elizabeth Taylor mit goldenem Ehering zu verwandeln.
»Du nimmst dir lieber ein Taxi vom Flughafen, Mom«, sagte Alice. »Ich kann nicht kommen, aber es ist alles in Ordnung. Nimm ein Taxi, ich warte dann zu Hause auf dich.« Fast sofort tat es ihr Leid, behauptet zu haben, es sei alles in Ordnung. Das würde ihre Mutter misstrauisch machen, da es so offensichtlich gelogen war.
Eine Schwester erschien und führte sie in ein leeres Untersuchungszimmer. Sie bat Alice, sich zu entkleiden, und dann war Dr. Matteo auch schon da. Mike saß in einem Stuhl neben der Untersuchungsliege, auf der Alice sich ausgestreckt hatte. Die Ärztin beugte sich vor und musterte Alice aufmerksam.
»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, erklärte Alice zögernd.
»Ich untersuche Sie rasch«, erwiderte die Ärztin.
Dr. Matteo war eine elegante, gut aussehende Frau, die Alice erzählt hatte, in ihren Adern fließe puertoricanisches, griechisches, irisches, französisches und spanisches Blut »und ein paar Tropfen Indianerblut«. Sie war eine waschechte New Yorkerin, und an dem Abend, als Peter auf die Welt gekommen war, war Dr. Matteo in einem schwarzen Cape mit rotem Satinfutter in den Kreißsaal geeilt. Sie war gerade in der Oper gewesen, als sie wegen des Notfalls angepiepst worden war.
»Ich habe gehört, dass Sie hier sind«, hatte sie zu Alice und Mike gesagt, hatte sich rasch umgezogen und dann die Entbindung übernommen.
Jetzt blickte Alice die Ärztin an und dachte, dass sie sie bisher nur selten ohne ein Lächeln gesehen hatte.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Dr. Matteo. »Sie hatten einen Unfall?«
»Es war meine Schuld«, erwiderte Alice automatisch. Die Ärztin blickte sie besorgt an. »Sind die Kinder in der Schule?« Damit meinte sie natürlich, ob Nell und Peter mit ihr im Auto gewesen waren.
»Ja«, antwortete Alice. »Aber ich bin nicht besonders schnell gefahren, und bis auf Blechschaden ist auch gar nichts passiert.«
»Rutschen Sie bitte mal ein Stück zurück.«
Alice hielt die Luft an, als die Ärztin sie vorsichtig untersuchte. Sie horchte Alices Bauch mit dem Stethoskop ab und bat dann die Krankenschwester, das Ultraschallgerät hereinzubringen.
»Haben Sie ihre Herztöne gehört?«, fragte Alice.
»Schscht«, erwiderte Dr. Matteo.
Alice schloss die Augen. Sie hörte, wie Mike mit seinem Stuhl ein wenig vorrutschte, um besser sehen zu können. Die Ärztin verteilte kaltes Gel auf Alices Bauch und verschmierte es mit dem in Plastik gehüllten Ultraschallkopf.
Langsam ließ sie ihn über Alices Bauch wandern, wobei sie aufmerksam und mit ernstem Gesicht auf den Monitor blickte. Alice wollte diese Kinder, sie hatte sie von Anfang an gewollt, nachdem der erste Schock darüber, dass sie Zwillinge erwartete, abgeklungen war. Und auch die Mühen, die vor ihr lagen, schreckten sie nicht ab, weil ihr klar war, dass die Liebe, die ihr mit diesen beiden Kindern geschenkt wurde, wachsen würde. Und jetzt, als sie angstvoll die Bewegungen der Ärztin verfolgte, spürte sie, wie sehr sie diese Babys auch brauchte, wie sehr deren erstes Lächeln, die winzigen Händchen, die sich um ihre Finger schlossen, Hoffnung und Versprechen bedeuteten.
»Ja, den Kindern geht es gut«, sagte Dr. Matteo. »Aber Ihnen nicht.«
Alice lächelte Mike erleichtert zu. Den Kindern geht es gut. Dann sagte sie: »Ich schlafe schlecht. Ich hätte gar nicht Auto fahren sollen.«
»Wie lange haben Sie schon nicht mehr geschlafen?«
»Drei Nächte lang. Und mir ist ständig übel, was auch neu für mich ist.«
»Sie sind ein wenig dehydriert«, sagte Dr. Matteo. »Ihr Fruchtwasser fordert seinen Tribut. Haben Sie bei der Hitze in den letzten Tagen nicht genug getrunken?«
Alice wusste es nicht. Vielleicht war sie ja durstig gewesen, aber möglicherweise hatte ihr Körper stärker auf die Ereignisse reagiert, als ihr bewusst war.
»Wir haben diese Woche eine enge Freundin verloren«, sagte Mike. Er berichtete Dr. Matteo, was vorgefallen war, und sie hörte ernst zu.
»Lauren war meine Schwester.« Alice begann zu weinen.
»Wie eine echte Schwester.«
Dr. Matteo stellte ein Rezept aus und reichte es Alice.
»Nehmen Sie das heute Abend, ehe Sie zu Bett gehen. Wir sehen zu, dass Sie erst einmal Schlaf bekommen, dann kümmern wir uns um die Übelkeit.«
»Schlaftabletten?« Alice blickte auf das Rezept. »Kann ich die denn so ohne weiteres einnehmen?«
»Ja, keine Sorge. Sie sind ganz leicht. Sie und Ihre Babys werden davon nur schläfrig, mehr nicht. Aber für Sie ist es wirklich wichtig, Alice.«
Die Ärztin hatte Recht, dachte Alice. Sie brauchte Schlaf. Aber sie würde trotzdem zunächst nur eine Tablette nehmen.
Die Ärztin wandte sich zum Gehen. »Alice, Sie müssen sich jetzt ausruhen. Mike, heute Abend sind Sie dran Abendessen, Kinder, alles.«
»Aye, aye, Captain!« Mike nahm Alice das Rezept aus der Hand, faltete es zusammen und steckte es in die Brusttasche seines T-Shirts. Unter dem Schmutzstreifen auf seinem Unterarm pochte eine dicke Vene.
»Meine Mutter kommt heute.« Alice setzte sich auf und wischte sich mit Papiertüchern das Gel vom Bauch ab. »Sie freut sich, wenn sie übernehmen kann.«
»Na, das ist doch eine wunderbare Gelegenheit.« Dr. Matteo beugte sich vor und legte Alice die Hand auf den Bauch.
»Vielleicht wollen Sie im Moment nichts davon wissen, Alice, aber ich sage es trotzdem. Es ist schrecklich, um jemanden zu trauern, wenn man schwanger ist. Aber wir sollten versuchen, für Sie einen Weg da heraus zu finden.«
Alice und Mike gingen Arm in Arm zum Parkplatz. Mike war fürsorglich und hielt jede Tür für sie auf, aber sie fanden beide keine Worte. Auch auf der Fahrt nach Hause schwiegen sie, bis Mike einem Schlagloch auswich und Alice erschreckt zusammenzuckte.
Forschend blickte sie ihren Mann an. »Wie fühlst du dich, Mike?«
»Gut.«
»Nein, ich meine, was empfindest du? Wegen Lauren.«
Er reagierte seltsam, wie sie fand. Traurig blickte er sie an und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich mich fühle«, sagte er schließlich. »Irgendwie taub. Es ist alles so furchtbar.«
Er hielt an einer roten Ampel und blickte sie an. Im grellen Mittagslicht sah sein Gesicht aus wie handgeschöpftes Papier. Roh, ohne Farbe. Er hatte sich heute früh nicht rasiert.
»Gehst du gleich wieder arbeiten?«, fragte sie ihn.
»Ich glaube nicht«, erwiderte er und warf einen Blick auf die Ladefläche seines Wagens.
»Hast du die Eichenbretter eben erst abgeholt?«
»Ja, aber das spielt keine Rolle.«
Aber sie wusste, dass der Termin für seine Möbelausstellung näher rückte, und sie wusste auch, wie viel es ihm bedeutete, dort einen guten Eindruck zu hinterlassen.
»Geh ruhig«, sagte sie. »Mit mir ist alles in Ordnung, und außerdem ist Mom bald da.«
»Nein, Alice, ich möchte dich nicht alleine lassen.« Er bog in die President Street ein und fand einen Parkplatz direkt vor ihrem Block.
»Es geht mir gut, wirklich. Ich lege mich hin, bis sie da ist.«
Er zögerte kurz, und sie spürte deutlich, dass sie ihm genau das anbot, was er jetzt brauchte: mit seiner Trauer allein zu sein.
»Bist du sicher?«
»Ich halte es für besser, wenn du wieder zur Arbeit fährst.«
Er holte tief Luft. »Vielleicht bleibe ich ja nur eine Stunde oder so. Ich könnte das Holz in die Werkstatt bringen, damit Diego schon mal mit dem Tisch anfangen kann.«
Sie gab ihm einen Kuss zum Abschied und stieg aus dem Auto. Als sie die Treppe zur Haustür hinaufging, spürte sie seine Blicke im Rücken. Er wartete bestimmt ungeduldig darauf, dass sie endlich im Haus verschwunden war. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Er winkte zurück, und kaum war sie ins Haus getreten, hörte sie, wie er abfuhr.
Sie ging direkt ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Um sie herum war alles still, und sie ließ die Ereignisse des Vormittags noch einmal an sich vorüberziehen, dankbar dafür, dass sie bei dem Unfall solches Glück gehabt hatte. Gedanken an Lauren gingen ihr durch den Kopf, und ihr war klar, dass dieser Schmerz so schnell nicht vorbeigehen würde. Und sie dachte an Ivy, versuchte sich zu überlegen, wie sie der Polizei helfen könnte, den Säugling so schnell wie möglich zu finden. Hatte denn jemals irgendetwas auch nur im Entferntesten auf eine solche Gewalttat hingedeutet? Wer konnte so etwas Grauenhaftes getan haben? War es jemand, der Lauren kannte? Oder war der Täter zufällig auf sie gestoßen? Alice lag auf ihrem Bett und wünschte, sie wäre heute früh gar nicht erst aufgestanden. Die Vorhänge waren aufgezogen, und sie beobachtete, wie das Sonnenlicht im dichten grünen Laub der Bäume spielte. Erst als es um zwei Uhr an der Tür läutete, stand sie auf.
Lizzie stand in der Tür. Sie hatte abgenommen, ihre Haare ganz kurz geschnitten und weißblond gebleicht, um jünger als einundsechzig auszusehen. Sie trug eine neue, rechteckige Hornbrille, und die Lippen waren hellrot geschminkt. Aber sie sah nicht jung aus; sie sah aus, wie sie eben aussah: wunderbar real und beständig unter all ihrem kalifornischen Getue.
»Komm her, meine Süße.«
Alice stürzte sich in die Arme ihrer Mutter, roch das vertraute Parfüm, und die Tränen stiegen ihr in die Augen.
Lizzie zog Alice an sich und murmelte beruhigend: »Ja, ja, ist ja schon gut.«